TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/10 W264 2203605-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.02.2020
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Entscheidungsdatum

10.02.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W264 2203610-1/8E

W264 2203606-1/9E

W264 2203608-1/11E

W264 2203605-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin XXXX , geb. XXXX .1996 (BF2), StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.7.2018, 1092247900-151618684, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.2.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AslyG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der unmündigen minderjährigen Drittbeschwerdeführerin XXXX , geb. XXXX .2016 (BF3), StA. Afghanistan, vertreten durch ihre erziehungsberechtigte Mutter XXXX (BF2) und ihren Vater XXXX (BF1), diese beiden nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.7.2018, 1136604302-161611377, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.2.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm
§ 34 Abs 2 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der unmündigen minderjährigen Viertbeschwerdeführerin XXXX , geb. XXXX .2018 (BF4), StA. Afghanistan, vertreten durch ihre erziehungsberechtigte Mutter XXXX (BF2) und ihren Vater XXXX (BF1), diese beiden nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.7.2018, 1182686703-180196015, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.2.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm
§ 34 Abs 2 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde des Erstbeschwerdeführers XXXX , geb. XXXX 1994 alias XXXX .1994 (BF1), StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.7.2018, 1092248200-151618706, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.2.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs 2 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Hinweis: Zur leichteren Nachvollziehbarkeit wird festgehalten, dass die Abkürzungen BF1 bis BF4 im Folgenden beibehalten werden. Verweise auf Aktenseiten (AS) aus dem Fremdakt der belangten Behörde beziehen sich jeweils auf jenen vom BFA für den jeweiligen Beschwerdeführer geführten Fremdakt.

1. Der BF1 und die BF2 reisten gemeinsam, als traditionell verheiratetes Ehepaar, unrechtmäßig und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 24.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 24.10.2015 wurde der BF1 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu seinem Fluchtgrund erstmals befragt und gab er dazu an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und die Taliban wollen hätten, dass er mit ihnen kämpfe. Seine Familie sei auch in den Iran geflüchtet. Sonst habe er keine Fluchtgründe. Er habe das aber nicht wollen, deshalb habe er mit seiner Frau das Land verlassen. Er sei Schiit, habe in Afghanistan fünf Jahre die Schule besucht und dort als Hirte gearbeitet.

3. Die BF3 und BF4 wurden in Österreich am 24.9.2016 (BF3) und am 19.1.2018 (BF4) geboren.

4. In der am 8.3.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „BFA“ oder „belangte Behörde“) vorgenommenen Einvernahme des BF1 äußerte dieser ergänzend, Dari und Farsi zu sprechen. Er stamme aus der Provinz Kunduz und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er legte eine Tazkira vor, zu der er angab, dass diese vor zirka fünf Jahren in der Stadt Kunduz ausgestellt worden sei. Er habe den Beruf Schweißer gelernt und für drei in der Stadt von Kunduz gearbeitet. Einige Zeit habe er auch auf einer Hühnerfarm gearbeitet. Sein Vater habe die Hochzeit zwischen ihm und seiner Ehefrau mit seinem Schwiegervater arrangiert. Die Mutter seiner Ehefrau sei die Cousine seines Vaters. Eine Tante väterlicherseits würde noch in Kunduz leben. Seine Eltern und ein Bruder würden hingegen im Iran leben. Eine Schwester lebe in Pakistan und ein Bruder in Kanada. Sein Bruder habe in Kabul Mathematik studiert und hätte keine Probleme gehabt. Zu ihm habe er keinen Kontakt. Zu seiner Mutter habe hingegen regelmäßigen Kontakt. Die Taliban hätten ihn zwei Mal aufgefordert sich ihnen anzuschließen, deshalb habe er beschlossen, sein Heimatland zu verlassen. Über nochmaliges Befragen, was seine Fluchtgründe seien, schilderte der Beschwerdeführer darüberhinausgehend, dass es Grundstücksstreitigkeiten zwischen seinem Vater, seinem Onkel und seiner Tante gegeben habe. Der Mann seiner Tante und deren Sohn wären mit der Grundstücksaufteilung nicht einverstanden gewesen, weshalb sie zum Beschwerdeführer und seinem Vater gekommen seien und ihnen unterstellt hätten, dass sie für die Regierung arbeiten und sie ausspionieren würden. Sie würden zu den Taliban gehören, hätten sie dann geschlagen und den Beschwerdeführer mitgenommen. Seine Frau hätten sie dabei versucht zu vergewaltigen. Nach zwei Tagen hätten sie ihn wieder nach Hause gebracht. Sein Vater hätte ihnen Geld gegeben, damit sie in frei lassen. Zwei Tage später seien sie über Kabul ausgereist. In Österreich würden sie am Sonntag in die Kirche „ XXXX “ gehen, am Samstag komme eine Dame namens „Christi“ und spreche über das Christentum.

