TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/14 W104 2190738-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.02.2020
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Entscheidungsdatum

14.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

W104 2190738-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Christian BAUMGARTNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Nadja LORENZ, 1070 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom 23.2.2018, Zl. 1093946307-151719227, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.12.2019 zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 AsylG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 2, Abs. 9, 46 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 6.10.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 8.11.2015 gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Ghazni geboren, afghanischer Staatsangehöriger und hänge der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, ein Bruder und eine Schwester seien nach wie vor in Afghanistan aufhältig. Zum Fluchtgrund befragt, führte der Beschwerdeführer aus, er habe sein Land wegen dem Krieg und wegen der bestehenden Unsicherheit verlassen. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan, habe er Angst um sein Leben.

In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 28.11.2017 führte der Beschwerdeführer zunächst aus, dass er der Volksgruppe der Tadschiken angehöre. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst an, dass er in Afghanistan als Rikscha-Fahrer gearbeitet und oft zwischen dem Dorf und der Stadt unterwegs gewesen sei. Ungefähr 200 Meter vom Haus seiner Familie entfernt, befinde sich eine Schule, weiter gebe es in der Nähe zwei Stützpunkte der afghanischen Polizei sowie der Armee. Diese Stützpunkte seien immer wieder von den Taliban angegriffen worden. Wenn der Beschwerdeführer zwischen der Stadt und dem Dorf unterwegs gewesen sei, hätten die Taliban verlangt, er solle die Taliban informieren, falls er Sicherheitskräfte sehe. Dies habe der Beschwerdeführer jedoch nicht getan. Insgesamt sei er vier bis fünf Mal von den Taliban zur Spionage aufgefordert worden. Manchmal habe der Beschwerdeführer den Polizeistationen verschiedene Dinge wie etwa Holz oder Mehl aus Ghazni Stadt mitgebracht. Oder er habe für die Polizeistationen Brot in der Stadt verkauft. Auch defekte elektrische Geräte habe er zur Reparatur gebracht. Auch andere jüngere Leute seien von den Taliban unter Druck gesetzt worden. Der Beschwerdeführer vermute, dass ihn jemand auf seinem Weg zur Polizei beobachtet und die Taliban informiert habe. Eines Tages sei der Beschwerdeführer mit seiner Rikscha unterwegs von Ghazni nach Mongor gewesen, als die Taliban ihn gestoppt und mitgenommen hätten. Die Taliban hätten ihn beschuldigt, für die Polizei zu arbeiten und ihn vier Tage lang gefangen gehalten. Der Beschwerdeführer habe unter anderem eine Wasserpumpe transportiert. In seinen Hosentaschen hätten die Taliban die Lieferadresse gefunden. Sie hätten dort angerufen und den Empfänger aufgefordert, zu kommen und mitzuteilen, wem die Wasserpumpe gehöre. Der Empfänger sei dann auch gekommen und habe den Taliban mitgeteilt, dass die Pumpe nicht der afghanischen Regierung gehöre, sondern er Verbindungen zu den Taliban habe. Daraufhin sei der Beschwerdeführer aufgefordert worden, die Pumpe in Begleitung des Empfängers zu transportieren. Anschließend müsse der Empfänger den Beschwerdeführer wieder zu den Taliban zurückbringen. Unterwegs habe der Beschwerdeführer versucht zu flüchten, sei jedoch angeschossen worden. Der Empfänger habe den Beschwerdeführer zu den Taliban zurückgebracht. Dort hätten die Taliban beschlossen, den Beschwerdeführer sowie die weiteren Gefangenen am Freitag nach dem Gebet zu töten. Am Tag der geplanten Tötung hätten zwei Taliban-Kommandanten aus dem Heimatdorf des Beschwerdeführers den Beschwerdeführer erkannt. Der Beschwerdeführer sei dann von den Kommandanten mitgenommen und in ein Büro der Taliban gebracht worden. Dort habe man die Kommandanten informiert, dass der Beschwerdeführer für die Polizei und die afghanische Armee arbeite. Einer der beiden Kommandanten habe dem Beschwerdeführer daraufhin versprochen, dass er nach Hause gehen könne, sofern er zukünftig für die Taliban arbeite und Informationen liefere. Der Beschwerdeführer sei daraufhin nach Ghazni gegangen und habe die Polizei informiert, welche dem Beschwerdeführer mitgeteilt habe, dass sie nicht jeden individuell schützen könnten. Der Beschwerdeführer solle für einige Zeit die Ortschaft verlassen. Der Beschwerdeführer habe seine Rikscha bei der Polizei gelassen und im Gegenzug Geld erhalten. Mit diesem Geld sei der Beschwerdeführer in den Iran geflohen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.2.2018, zugestellt am 27.2.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit zwei Wochen [gemeint: 14 Tagen] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers komme keine Glaubwürdigkeit zu, da seine Ausführungen vage, widersprüchlich und unplausibel seien. Insbesondere sei der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, seine Anhaltung durch die Taliban zu schildern. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass die afghanische Polizei dem Beschwerdeführer Geld für dessen Flucht in den Iran gegeben habe. Es sei nicht anzunehmen, dass die Taliban großes Interesse für die Person des Beschwerdeführers hätten, zumal der Beschwerdeführer bereits seit sechs Jahren im Ausland aufhältig sei. Insgesamt habe eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan über ein familiäres Netzwerk und könne sich etwa in Kabul ansiedeln. Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig und könne im Fall seiner Ansiedelung in Kabul seinen Lebensunterhalt bestreiten. Es sei daher insgesamt nicht ersichtlich, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung drohe. Der Beschwerdeführer könne in Kabul zumutbare Lebensbedingungen vorfinden.

Dagegen richtet sich die am 23.3.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts, mangelhafter bzw. unrichtiger Bescheidbegründung sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung der Verfahrensvorschriften. Darin wird im Wesentlichen das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen wiederholt und ausgeführt, dass die Beweiswürdigung der belangen Behörde sowie die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht nachvollziehbar seien. Der Beschwerdeführer habe im gesamten Verfahren keinen Anlass zur Annahme gegeben, dass er unglaubwürdig wäre. Sein Vorbringen sei ausreichend substantiiert, in sich schlüssig und stimme mit landeskundlichen Erkenntnissen überein. Die belangte Behörde habe den im Verfahren geltenden Prinzipien der amtswegigen Erforschung des maßgeblichen Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs nicht genügt und dadurch das Verfahren mit Mangelhaftigkeit behaftet. Weiter wird Vorbringen zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul, sowie zur Integration des Beschwerdeführers erstattet.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt. In einem verzichtete die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Am 24.10.2018 langte eine Vollmachtsbekanntgabe der neuen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, RA Mag. Nadja Lorenz, samt Beschwerdeergänzung beim Bundesverwaltungsgericht ein. In dieser wird näheres zum mangelhaften Ermittlungsverfahren sowie zur unschlüssigen Beweiswürdigung durch die belangte Behörde ausgeführt und näheres zur Sicherheitslage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vorgebracht.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte mit Schreiben vom 7.11.2019 eine mündliche Beschwerdeverhandlung für den 30.12.2019 an, brachte Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme.

Am 13.11.2019 gab der Verein Menschenrechte Österreich die Vollmachtsauflösung bekannt.

Mit Schreiben vom 15.11.2019 verständigte das Bundesverwaltungsgericht die Parteien vom Ergebnis einer Beweisaufnahme und führte das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand 13.11.2019) ins Verfahren ein. In einem gab das erkennende Gericht den Parteien die Möglichkeit, sich dazu vorab schriftlich, spätestens jedoch in der mündlichen Verhandlung zu äußern.

Mit Urkundenvorlage vom 19.12.2019 übermittelte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts am 30.12.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen einer Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat wegen Verfolgung durch die Taliban aufrecht. Ergänzend führte der Beschwerdeführer aus, er sei früher Moslem gewesen, hänge derzeit jedoch keiner Religion mehr an. Während seines bisherigen Aufenthalts in Österreich habe er erkannt, dass Menschlichkeit einen höheren Stellenwert habe als die Religion. Aus diesem Grund sei er von der Religion abgefallen.

Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers führte in der mündlichen Verhandlung aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers keine Widersprüche aufweise und vor dem Hintergrund der allgemeinen Länderberichte als glaubhaft erachtet werden könne. Es sei daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer von den Taliban in ganz Afghanistan aufgespürt werden könne. Zudem sei sein in der Beschwerdeverhandlung erstattetes, nachvollziehbares Vorbringen in Hinblick auf seine Religionslosigkeit asylrelevant und beachtlich. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde dem Beschwerdeführer, der nunmehr bereits seit sieben Jahren im Ausland gelebt habe, auch aufgrund seines Abfalls vom Glauben mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch gesellschaftliche Gruppen in Afghanistan drohen.

