Entscheidungsdatum
30.03.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W104 2189219-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch das Amt der XXXX Landesregierung, Abteilung Kinder- und Jugendhilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom 23.1.2018, Zl. 1112117407-160563919, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 7.1.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 30.3.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der minderjährige Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 20.4.2016 erstmals im Bundegebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 21.4.2016 gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Kunar geboren, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und hänge der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern seien im Herkunftsstaat aufhältig. Zum Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass seine vier Onkel väterlicherseits als Polizisten gearbeitet hätten. Ein Onkel väterlicherseits sei daher auch vor ca. zehn Monaten von den Taliban umgebracht worden. Die Taliban hätten von seinem Vater, der Landwirt sei, verlangt, er solle seine Brüder davon abhalten, weiterhin als Polizisten zu arbeiten. Widrigenfalls würden sie seinen ältesten Sohn, den Beschwerdeführer, umbringen. Die Onkel des Beschwerdeführers hätten ihre Tätigkeit dennoch fortgesetzt und nicht auf den Vater gehört. Aus Angst um das Leben des Beschwerdeführers hätten ihn seine Eltern weggeschickt.
Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Handwurzelröntgen an. Aus dem Röntgenbefund vom 27.5.2016 ist ersichtlich, dass die Epiphysenfugen (Wachstumsfugen) knöchern noch nicht durchbaut sind und sich eine zarte Epiphysenfuge erkennen lasse.
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes XXXX in XXXX vom 4.4.2017 wurde das Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge für den Beschwerdeführer betraut.
In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 6.7.2017 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen zusammengefasst aus, die Probleme mit den Taliban hätten vor ca. drei bis vier Jahren angefangen, als die Taliban erfahren hätten, dass seine vier Onkel bei der Polizei arbeiten. Die Taliban hätten daraufhin einen seiner vier Onkel auf dem Nachhauseweg erschossen. Schließlich hätten die Taliban den Vater des Beschwerdeführers am Feld aufgesucht und ihn bedroht, dass sie den Beschwerdeführer töten würden, sollten seine Brüder (die Onkel des Beschwerdeführers) nicht aufhören, für die Polizei zu arbeiten. Die verbliebenen drei Onkel des Beschwerdeführers hätten ihre Tätigkeit für die Polizei dennoch fortgesetzt. Die Taliban seien daraufhin drei Mal innerhalb eines Monats beim Beschwerdeführer zu Hause gewesen, um den Beschwerdeführer zu töten. Seinem Vater sei es jedoch jedes Mal gelungen, den Beschwerdeführer rechtzeitig zu verstecken. Die Taliban hätten das gesamte Haus durchsucht, den Beschwerdeführer, der sich in einem Lagerraum unter Säcken versteckt habe, jedoch nicht gefunden. Aus Angst um das Leben des Beschwerdeführers habe sein Vater schließlich beschlossen, den Beschwerdeführer wegzuschicken.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.1.2018, zugestellt am 9.2.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers sei weder glaubhaft, noch schlüssig gewesen. Der Beschwerdeführer habe keine Angaben zu den beruflichen Tätigkeiten seiner Onkel machen können. Insbesondere habe er angegeben, nicht zu wissen, ob seine Onkel persönlich bedroht worden seien, seit wann sie als Polizisten arbeiten würden und ob sie auf derselben Dienststelle arbeiten würden. Es sei auch unwahrscheinlich, dass die Onkel des Beschwerdeführers bei den insgesamt vier Besuchen der Taliban nie zu Hause gewesen seien. Weiter sei nicht nachvollziehbar, warum die Taliban nicht die Onkel, sondern lediglich den Beschwerdeführer gesucht hätten. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Versteck hätten sich auf oberflächliche und inhaltsleere Äußerungen beschränkt. Zudem sei die gesamte Familie des Beschwerdeführers nach wie vor im Heimatdorf aufhältig. Auch unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers seien die Angaben des Beschwerdeführers nicht glaubwürdig. Es sei daher davon auszugehen, dass es sich beim Vorbringen des Beschwerdeführers um ein bloßes Konstrukt handle und er nicht die wahren Beweggründe dargelegt habe. Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Kunar) zähle zwar zu den volatilen Provinzen Afghanistans, jedoch hätten sich hunderte Taliban dem Friedensprozess in der Provinz angeschlossen. Die Familie des Beschwerdeführers sei nach wie vor im Heimatdorf aufhältig. Insgesamt sei dem Beschwerdeführer vor dem Hintergrund seiner individuellen Situation eine Rückkehr in seinen Heimatdistrikt XXXX in der Provinz Kunar zumutbar.
