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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11. März 2020, W215 2127140-1/18E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung des Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M K in S, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein 1997 geborener Staatsangehöriger der Republik Tadschikistan, stellte nach seiner Einreise am 26. Oktober 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 26. April 2016 zur Gänze ab (Spruchpunkte 1. und 2.). Unter einem sprach es (von Amts wegen) aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 und § 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde, erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Tadschikistan zulässig sei. Schließlich setzte es gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt 3.).
3 Die dagegen erhobene Beschwerde zog der Mitbeteiligte, nachdem das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 12. November 2019 eine Verhandlung durchgeführt hatte, mit Schriftsatz seines Vertreters vom 2. März 2020 in Bezug auf die Spruchpunkte 1. und 2. des bekämpften BFA-Bescheides wieder zurück. Hierauf gab das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. März 2020 der Beschwerde gegen Spruchpunkt 3. des angefochtenen BFA-Bescheides Folge und erklärte in dessen Abänderung eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig. Des Weiteren erteilte es dem Mitbeteiligten gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten. Abschließend sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte keine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen hat:
5 Die Amtsrevision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.
6 Zur Zulässigkeit der Amtsrevision macht das BFA im Sinne des Begründungserfordernisses nach § 28 Abs. 3 VwGG (zusammengefasst) geltend, es liege keine „außergewöhnliche Konstellation“ vor, die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 30.7.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058) erforderlich sei, dass trotz des Aufenthalts des Mitbeteiligten von (erst) ca. viereinhalb Jahren das öffentliche Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung „von der Integration der mP überwogen werden würde“. Vielmehr liege ein „typisches Privatleben“ vor, wie es im Rahmen einer Berufstätigkeit entstehe (Hinweis auf VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, Rn. 46). Das BVwG sei im Rahmen der diesbezüglichen Beurteilung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es bei der Interessenabwägung insbesondere dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG („die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) und dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die ihm zukommende Bedeutung beigemessen habe.
7 Der Amtsrevision ist im Ergebnis darin zu folgen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Judikatur bei der Frage, ob die Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK darstellt, auch bei einem Aufenthalt von viereinhalb Jahren in Österreich noch darauf abgestellt hat, ob in Bezug auf die hier erlangte Integration eine „außergewöhnliche Konstellation“ vorliegt (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, Rn. 20).
8 Nun wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht verkannt, dass der unbescholtene Mitbeteiligte - wie das BVwG ins Treffen führte - besondere Anstrengungen gezeigt hat, sich in Österreich sprachlich, beruflich und sozial zu integrieren, und zwar insbesondere in Form der Erlangung von sehr guten Sprachkenntnissen auf dem Niveau B1 mit entsprechender Prüfung im Jänner 2017, der erfolgreichen Absolvierung eines Pflichtschulabschlusskurses und ab August 2017 einer Lehre als Koch mit im August 2020 bevorstehender Abschlussprüfung samt Zusage des Arbeitgebers zur Weiterbeschäftigung als „Chef de Partie“ und von mehreren durch Unterstützungsschreiben bestätigten Bekanntschaften. Allerdings besteht insgesamt trotzdem noch keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass von einer „außergewöhnlichen Konstellation“ gesprochen werden kann und dem Mitbeteiligten allein wegen seiner Integrationsbemühungen - ungeachtet des noch nicht langen Inlandsaufenthalts und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zur Debatte steht - unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (siehe zu einem vergleichbaren, auch einen Lehrling mit viereinhalb Jahren Aufenthaltsdauer betreffenden Fall, VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0189, mwN; siehe zu einem solchen Fall auch VwGH 28.11.2019, Ra 2019/18/0457, 0458).
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0149, unter Rn. 9, in Bezug auf eine ähnlichen Konstellation bereits klargestellt, es möge rechtspolitisch als Manko empfunden werden, dass der Gesetzgeber für derartige Fälle kein humanitäres Aufenthaltsrecht vorgesehen habe. Das könne aber nicht dazu führen, dass die - im Vergleich zum „Aufenthaltstitel in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ nach § 56 AsylG 2005 - strengeren Voraussetzungen für die nach § 9 Abs. 3 BFA-VG vorzunehmende Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die inhaltsgleichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 unterlaufen werden (vgl. dazu, dass von § 56 AsylG 2005 jene Konstellationen erfasst sein sollen, in denen die Schwelle des Art. 8 EMRK, sodass gemäß § 55 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, noch nicht erreicht wird, VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0032, 0033, Rn. 23, mwN). Allerdings wird dieses Ergebnis im vorliegenden Fall dadurch abgemildert, dass der Mitbeteiligte die Voraussetzungen für den Aufenthaltstitel nach § 56 AsylG 2005 in zeitlicher Hinsicht (siehe auch dazu VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0032, 0033, Rn. 23) bereits Ende Oktober 2020 erfüllen wird und hierfür - bei unverändertem Sachverhalt - auch die übrigen Bedingungen voraussichtlich gegeben sein werden.
10 Bei seiner Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK bewegte sich das BVwG jedoch nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.
Wien, am 16. Juli 2020
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210133.L00Im RIS seit
03.09.2020Zuletzt aktualisiert am
03.09.2020