5. Der BF1 legte seine Tazkira im Original und diverse Bestätigungs- und Unterstützungsschreiben, unter anderem über die erfolgreiche Ablegung der Deutschprüfung A1 am 13.10.2016 und A2 am 5.10.2017, vor.

6. Die BF2 schilderte in ihrer Erstbefragung am 24.10.2015 mit dem BF1 traditionell verheiratet zu sein, zwei Jahre Unterricht zu Hause erhalten zu haben und Dari zu sprechen. Zum Fluchtgrund gab die BF2 an, dass ihr Mann, ihr Vater und ihre Brüder Probleme mit den Taliban gehabt hätten. Sie seien dann alle in den Iran geflüchtet und von dort seien sie und ihr Mann weiter nach Europa.

7. In der am 8.3.2018 durch das BFA vorgenommenen Einvernahme gab die BF2 an, ebenfalls der Volksgruppe der Hazara anzugehören. In Afghanistan sei sie immer Hausfrau gewesen. Lesen und Schreiben habe sie von ihrem Bruder im Alter von zehn Jahren gelernt. Aufgrund eines Grundstückstreits sei das Leben ihres Mannes in Gefahr gewesen. Aus Angst vor den Taliban seien sie geflüchtet. Der Cousin ihres Mannes habe zudem versucht die BF2 zu vergewaltigen. Ihre Schwiegermutter habe es verhindern können, indem sie sich auf die BF2 geworfen habe. Dies sei eine Woche vor der Ausreise geschehen. In Afghanistan habe sie mit ihren Schwiegereltern, ihrem Schwager und ihrem Mann in einem Haus gelebt. Die Eltern, eine Schwester und zwei Brüder der BF2 würden im Iran leben. Zu ihren Eltern habe sie Kontakt. In Afghanistan habe sie keine Verwandten mehr. Unter anderem gab sie auf die auf ihre nunmehrige Lebensgestaltung abzielenden Fragen zur Antwort, dass „wir beide“ das Geld verwalten und sie sich so kleide, wie im Zeitpunkt der Einvernahme am 8.3.2018 (Bluse, Leggins) und gab sie auf die Frage „Was erwarten Sie sich in Österreich?“ an: „Auf eigenen Beinen zu stehen“ (BFA Protokoll BF2, S. 12).

8. Die Beschwerdeführer legten der belangten Behörde diverse Beweismittel vor (Bestätigungen und Empfehlungsschreiben).

9. Mit den nunmehr bekämpften Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3.7.2018 wurde betreffend BF1 bis BF4 jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.) und jeweils gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Mit den bekämpften Bescheiden wurde den oben Genannten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters stellte die belangte Behörde mit den bekämpften Bescheiden fest, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.) beträgt.

10. Die Beschwerdeführer erhoben, vertreten durch ihren Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, mit Schriftsatz vom 30.7.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.

