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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AußStrG §120Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des A A in W, vertreten durch Mag. Dr. Hanno Schatzmann, Rechtsanwalt in Wien, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr.in Romana Zeh-Gindl, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2019, Zl. I416 2218121-1/7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein ägyptischer Staatsangehöriger, stellte am 17. Dezember 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst mit politischen und psychischen Problemen begründete.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 28. März 2019 wurde dieser Antrag vollinhaltlich abgewiesen, dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Ägypten festgestellt und eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
3 In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren relevant - unter anderem geltend gemacht, das BFA habe außer Acht gelassen, dass der Revisionswerber an einer schweren geistigen Erkrankung leide und nicht in der Lage sei, sein Vorbringen strukturiert zu erstatten.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Das BVwG stellte unter anderem fest, dass der Revisionswerber an näher bezeichneten psychischen Erkrankungen leide, die in Ägypten behandelbar seien. Das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers erachtete das BVwG als nicht glaubwürdig und führte in der Beweiswürdigung unter anderem aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers widersprüchlich und verwirrend gewesen sei. Er habe sich in ausufernden, wirren und nicht sachverhaltsrelevanten Erzählungen verloren und mehrmals gebeten werden müssen, zur Sache zu kommen. Dies möge teilweise seinen psychischen Problemen geschuldet sein, dennoch sei für das BVwG schlüssig nachvollziehbar, dass das BFA das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers in seiner Gesamtheit als widersprüchlich und unglaubwürdig eingestuft habe. Zudem verwies das BVwG darauf, dass der Revisionswerber vor dem BFA angegeben habe, physisch und psychisch in der Lage zu sein, sich auf die Einvernahme zu konzentrieren.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem geltend macht, dass der Revisionswerber unter „massiven schweren geistigen Erkrankungen“ leide und nicht in der Lage gewesen sei, ein strukturiertes Vorbringen zu erstatten.
7 Über Anregung des Verwaltungsgerichtshofes bestellte das Bezirksgericht Fünfhaus mit Beschluss vom 24. März 2020 einen einstweiligen Erwachsenenvertreter, der unter anderem mit der Vertretung des Revisionswerbers vor Gerichten und Behörden betraut wurde.
8 Mit Schreiben vom 25. Mai 2020 genehmigte der einstweilige Erwachsenenvertreter über Anfrage die bisherige Prozessführung vor dem Verwaltungsgerichtshof.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
11 Die Frage der prozessualen Handlungsfähigkeit (Prozessfähigkeit) einer Partei ist zufolge des § 9 AVG - wenn in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiell-rechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hierfür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens sowie der sich aus ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst.
12 Das Fehlen der Prozessfähigkeit ist nach § 9 AVG als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen. Die Behörde hat somit bei Zweifeln über die Handlungsfähigkeit des Betroffenen die Frage von Amts wegen zu prüfen, ein entsprechendes Ermittlungsverfahren zu führen - idR durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - und entsprechende begründete Feststellungen zu treffen, dies bezogen auf die verfahrensrelevanten Zeiträume. Je nach dem Ergebnis dieser Prüfung hat die Behörde nach § 11 AVG vorzugehen oder das Verfahren mit der betreffenden Person durchzuführen (vgl. etwa VwGH 21.5.2019, Ra 2019/03/0037, mwN).
13 Der Beschluss über die Bestellung eines Sachwalters (nunmehr Erwachsenenvertreters) hat konstitutive Wirkung und führt ab seiner Erlassung - innerhalb des Wirkungskreises des Sachwalters (nunmehr Erwachsenenvertreters) - zur eingeschränkten Geschäfts- und Handlungsfähigkeit des Betroffenen. Selbige Überlegungen gelten auch für einen mit sofortiger Wirkung gemäß § 120 AußStrG bestellten einstweiligen Sachwalter (nunmehr einstweiligen Erwachsenenvertreter). Für die Zeit davor ist vom Verwaltungsgerichtshof erforderlichenfalls selbst zu prüfen, ob der Revisionswerber schon damals nicht mehr prozessfähig gewesen ist (vgl. nur etwa VwGH 30.3.2017, Ra 2016/07/0084, mwN). Über den Zeitraum vor der Sachwalterbestellung (nunmehr Erwachsenenvertreterbestellung) ist aus dem Umstand einer solchen Bestellung zu gewinnen, dass sich begründete Bedenken gegen die in Rede stehenden Fähigkeiten der betreffenden Person ergeben.