Am 9.1.2020 übermittelte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertreterin eine Religionsaustrittsbestätigung des Magistrats der Stadt XXXX vom 8.1.2020.

Mit Schreiben vom 17.2.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Situation der vom Islam abgefallenen Personen in Afghanistan zum Parteiengehör; eine Stellungnahme langte dazu innerhalb der gesetzten Frist nicht ein.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

* Bestätigungen von XXXX über die Teilnahme an Deutschkursen der Pfarre XXXX seit November 2015 vom 24.11.2017 sowie vom 10.12.2019;

* Bestätigung des Vereins XXXX über Besuch eines Deutschkurses A2 ab 12.2.2016 vom 29.11.2016;

* Bestätigung von XXXX über Besuch eines Deutschkurses A1+ im Zeitraum Juni 2016 bis Dezember 2016 vom 19.12.2016;

* Bestätigung des ÖIF über Teilnahme an einer Deutsch-Lerngruppe im Rahmen von "Treffpunkt Deutsch" im Zeitraum 10.10.2016 bis 12.12.2016 vom 21.11.2017;

* Bestätigung der XXXX über Besuch eines Deutschkurses A2 im Zeitraum 28.11.2016 bis 6.2.2017 vom 3.2.2017;

* Bestätigung der XXXX über Besuch eines Deutschkurses A2 (Teil 3 + 4 von 4) im Zeitraum 20.2.2017 bis 24.4.2017 vom 21.4.2017;

* Bestätigung des Vereins XXXX über Besuch eines Deutschkurses B1 im Zeitraum 31.5.2017 bis 31.1.2018 vom 28.6.2017;

* Bestätigung der XXXX über Besuch eines Sprachkurses Deutsch A2 im Zeitraum 25.7.2017 bis 9.10.2017 vom 9.10.2017;

* ÖSD-Sprachzertifikat A2 (bestanden) vom 6.9.2017;

* ÖSD-Sprachzertifikat A2 (gut bestanden) vom 2.11.2017;

* Bestätigung der XXXX über Besuch eines Deutschkurses B1 im Zeitraum 11.10.2017 bis 19.1.2018, undatiert;

* Bestätigung der XXXX über Besuch eines Deutschkurses B1 im Zeitraum 11.10.2017 bis 16.1.2018 vom 16.1.2018;

* Detailergebnisse zur ÖSD-Integrationsprüfung auf Niveau B1 vom 27.6.2019 (nicht bestanden);

* Bestätigung des ÖIF über Teilnahme an einer Informationsveranstaltung des ÖIF vom 27.11.2019;

* Bestätigung des Magistrats der Stadt XXXX über Teilnahme am XXXX Info-Modul Arbeitsmöglichkeiten vom 4.10.2017;

* Nachweis des XXXX Roten Kreuzes über ehrenamtliche Mitarbeit im Rahmen des Schulstartpaketes im Zeitraum 7.8.2017 bis 22.9.2017 von September 2017;

* Sozialbericht der Arbeiter-Samariter-Bund XXXX Wohnen- und Soziale Dienstleistungen gem. GmbH vom 8.11.2017;

* Referenzschreiben XXXX und XXXX über Teilnahme an Projekten der Berufsschule für Gartenbau und Floristik vom 18.12.2019;

* Antrag auf Sicherungsbescheinigung samt Antwortschreiben des AMS vom 8.10.2019;

* Arbeitsvorvertrag zwischen dem Beschwerdeführer und der XXXX vom 27.11.2019;

* Antrag auf Mitgliedschaft bei der XXXX vom 12.7.2016;

* Bestätigung des Magistrats der Stadt XXXX über Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich vom 8.1.2020;

* Diverse Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl;

* Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht;

* Einsichtnahme in folgende vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachte Berichte:

- Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation, Stand 13.11.2019;

- European Asylum Support Office (EASO): Country Guidance: Afghanistan, June 2019; https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf

- European Asylum Support Office (EASO): Country of Origin Information Report: Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, December 2017; https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports

- European Asylum Support Office (EASO): Bericht Afghanistan Netzwerke (Übersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staatendokumentation), Stand Jänner 2018; https://www.easo.europa.eu/information-analysis/country-origin-information/country-reports

- Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31.5.2018;

- Ecoi.net - European Country of Origin Information Network: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen (Methoden; Netzwerke), 15.2.2013;

- Landinfo, Informationszentrum für Herkunftsländer: Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Arbeitsübersetzung durch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Staaten-dokumentation), 23.8.2017; https://landinfo.no/asset/3590/1/3590_1.pdf;

- ACCORD-Anfragebeantwortung vom 1.6.2017 zu Afghanistan: Situtaion von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa [...] [a-10159].

* Einsichtnahme in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente und Berichte.

2. Feststellungen:

2.1. Zur Person und den Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX im Dorf XXXX in der afghanischen Provinz Ghazni geboren. Er ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und wuchs als sunnitischer Moslem auf. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er spricht aber auch Türkisch und Deutsch auf Niveau A2. Der Beschwerdeführer beherrscht diese Sprachen, ausgenommen Türkisch, in Wort und Schrift. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wuchs in seinem Heimatdorf im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester auf. Er besuchte in Afghanistan sechs Jahre die Schule. Der Vater arbeitete in Afghanistan bis zu seinem Ruhestand selbständig als Friseur in einem angemieteten Lokal. Der Beschwerdeführer und sein Bruder übernahmen das Friseurgeschäft des Vaters und führten dieses gemeinsam ungefähr zwei bis drei Jahre lang. Anschließend kaufte der Beschwerdeführer eine Rikscha und arbeitete als Rikscha-Fahrer. Sein Bruder arbeitete als Taxifahrer.

Im Alter von ungefähr 16 Jahren verließ der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat und reiste in den Iran, wo er sich ungefähr eineinhalb Jahre aufhielt. Dort arbeitete der Beschwerdeführer auf einer Baustelle in XXXX . Anschließend reiste der Beschwerdeführer in die Türkei, wo er ebenfalls ca. eineinhalb Jahre in XXXX lebte. In der Türkei arbeitete der Beschwerdeführer bei einem Subunternehmer der Gemeinde.

Die Eltern sowie der Bruder des Beschwerdeführers leben nach wie vor im familieneigenen Haus im Heimatdorf in Ghazni. Seine Schwester lebt mittlerweile in einem Nachbardorf. In Afghanistan leben außerdem eine Tante mütterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits. Der Beschwerdeführer stand in Kontakt mit seiner Kernfamilie. Dieser Kontakt ist jedoch Ende 2018 abgebrochen. Seither hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.

Der Beschwerdeführer ist im Wesentlichen gesund sowie arbeitsfähig und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer hält sich zumindest seit 6.10.2015, als er seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte, durchgehend im Bundesgebiet auf. Er lebt in Österreich von der Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer hat seit seiner Einreise an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen teilgenommen. Im Jahr 2017 legte der Beschwerdeführer zwei Prüfungen zu seinen Deutschkenntnissen auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen ab und erwarb jeweils ein ÖSD-Sprachzertifikat A2. Zuletzt besuchte der Beschwerdeführer einen Deutschkurs auf dem Niveau B1. Am 27.6.2019 trat der Beschwerdeführer zur ÖSD-Integrationsprüfung an, die er jedoch nicht bestand. Der Beschwerdeführer besucht in Österreich keine Schule und geht auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Er arbeitete jedoch ehrenamtlich beim XXXX Roten Kreuz im Rahmen des Schulstartpaketes und verrichtete gemeinnützige Tätigkeiten im Notquartier für Flüchtlinge des XXXX (Reinigungsarbeiten). Weiter beteiligte sich der Beschwerdeführer freiwillig an Projekten der Berufsschule für Gartenbau und Floristik in XXXX , im Zuge dessen er etwa am Bau von Hochbeeten in einem Seniorenheim oder an der Gestaltung eines Nachbarschaftsgartens von Flüchtlingen und behinderten Personen im XXXX mitwirkte. Im November 2019 schloss der Beschwerdeführer einen Arbeitsvorvertrag mit der XXXX , wonach das Arbeitsverhältnis nach Erbringung eines Nachweises des rechtmäßigen Zugangs zum Arbeitsmarkt, jedoch spätestens zum 1.1.2020 beginnt. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In seiner Freizeit hilft der Beschwerdeführer zwei älteren Damen bei der Gartenarbeit, trifft sich mit Freunden oder macht Sport wie etwa Rollschuhfahren und Eislaufen oder Fitness. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer als Kellner bzw. Barkeeper oder als Friseur arbeiten.

Der Beschwerdeführer trat am 8.1.2020 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft aus.

In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

2.2. Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation des Beschwerdeführers

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die Taliban dem Beschwerdeführer vorwarfen, ein Spion der Polizei zu sein, ihn daraufhin festnahmen und vier Tage lang anhielten. Dem Beschwerdeführer drohte insbesondere keine Tötung durch die Taliban. Er schloss daher auch keine Vereinbarung mit den Taliban, wonach er sich verpflichtete, als Gegenleistung für seine Freiheit zukünftig für die Taliban zu spionieren. Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffen bzw. Verfolgung durch die Taliban, etwa aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung ausgesetzt wäre, ist nicht zu erwarten. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer Verfolgung aufgrund einer ihm unterstellten religiösen Gesinnung infolge der von ihm behaupteten "Apostasie" oder aufgrund der Nichteinhaltung religiöser Vorschriften ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer hat keinen inneren Entschluss gefasst bzw. die innere Überzeugung angenommen, sich vom muslimischen Glauben und dem Leben nach den Gepflogenheiten des Islams substantiell zu entfernen und/oder konfessionslos zu werden. Er hat auch keinen inneren Entschluss für die Annahme eines bestimmten Glaubens bzw. eines Bekenntnisses zu einer bestimmten anderen Religion gefasst. Dass der Beschwerdeführer aktiv einer anderen (neuen) religiösen Überzeugung nachgeht bzw. religionsfeindlich oder gar spezifisch gegen den Islam auftritt, konnte nicht festgestellt werden. Ebenso hat der Beschwerdeführer keine innere Einstellung dahingehend angenommen, sich Dritten gegenüber aktiv als vom muslimischen Glauben abgewandt darzustellen. Der Beschwerdeführer übt derzeit keine religiösen Riten, wie Beten oder den Besuch einer Moschee aus. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass er sich in einer für die Außenwelt erkennbaren Weise vom islamischen Glauben losgelöst hat. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund der Tatsache, dass er keine religiösen Riten (Beten, Besuch der Moschee) ausübt, in Afghanistan bei einer Ansiedelung in einer Großstadt keine physische oder psychische Gewalt. Der Beschwerdeführer hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Dem Beschwerdeführer droht daher in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt.

Dass dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland Übergriffe durch Privatpersonen oder staatliche Stellen drohen, kann nicht festgestellt werden.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Ghazni) zählt zu den volatilen, stark vom Konflikt betroffenen Provinzen Afghanistans. Aufständische sind in einigen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen aus. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. Die Sicherheitslage in der Provinz hat sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Ghazni zählt zu den fünf Provinzen mit den größten Auswirkungen des Konflikts auf Zivilisten in Afghanistan. Ende 2018 standen acht Distrikte der Provinz unter der Kontrolle der Taliban, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft. Zwischen Februar und Juni 2019 war Ghazni eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Es kommt regelmäßig zu militärischen Operationen, darunter auch Luftangriffen.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Ghazni droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat gehören zu den friedlichsten Provinzen Afghanistans und sind vom Konflikt relativ wenig betroffen. Insbesondere Balkh gehört zu den stabilsten und ruhigsten Provinzen Afghanistans mit im Vergleich zu anderen Provinzen geringen Aktivitäten von Aufständischen. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch nicht betroffen. Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Aufständische sind in einigen abgelegenen Distrikten aktiv. Die Hauptstadt der Provinz - Herat (Stadt) - ist davon wenig betroffen und gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als sehr sicher. Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Die Provinzen Balkh und Herat waren von einer Dürre betroffen. Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Wasser und medizinische Versorgung sind in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) grundsätzlich gegeben. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat kann nicht festgestellt werden, dass diesem die Gefahr droht, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Im Fall einer Rückführung des Beschwerdeführers nach Herat (Stadt) oder Mazar-e Sharif ist davon auszugehen, dass er sich eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können und im Fall seiner Niederlassung ein Leben ohne unbillige Härten wird führen können, so wie es auch seine Landsleute führen.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat

2.3.1. Staatendokumentation (Stand 13.11.2019, außer wenn anders angegeben):

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

Quellen siehe Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Kap. 2.

Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UN-GASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeit-raum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UN-GASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Ta-liban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommandos sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teil-zeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach des-sen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zur

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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