11. Mit Schriftsatz des Rechtsanwaltes Dr. Helmut BLUM vom 4.2.2019 wurde dem Gericht „zum Beweis der modernen Lebensweise“ der BF2 und der „ausgezeichneten Integration der Beschwerdeführer in die österreichische Gesellschaft“ als Zeugenbeweis XXXX aus XXXX angeboten. Als Urkundenbeweise wurden die „Bestätigungen der evangelischen Pfarrgemeinde A.B. XXXX vom 25.1.2019“ übermittelt, wonach der BF1 und die BF2 Mitglieder dieser Pfarre sind sowie eine sechsseitige DIN-A4-Fotodokumentation mit Fotographien und Erläuterungen, womit die Lebensgestaltung der BF2 und des BF1 in der Pfarrgemeinde A.B. XXXX dargestellt werden sollten. Auszugsweise geht daraus hervor „die junge Familie genießt diese Gemeinschaft sehr. XXXX lernt das Skifahren. XXXX war bei der Geburt seiner Mädchen dabei. XXXX hat sich in den letzten Jahren zu einer sehr selbstbewussten jungen Frau entwickelt, die sich rührend um ihre zwei kleinen Kinder kümmert, diese aber auch gerne einmal bei ihrem Vater lässt, wenn sie zB den Deutschkurs besuchen möchte, ins Yoga geht, tanzen. Wir machen einen Ausflug nach Bad Ischl. XXXX bleibt bei ihrem Vater. Für sich und die Mädchen wünschen sich XXXX und XXXX ein selbstbestimmtes Leben in Friede und Freiheit. Und sie freuen sich schon sehr darauf, wenn es ihnen erlaubt wird, für ihr Geld zu arbeiten. Katharina, Thomas und Michaela sind neben anderen nach wie vor verlässliche Unterstützung für die junge Familie und kommen auch immer wieder einmal zu Besuch nach XXXX .“ Aus diesen Fotographien und Erläuterungen geht hervor, dass der BF1 ehrenamtlich beim Flohmarkt des Roten Kreuzes half und dort Fahrräder reparierte und Philipp XXXX einer seiner besten Freunde in XXXX sei. Aus zwei Fotographien geht hervor, dass der BF1 bei Familie XXXX zur Geburtstagsfeier eingeladen war. Insgesamt sind in dieser Fotodokumentation 53 Fotographien enthalten, welche an verschiedenen Orten – der Bekleidung nach – zu verschiedenen Jahreszeiten aufgenommen wurden. Die BF2 ist auf einem Foto beim Schwimmunterricht im See abgebildet und ist sie auf allen Fotographien in westlicher Kleidung ohne Kopfbedeckung abgebildet, unter anderem auch mit verschiedenen Personen beiderlei Geschlechts ohne den BF1.

13. Am 13.2.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, an welcher eine Dolmetscherin für die Sprache Dari, die BF1 bis BF4, ein Rechtsvertreter der BF1 bis BF4, sowie ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen.

Der BF1 und die BF2 wurden in der öffentlichen mündlichen Verhandlung nach dem Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht nach § 15 AsylG 2005 und ihr Aussagenverweigerungsrecht zu ihren Fluchtgründen und ihrem nunmehrigen Leben in Österreich befragt. Als Beweismittel legten sie in der Verhandlung eine Stellungnahme der XXXX , vom 11.2.2019 vor, für BF1 und BF2 je eine Mitgliedsbestätigung der christlichen Glaubensgemeinschaft XXXX , Pastor XXXX , vom 19.10.2018 vor, für BF1 und BF2 je eine Bestätigung über die Wassertaufe der beiden am 17.6.2018 in der christlichen Glaubensgemeinschaft XXXX . Die BF2 schrieb nach Aufforderung mit eigenen Worten ihren Namen, ihre Herkunftsprovinz und ihr Glaubensbekenntnis „Ich bin Christstein“ in Beilage ./B der Verhandlungsschrift nieder.

Nachdem die BF2 zu den Fluchtgründen befragt wurde, gab sie als Befürchtung für den Fall der Rückkehr nach Afghanistan an, dort sei es schwierig Töchter groß zu ziehen, ihre Töchter BF3 und BF4 könnten sich dort nicht bilden und stünde sowohl ihre Familie als auch die Schwiegerfamilie Mädchen negativ gegenüber. Sie wären nicht zufrieden gewesen, als sie eine Tochter zur Welt brachte.

Die BF2 gab in der öffentlichen mündlichen Verhandlung an, innerlich einen Zorn gehabt zu haben, da sie nie die Möglichkeit auf Bildung hatte und bloß im Haushalt ihrer Eltern und später in jenem der Schwiegereltern arbeiten konnte und habe sie Gott immer die Frage gestellt, warum er sie als Frau erschaffen habe.

In Afghanistan habe sie nicht die Freiheit, die sie hier habe. Hier in Österreich könne sie auch ohne Kopfbedeckung die Wohnung verlassen. Ihre Familie habe sie gefragt, warum sie als Mädchen geboren sei und sie verprügelt und gesagt „wir wünschten, du wärst ein Junge“. Sie habe in den drei Jahren in Österreich gelernt, was es heißt leben zu können, welche Bedeutung die Freiheit habe. Befragt nach ihrem Leben in Österreich gab die BF2 an, in Österreich auch männliche Freunde zu haben, Philipp und Simon und Jujin. Sie gehe mit ihren Freundinnen oder Freunden gemeinsam einkaufen, in den Park und fühle sich frei, wenn sie sich mit diesen aufhalte, während sie in Afghanistan das Haus verließ, um ein- bis zweimal im Monat ihr Elternhaus zu besuchen, mehr habe sie nicht gedurft. In Afghanistan hätten die Schwiegereltern oder der BF1 eingekauft, sie habe nicht einkaufen gehen dürfen, denn der Schwiegervater habe es untersagt, so die BF2. Sie habe das Haus nicht verlassen dürfen, hier dürfe sie die Wohnung verlassen und müsse niemanden um Erlaubnis bitten, so die BF2.

Auf die Frage „Wenn Sie vergleichen müssen Österreich versus Afghanistan, was sagen Sie?“ gab sie zur Antwort „Hier werden Frauen wertgeschätzt, sie verfügen über dieselben Rechte wie die Männer. Sie sind im Stande arbeiten zu gehen, sich draußen frei zu bewegen oder zu lernen. In Afghanistan sieht man Frauen als Nutzobjekte, die man bei Bedarf ausnutzt. Dort habe ich mich wie in einem Käfig gefühlt. Ich habe erst hier gelernt, was es heißt, leben zu können“.

13. Mit Schriftsatz des Rechtsanwaltes Dr. Helmut BLUM vom 28.6.2019 wurde dem Gericht mit dem Hinweis „den Fotos kann ebenfalls entnommen werden, dass Frau XXXX westlich gekleidet war“ je ein Taufschein für die BF3 und die BF4 übermittelt, ausgestellt über die Taufe am 23.6.2019 in der Evangelischen Kirche am XXXX , durchgeführt von XXXX , sowie eine Fotodokumentation (vier Fotos auf DIN-A4) über die Taufe der beiden Mädchen und ist die BF2 darin in westlicher Kleidung ohne Kopfbedeckung zu sehen.

14. Am 16.1.2020 erkundigte sich ein Dr. XXXX von der Caritas, von welchem eine Vollmacht der Beschwerdeführer nicht vorliegt, über den Stand des Verfahrens. Eine Vollmachtsauflösung des Dr. XXXX langte nicht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zu den Beschwerdeführern wird festgestellt:

BF1 bis BF4 sind Staatsangehörige Afghanistans. Der BF1 ist mit der BF2 verheiratet.

BF3 und BF4 sind die unmündigen minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2 und wurden in Österreich geboren.

BF1 bis BF4 stammen aus der Volksgruppe der Hazara, sprechen Dari und wurden in Österreich in christliche Glaubensgemeinschaften aufgenommen.

Die Identität steht mit der für das Verfahren ausreichenden Sicherheit fest.

BF1 und BF2 reisten in Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein, wo sie am 24.10.2015 die Anträge auf internationalen Schutz stellten.

Die BF2 betreffend scheinen keine Vormerkungen im Strafregister der Republik Österreich auf. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF2 von der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auszuschließen wäre.

Die BF2 lebt in Österreich von der Grundversorgung und versorgt ihre beiden minderjährigen Kinder BF3 und BF4.

Auch BF1, BF3 und BF4 leben in Österreich von der Grundversorgung und sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Die BF2 verbrachte vor ihrer unrechtmäßigen Einreise ihr Leben in von islamischen Werten geprägten Ländern: im Herkunftsstaat Islamische Republik Afghanistan und auf der Reise nach Europa für einen Monat im Iran.

Sie besuchte keine öffentliche Schule, sondern wurde ihr Heimunterricht im Ausmaß von zwei Jahren vermittelt. In Afghanistan war die BF2 nicht erwerbstätig und wurde von ihrer Familie schlecht behandelt, da sie kein Junge war. Sowohl die eigene Familie als auch ihrer Schwiegerfamilie sind laut Angaben der BF2 Mädchen gegenüber negativ eingestellt und waren darüber, dass die BF2 eine Tochter zur Welt brachte, nicht zufrieden. In Afghanistan sei es aus Sicht der BF2 schwer Töchter großzuziehen und könnten sich dort aus ihrer Sicht die BF3 und die BF4 nicht bilden.

In Afghanistan durfte sie laut dem Schwiegervater das Haus ein- bis zweimal im Monat verlassen, um ihr Elternhaus zu besuchen. Die Einkäufe durfte sie in Afghanistan nicht erledigen, da es der Schwiegervater untersagt hatte. In Österreich geht die BF2 mit ihren Freundinnen oder Freunden gemeinsam einkaufen und in den Park und fühlt sich frei, wenn sie sich mit diesen trifft. Aus der vorgelegten Fotodokumentation hervor, dass die BF2 in Österreich auch ohne das Beisein des Ehemannes BF1 ihre Freizeit gestaltet, so zB bei einem Ausflug nach Bad Ischl mit außerhalb der Familie stehenden Personen oder um Yoga zu besuchen oder alleine in den Deutschkurs zu gehen. Aus dem in der Verhandlung vorgelegten von Pastor XXXX , christliche Gemeinde XXXX , verfassten Beweismittel „Mitgliedsbestätigung“ vom 19.10.2018 geht hervor, dass dieser die BF2 im September 2016 kennenlernte, und nicht nur wahrnahm, dass die BF2 „von Anfang an ein echtes Interesse an Gott und dem christlichen Glauben“ entwickelte, sondern die BF2 als „von Anfang an [bemüht] Freundschaften zu knüpfen. Sie hat sich aufrichtig um die Menschen in ihrem Umfeld bemüht und ist so zu einem wertvollen Teil unserer Gemeinde geworden“ wahrnahm. Laut dem in der Verhandlung vorgelegten Beweismittel aus der Feder der XXXX , vom 11.2.2019, besucht die BF2 gemeinsam mit BF1 und BF3 und BF4 seit September 2018 den Gottesdienst in der Evangelischen Pfarrgemeinde XXXX , wo im Juni 2018 auch die Taufe von BF3 und BF4 stattfand.

Die BF2 hat laut ihren Angaben in Österreich Kontakt außerhalb ihrer Familie und nannte als männliche Freunde Philipp und Simon und Jujin und geht aus der vorgelegten Fotodokumentation hervor, dass die BF2 in Österreich Kontakt zu Österreichern beiderlei Geschlechts hält: darin werden etwa unter einer Fotographie stehend „Katharina, Thomas und Michaela“ als Freunde und verlässliche Stütze von BF1 bis BF4 beschrieben. Aus dem von Gemeinderätin Michaela XXXX verfassten Beweismittel „Empfehlungsschreiben“ vom 1.2.2018 (AS 109) geht hervor, dass „ XXXX und XXXX auch schon einen schönen Freundeskreis aus Österreichern aufgebaut haben“ und schreibt diese am Ende des Empfehlungsschreibens in Fettschrift: „Sie gehören zu meinen Freunden“.

Die Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ergab, dass die BF2 eine junge Mutter zweier minderjähriger in Österreich geborener Töchter ist, welche sich in ihrer Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert und den seitens der afghanischen Gesellschaft den Frauen in Afghanistan aufoktroyierten Lebensstil nicht als freies Leben empfindet.

Sie ist laut dem Beweismittel vom 14.2.2018 (aus der Feder von XXXX und XXXX in AS 101) „sehr interessiert an unserer Kultur und Lebensweise“. Aus dem vorgelegten Beweismittel „Personenauskunft und Empfehlungsschreiben“ für BF1 und BF2 aus der Feder von Dr. XXXX und XXXX vom 4.3.2018 geht hervor, dass die BF2 – und auch deren Ehemann BF1 – interessiert sind „Verhaltensformen der Österreicher kennen zu lernen bzw zu verstehen und anzuwenden“ und diesbetreffend bei XXXX auch außerhalb des Deutschunterrichts Erkundigungen einholte (AS 105). Im Beweismittel „Empfehlungsschreiben“ der XXXX vom 2.2.2018 (AS 107) ist zu lesen, dass die unter anderem die BF2 „sehr interessiert, wie unsere Traditionen und Bräuche ablaufen“ ist. Laut dem Beweismittel „Empfehlungsschreiben“ von XXXX und XXXX (AS 99) ist „ihr Talent für Handarbeiten auffallend“. Laut mehreren Beweismitteln hat die BF2 bereits für Freunde und Mitbewohner der Asylunterkunft gekocht („Empfehlungsschreiben“ von XXXX und XXXX in AS 99, „ XXXX Gastfreundschaft“ laut Empfehlungsschreiben der XXXX in AS 97), und war „ XXXX [...] stets zur Stelle, wenn es zum Zusammenhelfen war“ (Empfehlungsschreiben XXXX , Asylunterkunft XXXX , 2.3.2018, in AS 103). Die Bestätigung des Gemeindeamtes XXXX , ausgestellt von Bürgermeister XXXX , vom 30.1.2018, belegt eine Freiwilligentätigkeit der BF2 beim Sommermarkt XXXX am 15.7.2017 (AS 95).

Die BF2 kleidet, frisiert und schminkt sich nach westlicher Mode.

Sie lebt nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan sowie die dort aufoktroyierten Lebensumstände ab. Die zwar der lateinischen Schrift mächtige, aber über keine abgeschlossene Schulbildung verfügende BF2 verfolgt das Ziel, ab dem Zeitpunkt, wo BF3 und BF4 den Kindergarten besuchen, eine Schulbildung zu erlangen und entweder als Verkäuferin oder als Friseurin erwerbstätig zu werden. Die BF2 kann bereits eine Konversation über ihr Alltagsleben in deutscher Sprache führen.

In der mündlichen Verhandlung gab die BF2 auf die Frage „Wenn Sie vergleichen müssen Österreich versus Afghanistan, was sagen Sie?“ als Antwort „Hier werden Frauen wertgeschätzt, sie verfügen über dieselben Rechte wie die Männer. Sie sind im Stande arbeiten zu gehen, sich draußen frei zu bewegen oder zu lernen. In Afghanistan sieht man Frauen als Nutzobjekte, die man bei Bedarf ausnutzt. Dort habe ich mich wie in einem Käfig gefühlt. Ich habe erst hier gelernt, was es heißt, leben zu können“ und gab sie ihre persönliche Einschätzung ab, dass man in Afghanistan Frauen als Nutzobjekte, welche man bei Bedarf ausnutzt, ansieht. Sie fühlte sich wie in einem Käfig und lernte erst hier, was es heißt, leben zu können. In Österreich erwarte sie, auf den eigenen Beinen zu stehen. Diese Einstellung der BF2 steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Auftreten einer weiblichen Person in der Öffentlichkeit und deren Bewegungsfreiheit.

1.2. Zu der maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 2.9.2019). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018; vgl. AF 13.12.2017).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (BFA 4.2018; vgl. AA 2.9.2019), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 2.9.2019).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (BFA 13.6.2019).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (BFA 4.2018; vgl. UNAMA 24.12.2017).

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018).

Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt…) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019).

Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018), was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (PAJ 10.12.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 2.9.2019).

Bildung für Mädchen

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten (HRW 17.10.2017). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung, sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 13.3.2019; vgl. UNICEF 27.5.2019). Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 erhöht und somit verdreifacht. Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule – Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt – speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (BFA 13.6.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; UNAMA 24.2.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Mittlerweile ist nicht mehr die Schließung von Schulen (wie es während der gewalttätigen Kampagne in den Jahren 2006-2008 der Fall war) Ziel der Aufständischen, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über diese. Die Kontrolle wird durch Vereinbarungen mit den jeweiligen örtlichen Regierungsstellen ausgehandelt und beinhaltet eine regelmäßige Inspektion der Schulen durch die Taliban (AREU 1.2016).