14 Für die Frage der Wirksamkeit der Zustellung kommt es darauf an, ob der Zustellungsempfänger handlungsfähig war, und nicht darauf, ob für ihn bereits ein Sachwalter (nunmehr Erwachsenenvertreter) bestellt worden ist (vgl. zum Ganzen auch VwGH 28.4.2016, Ra 2014/20/0139, mwN).
15 Im vorliegenden Fall lagen nicht erst durch die vorläufige Bestellung eines Erwachsenenvertreters für den Revisionswerber, sondern bereits im Verwaltungsverfahren erhebliche Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Prozessfähigkeit des Revisionswerbers vor:
16 Bereits in der Beschwerde rügte der Revisionswerber außerdem, dass sich das BFA nicht mit seiner schweren psychischen Beeinträchtigung auseinandergesetzt habe und er deswegen nicht in der Lage gewesen sei, sein Vorbringen strukturiert zu erstatten.
17 Nach den Feststellungen des BVwG leidet der ASt unter anderem an einer näher bezeichneten psychischen Erkrankung. Zudem verwies bereits das BFA und in weiterer Folge auch das BVwG - insoweit vollkommen nachvollziehbar - darauf, dass die Angaben des Revisionswerbers bei seiner Einvernahme sehr wirr erscheinen würden. Das BVwG anerkannte in diesem Zusammenhang sogar, der Umstand, dass sich der Revisionswerber „in ausufernden, wirren und nicht sachverhaltsrelevanten Erzählungen verlor und mehrmals gebeten werden musste, zur Sache zu kommen“, möge teilweise dem Umstand seiner psychischen Probleme geschuldet sein. Zudem enthält schon der Verwaltungsakt des BFA eine Anfragebeantwortung zu „Sachwalter“ in Ägypten.
18 Der vom BVwG ins Treffen geführte bloße Umstand, dass der Revisionswerber selbst angegeben habe, zur Einvernahme fähig zu sein, kann angesichts seiner festgestellten Erkrankung die erheblichen Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes an der Prozessfähigkeit des Revisionswerbers nicht entkräften.
19 Für den Revisionsfall ergibt sich, dass das BVwG in offensichtlicher Verkennung entsprechender Anhaltspunkte es unterlassen hat, weitere Ermittlungen zur Frage zu tätigen, ob der Revisionswerber während des Beschwerdeverfahrens und allenfalls auch schon seit Beginn des Verwaltungsverfahrens jene persönlichen Fähigkeiten besessen hat, die für die Wirksamkeit von Verfahrensschritten ihm gegenüber erforderlich sind. Behördliche Akte können nämlich nicht gegenüber Personen wirksam werden, denen die Fähigkeit fehlt, die Bedeutung und Tragweite dieser Akte zu erkennen, für die aber - aus welchem Grund immer - ein Erwachsenenvertreter noch nicht bestellt ist (vgl. erneut VwGH 21.5.2019, Ra 2019/03/0037, mwN).
20 Zur Zulässigkeit der vorliegenden Revision ist abschließend darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis jedenfalls dem BFA, dem im Verfahren vor dem BVwG Parteistellung zukommt (§ 18 VwGVG), rechtswirksam zugestellt wurde und damit rechtliche Existenz erlangte, sodass eine Anfechtung durch eine weitere Partei des Asylverfahrens, der das Erkenntnis allenfalls nicht rechtswirksam zugestellt wurde, unter diesem Aspekt zulässig ist (vgl. VwGH 28.4.2016, Ra 2014/20/0139; 5.9.2018, Ro 2018/03/0024, jeweils mwN).
21 Daher war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. Juli 2020
Schlagworte
Handlungsfähigkeit Prozeßfähigkeit SachwalterEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010330.L01Im RIS seit
03.09.2020Zuletzt aktualisiert am
03.09.2020