TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/5 L529 2218798-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.07.2019
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Entscheidungsdatum

05.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L529 2218798-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Kübra ATASOY-ÖZOGLU, p.A. "Asyl in Not", gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2019, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I. Verfahrenshergang

I.1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste am 26.09.2018 legal in das Bundesgebiet ein. Er stellte am selben Tag bei Organen der LPD XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF als Fluchtgrund an, dass er die Türkei aus politischen Gründen verlassen habe. Er unterstütze "Links-parteien" und werde von der derzeitigen Regierung beschuldigt ein Mitglied der DHKP-C zu sein. Er sei deshalb etwa dreieinhalb Monate im Gefängnis gewesen. Er habe Angst erneut festgenommen, eingesperrt oder umgebracht zu werden.

I.2. Am 13.10.2018 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Er gab dabei im Wesentlichen an, dass er die Türkei aus politischen Gründen verlassen habe. In seinem Wohnbezirk in Istanbul seien hauptsächlich alevitische Kurden wohnhaft, die dort vom Staat unterdrückt würden. 2004 sei er zu Unrecht für dreieinhalb Monate im Gefängnis gewesen und sei dort gefoltert worden. Er sei nach seiner Entlassung immer wieder von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. Es habe ernste Beschuldigungen gegen den BF gegeben, wonach er einer terroristischen Vereinigung angehöre. Auch seine Familie sei bedroht worden. Es habe sogar Morddrohungen gegeben. Er sei nur Anhänger der HDP und IHD und sei bei diversen Veranstaltungen behilflich gewesen. Er sei deshalb immer wieder von der Polizei bedroht worden. Nach seinem Freispruch habe er den Militärdienst abgeleistet. Während seines Militärdienstes sei er immer wieder bedroht worden und eine Woche aus politischen Gründen im Militärgefängnis gewesen. Danach habe er nach dem gescheiterten Militärputschversuch vom 15.07.2016 Istanbul nach XXXX verlassen, nachdem ihn dort Erdogan-Anhänger - die "Hintermänner XXXX " - zu töten versucht hätten. Im Jahr 2014 sei er von Erdogan-Anhängern auf offener Straße attackiert worden und man habe ihm Zähne ausgeschlagen. Nach diesem Vorfall sei er nach XXXX geflüchtet. Im Juni 2018 sei er erneut von der Polizei in Gewahrsam genommen worden, weil er politischer Gegner gewesen sei. Er sei erneut mit dem Tod bedroht, für drei Tage gefoltert und dann freigelassen worden. Erdogan-Anhänger hätten ihn verfolgt, weil sie festgestellt hätten, dass sich der Beschwerdeführer in XXXX niedergelassen habe.

I.3. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

I.4. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde der Bescheid wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts angefochten.

I.5. Der Verwaltungsakt langte am 14.05.2019 bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.

I.6. Mit Schreiben vom 02.07.2019 erfolgte die Vorlage eines ärztlichen Befundberichtes (Prim. Univ. Prof. Dr. XXXX , MBA, Vorstand des Instituts XXXX , Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für XXXX ) vom 06.06.2019. Darin werden Verletzungen des BF beschrieben und diese als Hinweis auf eine schwere körperliche Misshandlung gewertet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, sowie durch Einholung von Auszügen aus dem ZMR, dem GVS, dem zentralen Fremdenregister und dem Strafregister - jeweils den BF betreffend - Beweis erhoben.

II. 1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Zur Person des BF:

Die Identität des BF steht fest. Der BF ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Zaza Kurden an und ist Alevit. Der BF stammt aus Istanbul. In Istanbul lebte er vor seiner Ausreise in einer Wohnung gemeinsam mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder. Er ist ledig und kinderlos. Der BF ist gesund.

Er hat in der Türkei für acht Jahre die Schule besucht. Er hat in der Türkei eine Ausbildung zum Elektriker und Mechatroniker absolviert und seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit als Elektriker bestritten. In der Türkei leben noch seine Mutter und seine Schwester. Sein Vater und sein Bruder leben in Deutschland.

Er reiste am 20.09.2018 legal auf dem Luftweg nach Bosnien. Am 26.09.2018 reiste er, von Bosnien aus, legal auf dem Luftweg in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Er ist seither durchgehend in Österreich aufhältig.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Asylantragstellung Leistungen der staatlichen Grundversorgung. Er geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Dass der BF einen Deutschkurs besuchte, war nicht feststellbar. Er hat bislang keine Deutschprüfung absolviert. Er hat hierorts keine familiären Anknüpfungspunkte und ist kein Mitglied in einem Verein. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Gemäß dem unter I.6. angeführten Befundbericht weist der BF am linken Unterschenkel eine kleine unregelmäßig begrenzte Narbe im mittleren Drittel des linken Unterschenkels auf. Der BF trägt eine Teilprothese im Oberkiefer im Bereich der vorderen Zähne. Die Zähne des BF sind unvollständig bzw. sanierungsbedürftig.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat, (konkret Istanbul), aus den von ihm angegebenen Gründen, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer glaubhaften, asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr für Leib und/oder Leben ausgesetzt wäre.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Das Bundesamt stellte im Bescheid umfassende Länderfeststellungen samt aktuellen integrierten Kurzinformationen dar (Seite 14 bis 42 des angefochtenen Bescheides). Aus der dargestellten allgemeinen Lage ergibt sich kein konkretes, hier entscheidungsrelevantes Szenario, wonach Personen mit dem Persönlichkeitsprofil des BF im Falle einer Rückkehr real bzw. mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer hier maßgeblichen Gefährdung unterliegen würden.

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei schließt sich das erkennende Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen der belangten Behörde an und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen (Auszug aus den Länderfeststellungen des angefochtenen Bescheides):

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C - Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) spricht sich für eine revolutionäre Zerschlagung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung in der Türkei aus. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und den "US-Imperialismus", der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Ihr Ziel, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei, ist laut Parteiprogramm der DHKP-C nicht durch Wahlen zu erreichen, sondern ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der "Revolutionären Volksbefreiungsfront" (DHKC). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 7.2018).

Die DHKP-C hat ihre terroristischen Aktivitäten in der Türkei im Jahr 2017 zwar fortgesetzt, jedoch ging das Ausmaß im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Die seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiterhin verschärfte Sicherheitslage in der Türkei und die damit verbundenen umfangreichen staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die DHKP-C, etwa durch die Festnahme von Mitgliedern (BMIBH 7.2018). So wurden im Jänner 2018 sieben mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C in Istanbul verhaftet (Anadolu 9.1.2018). Zudem wurde Anfang 2017 bekannt, dass Mitglieder der DHKP-C bei einem Luftangriff des türkischen Militärs getötet wurden (BMIBH 7.2018).

Quellen:

* Anadolu (9.1.2018): Turkish police arrest 7 far-left terror suspects, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-police-arrest-7-far-left-terror-suspects/1025925, Zugriff 21.8.2018

* BMIBH - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2018): Verfassungsschutzbericht 2017, https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf, Zugriff 21.8.2018

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (Agir Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017).

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).

Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC 17.4.2018).

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vgl. EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste (FNS 31.12.2017; vgl. OHCHR 3.2018). Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vgl. FNS 31.12.2017).

288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen (SCF 20.6.2018, HDN 7.6.2018). So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere (ZO 21.5.2018).

Per Dekret wurde Staatspräsident Erdogan im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AM 30.8.2017).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (9.11.2016): AKP targets judicial independence in latest post-coup takedown, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/11/turkey-silenced-critical-judges.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (30.8.2017): Erdogan hastens executive presidency with new decree, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decree-redesigns-vital-intstitutions.html, Zugriff 18.9.2018

* Bianet - BIA News Desk (7.8.2017): Constitutional Court Rejects 70,771 Applications Regarding State of Emergency, http://bianet.org/english/law/188906-constitutional-court-rejects-70-771-applications-regarding-state-of-emergency, Zugriff 18.9.2018