Dagegen richtet sich die am 9.3.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger Tatsachenfeststellung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und unrichtiger Beweiswürdigung. Darin wird im Wesentlichen Vorbringen zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan (insbesondere in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers) und zur Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers insbesondere in Hinblick auf seine Minderjährigkeit erstattet sowie ausgeführt, dass aus den Länderberichten ersichtlich sei, dass keine effektive staatliche Ordnungsmacht in Afghanistan existiere und Zivilisten ungehindert Angriffen der Taliban ausgesetzt seien. Im Visier der Taliban stünden unter anderem der Regierung gegenüber loyale Personen, Gegner der Taliban, deren Familienangehörige sowie auch Rückkehrer aus dem Westen. In Afghanistan sei der Beschwerdeführer einer Reihe von Gefahren wie insbesondere Zwangsrekrutierung und Entführung bis hin zur Ermordung durch die Taliban ausgesetzt. Es liege jedenfalls eine bedrohende Situation von asylrelevanter Intensität vor, die insgesamt als Verfolgung im Sinn der GFK anzusehen sei. In Afghanistan drohe dem Beschwerdeführer unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Die belangte Behörde habe insbesondere die konkrete und spezielle Gefährdung Minderjähriger in Afghanistan verkannt. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar. Es sei ihm daher zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangte Behörde auf die Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers übermittelte am 9.4.2018 je ein ÖSD Sprachzertifikat auf Niveau A2 und B1.
Am 26.4.2018 langte ein Empfehlungsschreiben der Klassenvorständin des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit E-Mail vom 27.11.2018 übermittelte die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers dem Bundesverwaltungsgericht einen ambulanten Kurzbefund der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 14.11.2018, wonach der Beschwerdeführer an posttraumatischer Belastungsstörung leidet.
Am 29.11.2018 langte eine Stellungnahme der gesetzlichen Vertretung zu den Länderberichten ein. In einem wurden diverse Gutachten und Länderberichte vorgelegt.
Am 15.3.2019 übermittelte die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers einen ambulanten Kurzbefund der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 13.3.2019 sowie eine Schulnachricht des Beschwerdeführers (Schuljahr 2018/19).
Mit E-Mail vom 28.3.2019 übermittelte die gesetzliche Rechtsvertretung des Beschwerdeführers dem Bundesverwaltungsgericht einen weiteren ambulanten Kurzbefund der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 24.3.2019.
Am 1.8.2019 langte ein psychotherapeutischer Befundbericht der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 23.7.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 7.11.2019 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 30.12.2019 an, brachte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.
Mit Schreiben vom 15.11.2019 verständigte das Bundesverwaltungsgericht die Parteien vom Ergebnis einer Beweisaufnahme und führte das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand 13.11.2019) ins Verfahren ein. In einem gab das erkennende Gericht den Parteien die Möglichkeit, sich dazu vorab schriftlich, spätestens jedoch in der mündlichen Verhandlung zu äußern.
Am 20.11.2019 langte eine Vertagungsbitte der gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Schreiben vom 27.11.2019 verlegte das Bundesverwaltungsgericht die anberaumte mündliche Verhandlung auf den 7.1.2020.
Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 7.1.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine gesetzliche Vertretung und ein Dolmetscher für die Sprache Paschtu teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.