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041 (AF 13.2.2019; vgl. WB 6.11.2018), also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung – Kankor – ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).

Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht:

(WB 6.11.2018)

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten, aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen – Bamyan und Kunar – sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen (WB 6.11.2018). Beispielsweise gibt es mittlerweile die erste (und einzige) Frau Afghanistans, die einen Doktor in Spielfilmregie und Drehbuch hat – diesen hat sie an einer Akademie in Bratislava abgeschlossen (RY 16.5.2019).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für „Frauen- und Genderstudies“ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018; Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).

Anmerkung: Weitergehende Informationen zum Bildungswesen in Afghanistan können dem Abschnitt „Schulbildung in Afghanistan“ im Unterkapitel …Kinder entnommen werden.

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 13.3.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 2.9.2019; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019). Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben (WB 4.2019). Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv – manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019). Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 13.3.2019); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 13.3.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (BFA 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die Teilnahme von Frauen am politischen Prozess ist gesetzlich nicht eingeschränkt (USDOS 13.3.2019). Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 2.9.2019), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2018 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 13.3.2019). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2 % für das Jahr 2019 (AA 2.9.2019).

Traditionelle gesellschaftliche Prktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 13.3.2019).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender – Radio Roshani – nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Damen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).

Anmerkung: Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln … „NGOs und Menschenrechtsaktivisten“, … „Meinungs- und Pressefreiheit“ und …„Sicherheitsbehörden“ entnommen werden.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 2.9.2019). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 13.3.2019). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin, sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Stand 2017 gab es landesweit 208 FRUs (USDOD 12.2017).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (BFA 4.2018; vgl. TD 4.12.2017).

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 2.9.2019). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern – das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 13.3.2019).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen – auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch. Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor, aber die Justiz war weiterhin unterfinanziert, unterbesetzt, unzureichend ausgebildet, weitgehend ineffektiv und Drohungen, Voreingenommenheit, politischem Einfluss und allgegenwärtiger Korruption ausgesetzt (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 2.9.2019). Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).

Frauenhäuser

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 2.9.2019). Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen. Fast alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Institutionen angewiesen – diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan (NYT 17.3.2018).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 2.9.2019). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 2.9.2019).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 16 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 13.3.2019).

In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert (USDOS 13.3.2019).

Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 13.3.2019).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 2.9.2019). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor. UNAMA berichtet von 280 Ehrenmorden im Zeitraum Jänner 2016-Dezember 2017, wobei nur 18% von diesen zu einer Verurteilung und Haftstrafe führten. Trotz des Verbotes im EVAW-Gesetz üben Behörden oft Druck auf Opfer aus, auch schwere Verbrechen durch Mediation zu lösen. Dies führt zu Straflosigkeit für die Täter (USDOS 13.3.2019). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (KP 23.3.2016; vgl. UNAMA 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018). Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht (AA 2.9.2019). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 2.9.2019). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 13.3.2019). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 13.3.2019). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr, eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen – das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist – selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal und Ba‘ad/Swara, bei denen Bräute zwischen Familien getauscht werden, sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Badal ist gesetzlich nicht verboten und weit verbreitet (USDOS 13.3.2019; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018).

Die Praxis des Ba‘ad bzw. Swara ist in Afghanistan gesetzlich verboten, jedoch in ländlichen Regionen – vorwiegend in paschtunischen Gebieten - weit verbreitet. Dabei übergibt eine Familie zur Streitbeilegung ein weibliches Familienmitglied als Braut oder Dienerin an eine andere Familie. Das Alter der Frau spielt keine Rolle, es kann sich dabei auch um ein Kleinkind handeln (TRT 17.5.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, EASO 12.2017). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 2.9.2019; vgl. UNPF 17.7.2018, HPI 22.10.2016). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018).

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Geb

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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