* CoE-VC - Council of Europe/ Venice Commission (9.12.2016): Turkey had good reasons to declare the state of emergency but went too far with the emergency measures: Venice Commission, https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?p=&id=2449431&Site=DC&BackColorInternet=F5CA75&BackColorIntranet=F5CA75&BackColorLogged=A9BACE&direct=true, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html, 19.9.2018

* FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://shop.freiheit.org/download/P2@727/126939/TB_2017-24.pdf, Zugriff 19.9.2018

* HB - Handelsblatt (28.8.2017): Sieben Jahre Haft - ohne Urteil, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neues-dekret-von-erdogan-sieben-jahre-haft-ohne-urteil/20247280.html, Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (8.8.2017): Turkish state of emergency commission receives over 38,000 appeals, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-state-of-emergency-commission-receives-over-38000-appeals-.aspx?pageID=238&nID=116469&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (7.6.2018): Over 2,000 suspects given jail terms in Turkey coup trials: Ankara, http://www.hurriyetdailynews.com/over-2-000-suspects-given-jail-terms-in-turkey-coup-trials-ankara-132964, 21.9.2018

* PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f, Zugriff 19.9.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 19.9.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov't investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/, Zugriff 21.9.2018

* Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696, Zugriff 19.9.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 19.9.2018

* ZO - Zeit Online (21.5.2018): Gericht verhängt mehr als 100 lebenslange Haftstrafen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-05/tuerkei-militaerputsch-lebenslange-haft-putschisten, 21.9.2018

Opposition

Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Die links-kurdische Partei HDP steht im Zuge von Anklagen gegen 57 ihrer 59 Abgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten im Juni 2016 (auch Abgeordnete anderer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung betroffen) politisch unter Druck. Zahlreiche HDP-Abgeordnete der vorangegangenen Legislaturperiode befinden sich in Untersuchungshaft, darunter der ehemalige Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Das Parlament hat neun Abgeordneten der HDP nach rechtskräftiger Verurteilung ihr Mandat entzogen. Den HDP-Abgeordneten wird zu großen Teilen Terrorismus-Unterstützung (PKK) vorgeworfen. Damit drohen ihnen im Falle von Verurteilungen lange Haftstrafen sowie ein fünfjähriges Politikverbot und damit der Verlust ihrer Mandate (AA 3.8.2018; vgl. EC 17.4.2018). Neun HDP-Parlamentarier befanden sich Ende 2017 im Gefängnis. 278 Verfahren wurden gegen 41 HDP-Abgeordnete eingeleitet (SCF 1.2018). Selahattin Demirtas wurde Anfang September 2018 wegen seiner Äußerungen während der kurdischen Neujahrsfeiern im März 2013 zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ein Gericht befand ihn der Terrorpropaganda schuldig. Im Hauptverfahren drohen ihm bis zu 142 Jahre Haft. Zusammen mit ihm wurde der frühere HDP-Abgeordnete Sirri Sürreya Önder zu drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (DW 7.9.2018).

Nebst der Verhaftung von hochrangigen Politikern, wurden auch mindestens 5.000 Mitglieder der HDP - darunter 80 Bürgermeister - inhaftiert (TM 1.5.2018). Zwischen November 2014 und November 2017 wurden 93 Bürgermeister und Vizebürgermeister ihrer Ämter enthoben und verhaftet, von denen 22 nach einem Verfahren wieder freigelassen wurden und 71 noch im Gefängnis sind. Elf lokale Verwalter wurden wegen terroristischer Anschuldigungen zu insgesamt 89 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt (EC 17.4.2018). Das harte Vorgehen der letzten Jahre hat die HDP gelähmt, zumal sich die restriktiven Maßnahmen auf lokale HDP-Niederlassungen, kommunale Behörden, die von ihrer Schwester-Partei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), bestellt werden, und Medien sowie NGOs, die mit ihnen sympathisieren, ausgeweitet haben (ICG 13.6.2018). Die Regierung versucht, den Einfluss der HDP bzw. ihrer regionalen Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird zahlreichen DBP-Mitgliedern die Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete sind insgesamt 51 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 3.8.2018). Während des Wahlkampfes 2018 haben die türkischen Behörden einige der Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen. Darüber hinaus hat die Partei physische Angriffe von Unbekannten während einiger ihrer Kampagnen erlitten (ICG 13.6.2018).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018).

Das Europäische Parlament verurteilt im Februar 2018 den Beschluss des türkischen Parlaments aufs Schärfste, die Immunität zahlreicher Abgeordneter auf verfassungswidrige Weise aufzuheben (HDN 9.2.2018).

Der Parlamentsabgeordnete und Vize-Parteichef der sekularen, kemalistischen CHP, Enis Berberoglu, erhielt im Juni 2017 vor einem Gericht in Istanbul wegen angeblicher Spionage eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Er soll der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugearbeitet haben (SO 14.6.2017). Das Berufungsgericht ordnete zwar im Oktober 2017 einen neuen Prozess an, lehnte jedoch die Freilassung Berberoglus ab (DS 10.10.2017). Am 20.9.2018 bestätigte das Kassationsgericht in seinem Urteil die im Februar 2018 auf fünf Jahre und zehn Monate reduzierte Haftstrafe, verfügte jedoch gleichzeitig seine Freilassung bis zum Ende der parlamentarischen Legislaturperiode, denn Berberoglu konnte bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 sein Abgeordnetenmandat wiedererlangen (HDN 20.9.2018). Im Juni 2018 ist Eren Erdem, ein früherer CHP-Abgeordneter, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in Istanbul wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" festgenommen worden. Erdem drohen bis zu 22 Jahre Haft (ZO 29.6.2018, vgl. BBC 29.6.2018). Im Juli hat Staatspräsident Erdogan eine Strafanzeige gegen den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kiliçdaroglu, und 72 weitere CHP-Parlamentarier wegen Beleidigung durch die Verbreitung eines Cartoons auf Twitter eingereicht (HDN 18.7.2018).

Während des polarisierenden Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 bezeichnete der amtierende Staatspräsident Erdogan immer wieder andere Kandidaten und Parteien als Unterstützer des Terrorismus. Während der Kampagne kam es zu einer Reihe von Zwischenfällen, die teilweise gewalttätig waren. Eine beträchtliche Anzahl von Übergriffen auf Partei- und Wahlkampfeinrichtungen betraf vor allem die pro-kurdische HDP, aber auch die CHP, Saadet-Partei und die IYI-Partei, alles Oppositionspartein (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* BBC News (29.6.2018): Turkey arrests former opposition MP on terrorism charges, https://www.bbc.co.uk/news/world-europe-44662319, Zugriff 13.8.2018

* DS - Daily Sabah (10.10.2017): Istanbuler Gericht hebt Urteil gegen CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu auf, https://www.dailysabah.com/deutsch/politik/2017/10/10/istanbuler-gericht-hebt-urteil-gegen-chp-abgeordneten-enis-berberoglu-auf, Zugriff 13.8.2018

* DW - Deutsche Welle (7.9.2018): Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas erneut verurteilt, https://www.dw.com/de/kurdenpolitiker-selahattin-demirtas-erneut-verurteilt/a-45403711, Zugriff 17.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 13.8.2018

* EP - Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2018-0040+0+DOC+PDF+V0//DE, Zugriff 12.2.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (9.2.2018): European Parliament's 'rights in Turkey' resolution null and void: Turkish Foreign Ministry, http://www.hurriyetdailynews.com/european-parliaments-rights-in-turkey-resolution-null-and-void-turkish-foreign-ministry-127039, Zugriff 13.8.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (18.7.2018): Erdogan files complaint against Kiliçdaroglu, 72 CHP deputies, http://www.hurriyetdailynews.com/probe-launched-against-turkeys-main-opposition-chp-chair-for-erdogan-cartoon-134691, Zugriff 13.8.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): CHP conveys complaints over arrested MPs to parliament speaker, http://www.hurriyetdailynews.com/chp-conveys-complaints-over-arrested-mps-to-parliament-speaker-134995, Zugriff 13.8.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (20.9.2018): Turkey's Court of Cassation releases CHP MP Berberoglu while upholding jail sentence, http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-court-of-cassation-rules-to-release-chp-mp-berberoglu-while-upholding-jail-sentence-137064, Zugriff 17.10.2018

* ICG - International Crisis Group (13.6.2018): Turkey's Election Reinvigorates Debate over Kurdish Demands, https://d2071andvip0wj.cloudfront.net/b088-turkey-s-election-reinvigorates-debate%20(1).pdf, Zugriff 13.8.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 13.8.2018

* SCF - Stockholm Centre for Freedom (1.2018): Kurdish political movement under crackdown in Turkey The case of the HDP, https://stockholmcf.org/wp-content/uploads/2018/01/Kurdish-political-movement-under-crackdown-in-Turkey-The-case-of-the-HDP_Jan-28-2018.pdf, Zugriff 13.8.2018

* SO - Spiegel Online (14.6.2017): Türkischer Oppositionspolitiker muss 25 Jahre in Haft, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-chp-oppositionspolitiker-enis-berberoglu-zu-25-jahren-haft-verurteilt-a-1152144.html, Zugriff 13.8.2018

* TM - Turkish Minute (1.5.2018): Prosecutor seeks 5 years for HDP deputies Demirtas, Önder, https://www.turkishminute.com/2018/05/01/prosecutor-seeks-5-years-for-hdp-deputies-demirtas-onder/, Zugriff 13.8.2018

* Zeit Online (29.6.2018): Bekannter Oppositionspolitiker in der Türkei festgenommen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-06/eren-erdem-chp-verhaftung-wahlen-tuerkei, Zugriff 13.8.2018

Aleviten

Die Türkei hat weltweit den größten Anteil an Aleviten. Man geht von 15 bis 25 Millionen Aleviten aus. Vor allem die Provinzen Tunceli, Elazig, Bingöl, Sivas, Erzincan, Malatya, Kaysereri, Adana und Tokat sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Die alevitische Religion weist viele unterschiedliche Einflüsse aus anderen Religionen - auch aus vor-islamischer Zeit - auf. Außerdem ist das Alevitentum in seinen Vorstellungen recht heterogen. Ob Aleviten zum Islam gehören oder nicht, ist sowohl innerhalb der Aleviten als auch außerhalb der Glaubensgemeinschaft ein Streitthema (ÖIF Monographien 2013; vgl. MRG 6.2018). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollten. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen. Dies könnte zu neuen ethno-religiösen Konflikten führen (MRGI 6.2018).

Die offizielle Türkei erkennt das Alevitentum als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis, an (ÖB 10.2017). Ein wichtiger Meilenstein für die alevitische Gemeinschaft war im Dezember 2015 die Ankündigung einer Reihe von erweiterten Rechten für Aleviten, einschließlich der rechtlichen Anerkennung von Cemevis, ihren Gotteshäusern - einem seit langem bestehenden Bereich der Diskriminierung (MRGI 6.2018).

Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Probleme. Immer wieder werden alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz Malatya mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen (MRGI 6.2018).

Die Aleviten bleiben im Land politisch marginalisiert, mit einer begrenzten Vertretung in offiziellen Machtpositionen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 und den anschließenden Aktionen der Regierung gegen ihre vermeintlichen Gegner wurden zahlreiche Journalisten inhaftiert und die Medien geschlossen, darunter die meisten, die über die alevitische Kultur berichteten (MRGI 6.2018). Außerdem wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdogan und der regierenden AK-Partei pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in der Provinz Dersim (türkisch: Tunceli), im alevitischen Kernland spürbar (Telepolis 10.8.2016; vgl. GI 18.1.2018). Auch alevitische Journalisten sind betroffen. TV10, der Fernsehsender "die Stimme der Aleviten", wurde im September 2016 geschlossen, angeblich wegen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation (GI 18.1.2018). Im Jänner 2018 wurden die Leiter des stillgelegten alevitischen Fernsehsenders TV10 wegen "Terrorismus" verhaftet (Ahval 19.1.2018). Ende Dezember 2016 wurde nach einer Entscheidung des türkischen Obersten Radio- und Fernsehrates (RTÜK) die Ausstrahlung des alevitischen Senders "Yol TV" wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten und der Huldigung terroristischer Organisationen eingestellt (TM 29.12.2016). Ende März 2018 ließen türkische Gerichte 16 Mitglieder des alevitischen "Pir Sultan Abdal" Kulturverbandes (PSAKD) verhaften. Die Mitglieder wurden beschuldigt, eine terroristische Organisation zu unterstützen (SCF 24.3.2018).

Die türkische Regierung betrachtet den Alevismus weiterhin als heterodoxe muslimische Sekte. Obwohl die alevitischen Gruppen in der Lage waren, neue Cemevis zu bauen, lehnte die Regierung weiterhin ab, ihren Bau finanziell zu unterstützen. Repräsentanten der Aleviten berichteten, dass die Zahl der 2.500 bis 3.000 Cemevis im Land nicht ausreicht, um die Nachfrage zu befriedigen Die Regierung erklärte hingegen, dass die von der Diyanet finanzierten Moscheen den Aleviten und allen Muslimen unabhängig von ihrer Religionsschule zur Verfügung stünden (USDOS 29.5.2018).

Quellen:

* Ahval (19.1.2018): Turkey detains executives of shut down Alevi TV station on 'terrorism' charges - newspaper, https://ahvalnews.com/press-freedom/turkey-detains-executives-shut-down-alevi-tv-station-terrorism-charges-newspaper, Zugriff 17.7.2018

* EC/DGJC - European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 17.7.2018

* GI - Gatestone Institute (18.1.2018): Persecution of Alevis in Turkey: Threats, Arbitrary Arrests, https://www.gatestoneinstitute.org/11744/turkey-alevis-persecution, Zugriff 17.7.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei

* ÖIF Monographien (2013): Die Aleviten. In: Taucher, W. et al, (Hg.): Glaubensrichtungen im Islam. Wien: ÖIF, S. 75-88.

* MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey - Alevis, http://minorityrights.org/minorities/alevis/, Zugriff 17.7.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (24.3.2018): Turkey arrests 16 members of Alevi association in Turkey, https://stockholmcf.org/turkey-arrests-16-members-of-alawite-association-in-turkey/, Zugriff 17.7.2018

* Telepolis (10.8.2016): Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht, https://www.heise.de/tp/features/Die-Aleviten-in-der-Tuerkei-stehen-unter-Generalverdacht-3291449.html?seite=all, Zugriff 17.7.2018

* TM - Turkish Minute (29.12.2016): Turkey terminates broadcasting of Yol TV, https://www.turkishminute.com/2016/12/29/turkey-terminates-broadcasting-yol-tv/, Zugriff 17.7.2018

* USDOS - US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1436892.html, Zugriff 17.7.2018

Kurden

Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).

Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vgl. EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vgl. EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vgl. AM 12.3.2018, USDOS 20.4.2018).

Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). [siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]

Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDP-Kandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017).

Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).

[für weiterführende Informationen siehe Kapitel 3 "Sicherheitslage"]

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (12.3.2018): Some 40 million Turks ruled by appointed, not elected, mayors, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/turkey-becoming-land-of-trustees.html, Zugriff 11.7.2018

* AM - Al Monitor (12.9.2016): Kurds become new target of Ankara's post-coup purges, https://www.newcoldwar.org/kurds-become-new-target-of-ankaras-post-coup-purges/, Zugriff 10.7.2018

* CB - Covcas Bulletin (22.9.2015): The revival of Turkey's 'lynching' culture, http://www.covcasbulletin.info/?p=1730, Zugriff 11.7.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 11.7.2018

* EFJ - European Federation of Journalists (30.10.2016): Turkish government shuts down 15 Kurdish media outlets, http://europeanjournalists.org/blog/2016/10/30/turkish-government-shuts-down-15-kurdish-media-outlets/, Zugriff 11.7.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (7.2.2017): Main opposition in same boat as terror-supporting HDP: PM Yildirim, http://www.hurriyetdailynews.com/main-opposition-in-same-boat-as-terror-supporting-hdp-pm-yildirim-109443, Zugriff 11.7.2018

* HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html, Zugriff 11.7.2018

* MME - Middle East Eye ( 25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes - but don't write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkey-election-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051, Zugriff 11.7.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 26.6.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 11.7.2018

II. 2. Beweiswürdigung

II.2.1. Zur Person des BF

Die Identität des BF steht aufgrund der Vorlage des türkischen Personalausweises (Nüfus) sowie des damit übereinstimmenden türkischen Führerscheins fest. Angesichts der Ausführungen des BF bezüglich der Umstände der Ausstellung seines türkischen Reisedokumentes und den daraus resultierenden, erheblichen Zweifeln an dessen Authentizität (AS 102 und 103) konnte dieser nicht zur Identitätsfeststellung des BF herangezogen werden.

Die sonstigen Feststellungen zur Person - mit Ausnahme seiner Wohnadresse vor der Ausreise - ergeben sich aus seinen Orts- und Sprachkenntnissen und seinen diesbezüglichen glaubhaften Angaben. Hinsichtlich seines Wohnortes ist festzuhalten, dass der BF, nach diesem befragt, während des gesamten Verfahrens Istanbul angab (AS 31 und 91). Erstmals vor dem BFA und erst über Befragen zum Fluchtgrund gab der BF an, vor der Ausreise in XXXX gelebt zu haben, was jedoch aus untenstehenden Erwägungen, ebenso wie die in diesem Zusammenhang erwähnten Ausreisegründe, nicht glaubhaft war, weshalb zur Feststellung zu gelangen war, dass der BF aus Istanbul stammt.

Die Feststellungen zu den Reisebewegungen des BF ergeben sich aus dessen Angaben und den korrespondierenden Dokumenten im Akt.

Der Beschwerdeführer gab zwar an, einen Deutschkurs besucht zu haben, eine entsprechende Bestätigung brachte er jedoch nicht in Vorlage, weshalb der tatsächliche Besuch nicht feststellbar war. Die Absolvierung einer Deutschprüfung hat er nicht behauptet und auch keine entsprechenden Nachweise erbracht, weshalb zur entsprechenden Feststellung zu gelangen war. Dass der BF keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und kein Mitglied in einem Verein ist, ergab sich aus seinen eigenen Angaben vor dem BFA. Die Feststellungen des Bezugs von Leistungen der staatlichen Grundversorgung ergeben sich zweifelsfrei aus dem eingeholten GVS-Auszug. Die Feststellung seiner strafrechtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.

II.2.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates

Vorweg ist anzuführen, dass die im Verfahren aufgenommenen Niederschriften mit den Aussagen des BF iSd § 15 AVG vollen Beweis über den Verlauf und Gegenstand der Amtshandlung bilden und mit diesem Inhalt als zentrales Beweismittel der Beweiswürdigung unterzogen werden können. Gerade im Asylverfahren kommt der persönlichen Aussage des Antragstellers besondere Bedeutung zu, handelt es sich doch im Wesentlichen behauptetermaßen um persönliche Erlebnisse, über die berichtet wird, die sich vielfach, insbesondere auf Grund der faktischen und rechtlichen Ermittlungsschranken der Asylinstanzen, weitgehend einer Überprüfbarkeit entziehen.

Das BFA hat ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage nachvollziehbar, umfangreich und fundiert zusammengefasst.

Die belangte Behörde legte im Rahmen der Beweiswürdigung im Wesentlichen dar, dass der BF nicht in der Lage war, die Gefahr asylrelevanter Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft zu machen. Insbesondere der Umstand, dass der BF seine Ausreisegründe in der Erstbefragung völlig anders darstellte als in der folgenden Einvernahme vor dem BFA und sein Vorbringen in der Einvernahme erhebliche steigerte, wurde vom BFA zurecht als gewichtiger Gesichtspunkt für die fehlende Glaubhaftigkeit seines Fluchtvorbringens herangezogen:

In der Erstbefragung brachte der BF noch als zentralen Fluchtgrund vor, dass er aus politischen Gründen, und zwar, weil er beschuldigt werde Mitglied der DHKP-C zu sein, flüchten habe müssen. Er sei durch diese Beschuldigung für etwa dreieinhalb Monate eingesperrt gewesen. Er werde diesbezüglich weiterhin verdächtigt und beschuldigt (AS 37). Zwar erwähnte er in der Folge erneut seine dreieinhalbmonatige Haft, räumte jedoch ein, dass sich diese Inhaftierung bereits im Jahr 2004 ereignet habe (AS 93). Zutreffend wies das BFA zudem darauf hin, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der damals gegen ihn erhobenen Vorwürfe, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, rechtskräftig von einem türkischen Strafgericht am 07.01.2005 (AS 120) freigesprochen wurde. Eine asylrelevante Verfolgung anlässlich dieser Inhaftierung - zum fehlenden zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise im Jahr 2018 siehe II.3.1.3. - konnte der BF damit jedenfalls nicht aufzeigen, zumal er von den entsprechenden Vorwürfen von einem türkischen Gericht freigesprochen und ihm sogar eine Entschädigung zugesprochen wurde.

Erstmals in der Einvernahme und damit völlig abweichend von seinen Angaben in der Erstbefragung, gab er jedoch an, dass in seinem Heimatbezirk in Istanbul hauptsächlich alevitische Kurden wohnhaft seien und deshalb dort vom türkischen Staat unterdrückt würden. Er gab an, nach seiner Inhaftierung "immer wieder" von der Polizei in Gewahrsam genommen worden zu sein und beschuldigt worden zu sein, dass er einer terroristischen Vereinigung angehöre (AS 93). Dem hielt schon das BFA zutreffend entgegen, dass der BF bereits 2004 von den diesbezüglichen Vorwürfen freigesprochen wurde.

Zudem änderte er sein Vorbringen noch in der Einvernahme dahingehend ab, dass er von der Polizei bedroht worden sei, weil er bei der HDP und IHD aktiv gewesen sei - wobei sich sein parteipolitisches Engagement eigenen Angaben zufolge auf seine bloße Anhängerschaft und die Mithilfe bei Veranstaltungen beschränkte (AS 93 und 94). Seine alevitisch-kurdische Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit machte er zunächst nicht mehr für die Festnahmen verantwortlich. Er sei als politischer Aktivist in Istanbul polizeibekannt gewesen und ständig kontrolliert worden (AS 95). Über Befragen steigerte er dieses Vorbringen, indem er angab er sei insgesamt gar 16-17 Mal oder noch öfter von der Polizei festgenommen worden (AS 99). Zumal der BF noch nicht einmal Mitglied der HDP bzw. der IHD ist, erschien ein derart großes Interesse an seiner Person seitens der türkischen Staatsorgane jedoch nicht nachvollziehbar und war sein Vorbringen schon deshalb nicht glaubhaft. Diesen Umstand hob auch das BFA in seiner Beweiswürdigung hervor.

Zudem gestaltete sich sein Vorbringen hinsichtlich der Festnahmegründe erneut widersprüchlich, zumal er letztlich doch seine Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit als alevitischer Kurde, die bei Ausweiskontrollen hervorgekommen sei, für die zahlreichen Festnahmen verantwortlich machte (AS 99). Davon hätten die türkischen Polizeikräfte jedoch - nachdem der BF eigenen Angaben zufolge ein polizeibekannter politischer Aktivist gewesen sei - auch ohne Ausweiskontrollen Kenntnis gehabt. In Abweichung der noch kurz zuvor erstatteten Darstellung wonach er aufgrund seines angeblichen politischen Engagements festgenommen worden sei, nannte er nun doch seine Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit als Festnahmegrund. Sein Unvermögen hinsichtlich seiner Festnahmegründe ein einheitliches Vorbringen zu gestalten, schadete der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens. Auffallend war zudem, dass der BF über Befragen ausführte, er sei in den letzten beiden Jahren insgesamt drei Mal festgenommen worden, er in der Folge jedoch nur zwei Festnahmedaten nannte (AS 99). Angesichts dieser

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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