TE OGH 2020/6/24 10ObS63/20t

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Veröffentlicht am 24.06.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. M*, Tschechische Republik, vertreten durch Mag. Claus Marchl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, wegen Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Februar 2020, GZ 7 Rs 6/20h-13, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Klägerin lebt gemeinsam mit ihrer am 27. 11. 2017 geborenen Tochter in der Tschechischen Republik. Sie beantragte im Jänner 2018 die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto, das ihr für den Zeitraum von 27. 1. 2018 bis 31. 8. 2019 auch zuerkannt und ausgezahlt wurde.

Ebenfalls im Jänner 2018 beantragte die Klägerin die Zuerkennung der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 27. 1. 2018 bis 31. 8. 2019.

Mit Bescheid vom 29. 8. 2019 lehnte die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse die Zuerkennung der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld für den genannten Zeitraum ab. Eine der Voraussetzungen für diesen Anspruch sei gemäß § 2 Abs 1 Z 4 iVm § 9 KBGG der Lebensmittelpunkt des beziehenden Elternteils und des Kindes in Österreich. Diese Anspruchsvoraussetzung sei nicht erfüllt. Die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld sei eine Sozialhilfeleistung für einkommensschwache Eltern. Sie sei keine Familienleistung im Sinn der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004) und daher vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossen.

Das Erstgericht sprach der Klägerin die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 27. 1. 2018 bis 26. 1. 2019 im gesetzlichen Ausmaß zu. Gemäß § 9 Abs 2 KBGG setze dieser Anspruch den Bezug von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für das Kind voraus. Diese Voraussetzung sei erfüllt. Das Vorhandensein eines Mittelpunkts der Lebensinteressen im Bundesgebiet im Sinn des § 2 Abs 1 Z 4 KBGG sei keine Anspruchsvoraussetzung. Die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld sei ebenso wie dieses eine Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004.

Das Berufungsgericht gab der von der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Bei der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld handle es sich weder um eine vom Anwendungsbereich der VO 883/2004 ausgenommene Sozialhilfeleistung noch um eine beitragsunabhängige Sonderleistung gemäß Art 70 VO 883/2004. Vielmehr sei die Leistung eine Annexleistung zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld als Konto und damit eine Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004.

Rechtliche Beurteilung

In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die beklagte Österreichische Gesundheitskasse keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

1.1 Anspruch auf Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld (§ 1 Z 3 KBGG) besteht gemäß § 9 Abs 1 Z 1 KBGG ua für alleinstehende Elternteile im Sinn des § 11 KBGG, die nicht die Zuverdienstgrenze des § 9 Abs 3 KBGG überschreiten. Voraussetzung für den Anspruch auf Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld für ein Kind ist gemäß § 9 Abs 2 Satz 1 KBGG, dass für dieses Kind ein Anspruch auf Auszahlung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes besteht. Die Beihilfe gebührt gemäß § 14 KBGG längstens für 365 Tage ab erstmaliger Antragstellung und nur solange Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld besteht.

1.2 Die Klägerin hatte im hier strittigen Zeitraum Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto, das ihr auch tatsächlich gezahlt wurde. Richtig weist das Erstgericht darauf hin, dass damit die Anspruchsvoraussetzung des § 9 Abs 2 KBGG erfüllt ist, und dass diese Bestimmung – entgegen der von der Beklagten noch im angefochtenen Bescheid vertretenen Rechtsansicht –  keinen Verweis auf § 2 Abs 1 Z 4 KBGG enthält.

2. Die Beklagte stellt nicht in Frage, dass die Klägerin für ihre Tochter einen Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld hat. Sie macht in der außerordentlichen Revision lediglich geltend, dass im hier eröffneten Anwendungsbereich der VO 883/2004 die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld nicht exportiert werden müsse, weil es sich dabei nicht um eine Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z iVm Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004, sondern um eine gemäß Art 3 Abs 5 lit a VO 883/2004 vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommene Sozialhilfeleistung handle. Hilfsweise macht die Beklagte geltend, dass es sich bei der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld um eine nicht zu exportierende besondere beitragsunabhängige Geldleistung gemäß Art 70 VO 883/2004 handle. Daran ändere der Umstand, dass die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld nicht in Anhang X der VO 883/2004 eingetragen sei, nichts.

Dem ist entgegenzuhalten:

3.1 Ob eine Leistung in den Geltungsbereich der VO 883/2004 fällt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht davon ab, ob sie von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird, sondern von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung (EuGH C-249/83, Hoeckx, Rn 11 uva). Eine Leistung kann dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn sie den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich auf eines der in Art 3 Abs 1 VO 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (EuGH C-449/16, Martinez Silva, Rn 20 uva).

3.2 Nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt gemäß Art 3 Abs 5 lit a VO 883/2004 die soziale und medizinische Fürsorge. Fürsorgeleistungen oder Leistungen der Sozialhilfe sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dadurch von Leistungen der sozialen Sicherheit abzugrenzen, dass sie von der Bedürftigkeit des Beziehers abhängen, keinerlei Berufstätigkeits-, Mitgliedschafts- oder Beitragszeiten fordern und eine Beurteilung im Einzelfall nach Ermessen vorsehen (zB EuGH C-433/13, Kommission/Slowakei, zur Gewährung von Beihilfen zum Ausgleich der sozialen Folgen einer schweren Behinderung; 10 ObS 37/18s SSV-NF 32/43 mzwH).

3.3 Das österreichische Kinderbetreuungsgeld ist nach ständiger Rechtsprechung eine Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004 und daher gemäß Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 zu koordinieren (RS0122905; vgl EuGH C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, Rn 50, noch zu Art 4 Abs 1 lit h VO [EWG] Nr 1408/71). Die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld ist eine Annexleistung zu diesem (vgl 10 ObS 117/14z SSV-NF 29/13): Sie ist bei Vorliegen der in § 9 KBGG genannten Voraussetzungen ohne jegliche auf die persönliche Bedürftigkeit abstellende Ermessensausübung im Einzelfall zu gewähren. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass es sich bei der Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld daher ebenso wie bei diesem selbst um eine vom sachlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 erfasste Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004 handelt (ebenso Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg], Art 1 VO 883/2004 Rz 80; vgl auch Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 67 VO 883/2004 Rz 2), steht im Einklang mit der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und ist nicht korrekturbedürftig.

4. Die VO 883/2004 gilt gemäß ihrem Art 3 Abs 3 auch für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gemäß Art 70 VO 883/2004. Schon aus dem Wortlaut des Art 70 Abs 2 lit c VO 883/2004 ergibt sich, dass eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung nach dieser Bestimmung nur dann vorliegt, wenn sie im Anhang X zur VO 883/2004 aufgeführt ist. Dieser Eintrag ist Voraussetzung dafür, dass die speziellen Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen gelten, insbesondere auch die Ausnahme vom Grundsatz der Exportierbarkeit gemäß Art 70 Abs 4 VO 883/2004 (Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 70 VO 883/2004 Rn 14; ebenso bereits zur Vorgängerregelung in Art 4 Abs 2a lit c VO 1408/71: EuGH C-265/05, Perez Naranjo, Rn 29 mwH). Die Beklagte bestreitet nicht, dass die Beihilfe zum pauschalen Kinderbetreuungsgeld nicht in Anhang X zur VO 883/2004 aufgeführt wird, sodass sie schon aus diesem Grund keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts aufzeigt. Aus der für ihren Standpunkt zitierten Entscheidung des EuGH C-140/12, Brey, ergibt sich lediglich, dass die österreichische Ausgleichszulage auch deshalb in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fällt, weil sie – wie bereits in den Anhang IIa zur VO 1408/71 – in deren Anhang X eingetragen ist (Rn 36).

Textnummer

E128854

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:E128854

Im RIS seit

20.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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