In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen einer Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat wegen Verfolgung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit seiner Onkel für die Polizei aufrecht. Die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers wies im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf den psychologischen Zustand des Beschwerdeführers hin. Der Beschwerdeführer verfüge zudem weder über eine berufliche Ausbildung, noch habe er Kontakt zu seiner Familie. Dem Beschwerdeführer erfülle daher jedenfalls die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten.
Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
* ÖSD-Sprachzertifikat A2 vom 21.2.2018;
* ÖSD-Sprachzertifikat B1 vom 28.3.2018;
* Schulbesuchsbestätigung der Musikmittelschule XXXX betreffend das Schuljahr 2016/17 vom 16.2.2017 und 29.1.2017;
* Schulnachricht des Bundesrealgymnasiums XXXX betreffend das Schuljahr 2017/18 vom 2.2.2018;
* Schulnachricht des Bundesrealgymnasiums XXXX betreffend das Schuljahr 2018/19 vom 1.2.2019;
* Bestätigung der Männerberatung der Caritas XXXX über Teilnahme am Workshop "Mann sein in Österreich" vom 13.4.2017;
* Ärztliche Überweisung an einen HNO, undatiert;
* Formular zur Begründung des Therapie-/Dolmetscheinsatzes im niedergelassenen Ärztebereich vom 19.1.2017;
* Ambulante Kurzbefunde der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 14.11.2018, 13.3.2019 und 24.3.2019;
* Psychotherapeutischer Befundbericht der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 23.7.2019;
* Stellungnahmen der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX vom 24.7.2019, 25.7.2019 und 19.12.2019;
* Psychotherapeutischer Kurzbericht der XXXX , undatiert;
* Diverse Lichtbilder;
* Diverse Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl;
* Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;
* Einsichtnahme in folgende vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachte Berichte:
- Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 13.11.2019;
- European Asylum Support Office (EASO): Country Guidance: Afghanistan, June 2019; https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf
- European Asylum Support Office (EASO): Country of Origin Information Report: Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, December 2017; https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports
- European Asylum Support Office (EASO): Bericht Afghanistan Netzwerke (Übersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), Stand Jänner 2018; https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports
- Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31.5.2018;
- Ecoi.net - European Country of Origin Information Network: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen (Methoden; Netzwerke), 15.2.2013;
- Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staaten-dokumentation), 23.8.2017; https://landinfo.no/asset/3590/1/3590_1.pdf;
* Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Berichte.
2. Feststellungen:
2.1. Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in der afghanischen Provinz Kunar im Distrikt XXXX geboren. Er ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu, er spricht aber auch Dari und Farsi sowie Deutsch auf Niveau B1.
Der Beschwerdeführer wuchs in seinem Heimatdorf in der Provinz Kunar im Distrikt XXXX im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus mit seinen Großeltern, Eltern, zwei Brüdern, zwei Schwestern und seinen vier Onkeln väterlicherseits auf. Der Beschwerdeführer lebte an keinem anderen Ort in Afghanistan. Er besuchte in seinem Heimatdorf sechs bis sieben Jahre die Schule und half seinem Vater nebenbei in der familieneigenen Landwirtschaft.
Die Familie lebte von der Landwirtschaft. Die vier Onkel des Beschwerdeführers arbeiteten nicht als Polizisten. Welchem Beruf die Onkel des Beschwerdeführers nachgingen, konnte nicht festgestellt werden.
Die Eltern des Beschwerdeführers, seine zwei Brüder und seine beiden Schwestern leben nach wie vor im familieneigenen Haus im Heimatdorf. Weiter leben dort vier Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers und sein Großvater väterlicherseits. Es wurde kein Onkel des Beschwerdeführers von den Taliban ermordet. Dass der Beschwerdeführer in Kontakt mit seiner Familie in Afghanistan steht, konnte nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Es konnten auch keine Feststellungen zur derzeitigen finanziellen Situation der Familie getroffen werden. Ob die Familie in der Lage wäre, den Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan finanziell zu unterstützen und ihm insbesondere eine adäquate Behandlung seiner psychischen Erkrankung zu finanzieren, ist nicht bekannt.
Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. an einer Traumafolgestörung (F 43.1). Beim Beschwerdeführer tritt eine schwere depressive Symptomatik mit somatischem Syndrom, starken Angstzuständen, massiven Schlafstörungen, Albträumen und Konzentrationsschwierigkeiten auf. Wesentliche Merkmale der psychischen Erkrankungen des Beschwerdeführers sind zudem u.a. in Zusammenhang mit der Belastung stehende, wiedererlebte Erinnerungen (Intrusionen) sowie innere Bedrängnis und Vermeidungsverhalten. Weiter treten Symptome wie vermehrte Anspannung mit Unruhe, Reizbarkeit oder Wutausbrücke, aggressives Verhalten, übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz), erhöhte Schreckhaftigkeit oder psychosomatische Beschwerden auf. Beim Beschwerdeführer liegt eine Unfähigkeit, einen geregelten Tagesablauf zu bestreiten sowie die Unfähigkeit, eine angemessene Konzentrationsspanne aufrecht zu erhalten, vor. Eine längerfristige traumatherapeutische Begleitung ist im Fall des Beschwerdeführers indiziert. Der Beschwerdeführer befindet sich seit 18.10.2018 in regelmäßiger Behandlung in der klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums XXXX . Seit Juni 2019 ist er in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung bei der XXXX . Ein (erfolgreicher) Einstieg in einen psychotherapeutischen Prozess ist im Fall des Beschwerdeführers jedoch erst nach Schaffung prioritärer Grundvoraussetzungen (wie bestehender Klarheit in Bezug auf den weiteren Aufenthaltsort, Halt, Struktur und Sicherheit) möglich.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer hält sich zumindest seit 20.4.2016, als er seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte, durchgehend im Bundesgebiet auf. Er lebt in Österreich von der Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Der Beschwerdeführer hat seit seiner Einreise durchgehend die Schule sowie Basisbildungskurse besucht. Im Februar 2018 trat er zu einer Deutschprüfung auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen an und erwarb ein ÖSD-Sprachzertifikat A2. Im März 2018 legte der Beschwerdeführer erfolgreich eine Deutschprüfung auf Niveau B1 ab und erlangte ein ÖSD-Sprachzertifikat B1. Der Beschwerdeführer spricht bereits gut Deutsch. Zuletzt besuchte der Beschwerdeführer das Bundesrealgymnasium in XXXX , wo er durch seine guten Deutschkenntnisse und seine Hilfsbereitschaft auffiel. Im Rahmen seines Schulbesuchs nahm der Beschwerdeführer an unverbindlichen Übungen wie Volleyball und Schülerliga-Fußballturnieren teil. Der Beschwerdeführer ist Mitglied des XXXX und spielte dort bis zu seiner Übersiedelung nach XXXX in seiner Freizeit regelmäßig Fußball. Zukünftig wird der Beschwerdeführer das Bundesgymnasium XXXX in XXXX besuchen. Nach Abschluss der Schule möchte der Beschwerdeführer Medizin studieren und Chirurg werden. Der Beschwerdeführer hat in Österreich einige soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In seiner Freizeit trifft sich der Beschwerdeführer mit Freunden oder besucht das Fitnessstudio.
In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers
2.2. Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.
Die vier Onkel des Beschwerdeführers haben nicht für die afghanische Polizei gearbeitet und sind auch derzeit nicht als Polizisten tätig. Der Vater des Beschwerdeführers wurde daher von den Taliban wegen der Tätigkeit seiner Brüder nicht bedroht. Die Taliban drohten insbesondere nicht damit, den Beschwerdeführer zu entführen, zwangszurekrutieren oder gar zu töten, sollten die Onkel ihre Tätigkeit für die Polizei nicht einstellen. Die Familie des Beschwerdeführers stand daher nicht im Visier der Taliban. Insbesondere durchsuchten die Taliban nicht das Haus der Familie des Beschwerdeführers, um ihn zu entführen, zwangszurekrutieren oder gar zu töten. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen bzw. Verfolgung durch die Taliban bis hin zu seiner Tötung, etwa aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung bzw. wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie, ausgesetzt wäre, ist daher nicht zu erwarten. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.
Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.
Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Kunar) gehört zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Es sind mehrere terroristische Organisationen in der Provinz aktiv, darunter der ISKP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan), al-Qaida und Lashkar-e Taiba. Mitglieder der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) betreiben in der Provinz Kunar eine Militärbasis. Die Anzahl ziviler Opfer hat seit 2017 deutlich zugenommen. In der Provinz werden regelmäßig Sicherheitsoperationen, darunter Bodenkämpfe und Luftangriffe, durchgeführt. Es kommt sowohl zu Zusammenstößen zwischen ISKP-Kämpfern und den Regierungskräften als auch zwischen ISKP-Anhängern und den Taliban.
Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Kunar droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.
Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Die Provinzen Balkh und Herat gehören zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans und sind vom Konflikt relativ wenig betroffen. Insbesondere Balkh gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Aufständische sind in einigen abgelegenen Distrikten aktiv. Die Hauptstadt der Provinz - Herat (Stadt) - ist davon wenig betroffen und gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als sehr sicher. Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.
Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Dem minderjährigen Beschwerdeführer wäre es im Fall einer Niederlassung in Mazar-e Sharif und Herat jedoch nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit schwerer depressiver Symptomatik mit somatischem Syndrom, starken Angstzuständen, massiven Schlafstörungen, Albträumen und Konzentrationsschwierigkeiten. Der Beschwerdeführer ist dadurch auch mit einer Beeinträchtigung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit konfrontiert. Er ist derzeit nicht selbsterhaltungsfähig und benötigt regelmäßige psychotherapeutische Behandlung. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Kontakt zu seiner Familie hat. Er verfügt daher in Afghanistan - insbesondere in Mazar-e Sharif oder in Herat (Stadt) - über kein soziales Netzwerk, das ihn unterstützen könnte. Zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung ist der Beschwerdeführer jedoch auf ein familiäres Netzwerk angewiesen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit notwendig. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan findet nicht in ausreichendem Maße statt und wäre nicht gesichert. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer minderjährig ist und über keine Berufsausbildung verfügt. Er hat keinerlei Erfahrung am freien Arbeitsmarkt bei der Arbeitssuche und konnte bislang nur wenig Berufserfahrung im geschützten Umfeld in der familieneigenen Landwirtschaft sammeln, wo er seinem Vater ab und zu bei der Arbeit half. Der minderjährige Beschwerdeführer ist abgesehen von seiner Heimatprovinz in keinem anderen Landesteil Afghanistans ortskundig. Er wäre sowohl im Fall einer Neuansiedlung in Mazar-e Sharif als auch in Herat (Stadt) vor die Herausforderung gestellt, trotz seiner psychischen und daraus resultierenden physischen Defizite eine Arbeitsstelle zu finden und sich eine Lebensgrundlage zu schaffen. Die Situation am afghanischen Arbeitsmarkt ist aber generell angespannt. Aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es dem minderjährigen Beschwerdeführer möglich sein wird, jeglicher Arbeit nachzugehen. Er hat aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung somit einen schwerwiegenden Nachteil auf dem freien Arbeitsmarkt im Vergleich zu gesunden und somit uneingeschränkt leistungsfähigen Personen. Im Fall einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif oder Herat liefe der minderjährige Beschwerdeführer daher Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat
2.3.1. Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben):
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).
Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).
Quellen siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Kap. 2.
Allgemeine Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UN-GASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeit-raum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UN-GASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Ta-liban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommandos sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teil-zeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach des-sen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl.