Entscheidungsdatum
27.03.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W208 2138076-2/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL, Regionaldirektion Niederösterreich (BAT) vom 09.10.2019, Zl. 1075259800-190994008, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. und IV. des angefochtenen Bescheides wie folgt zu lauten haben:
„I. Der Ihnen mit Bescheid vom 29.09.2016, Zahl 1075259800/150740155, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005, von Amts wegen aberkannt.
IV. Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 28 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung“.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach schlepperunterstützter und unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 25.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG) gestellt.
2. Mit Bescheid des BFA vom 29.09.2016 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Abs 1 Ziffer 13 AsylG 2005 (AsylG) abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem BF wurde gemäß § 8 Absatz 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und wurde ihm gemäß § 8 Abs 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.09.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).
In der Begründung dieses Bescheides (Seite 12/AS 128) wurde zur Situation im Fall der Rückkehr das Folgende festgestellt (Hervorhebung durch BVwG):
„Sie leiden an einer fachärztlich diagnostizierten Anpassungsstörung F34.2 und nehmen seit 6 Monaten das ärztlich verschriebene Antidepressivum MIRTAZAPIN. Ein Therapieende ist noch nicht ersichtlich. […]
Es ist glaubhaft, dass Sie Ihren Herkunftsstaat aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage verlassen haben. Eine über die allgemeine Sicherheitslage hinausgehende Gefährdungslage haben Sie nicht glaubhaft gemacht. […]
Im Fall der Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat wären Sie aufgrund Ihrer gesundheitlichen Situation in Verbindung mit der dadurch beeinträchtigten Erwerbsfähigkeit einer existenziellen Notlage ausgesetzt.“
In der rechtlichen Würdigung dieses Bescheides (Seite 38/AS 154) begründete das Bundesasylamt die Zuerkennung von subsidiärem Schutz wie folgt:
„Wird ein Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, so ist dem Asylwerber gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine [...] Abschiebung des fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK [...] bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs 3 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht. [...]
Den aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ist nämlich zu entnehmen, dass nicht auszuschließen ist, dass Sie im Fall einer Rückkehr in eine existenzielle Notlagen geraten würden, das Sie in Österreich seit mehreren Monaten aufgrund psychischer Probleme in medikamentöser Behandlung stehen und den Länderinformationsblättern zu Afghanistan zu entnehmen ist, dass es an Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen in Afghanistan mangelt und insbesondere im Hinblick auf Depressionen und Kriegstraumata keine adäquate Behandlung verfügbar ist. Zudem ist davon auszugehen, dass Ihre psychisch instabile Situation Ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt wesentlich erschweren würde und somit auch die Existenzsicherung wesentlich beeinträchtigt wäre.
Soweit sie vorbrachten, aufgrund der allgemein schlechten Sicherheitslage nicht in ihr Heimatland zurückkehren zu können, ist hingegen auf die Länderfeststellungen zu verweisen, aus denen hervorgeht, dass die Sicherheitslage in Ihrer Heimatprovinz als durchaus stabil eingeschätzt wird und insbesondere in Ihrer Heimatstadt Mazar- e Sharif nicht davon ausgegangen werden muss, dass Sie im Fall der Rückkehr in eine lebensgefährliche Lage alleine im Zusammenhang mit der Sicherheitslage geraten würden.“
3. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde zu Spruchpunkt I. (Abweisung Asyl) wurde vom BVwG mit Erkenntnis vom 11.04.2017, W245 2138076-1/8E rechtskräftig abgewiesen.
Den Feststellungen des BVwG (Seite 3/AS 243) ist zu entnehmen, dass der BF an einer fachärztlich diagnostizierten Anpassungsstörung leide und seit mehreren Monaten ärztlich verschriebene Antidepressiva nehme. Ein Therapieende sei nicht in Sicht. Weiters führte das BVwG aus:
„Der BF stammt nach seinen eigenen Angaben aus der Stadt Masar-e-Sharif, Provinz Balkh, Afghanistan. Die Eltern des BF und sein minderjähriger Bruder lebten bis Jänner 2016 im Stadtteil XXXX in Masar-e-Sharif. Der Vater des BF war als Kraftfahrer tätig, die Mutter als Hausfrau und der Bruder des BF besuchte die Schule. Seit Jänner 2016 ist der Aufenthaltsort der Familie des BF ungewiss. Der BF hat seit Anfang 2016 keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Nicht festgestellt werden kann, ob ein Angriff auf die Familie des BF in Afghanistan erfolgte.
Zwei Onkel väterlicherseits und ihre Familien und zwei Tanten mütterlicherseits sind in Masar-e-Sharif aufhältig. Zwei Onkel mütterlicherseits leben mit ihren Familien auch in der Provinz Balkh, ca. eineinhalb bis drei Autostunden von Masar-e-Sharif entfernt.
Weiters besuchte der BF nach seinen eigenen Angaben ca. zwölf Jahre lang die Schule. Diese konnte er jedoch nicht abschließen. Der BF arbeitete neben seinem Schulbesuch gelegentlich als Verkäufer in einem Kleidungsgeschäft. Nach Beendigung der Schule arbeitete er dort bis zu seiner Ausreise weiter. Die Kunden des Geschäftes waren Staatsbedienstete, u.a. Mitarbeiter der Justiz und der Staatsanwaltschaft. Der BF verließ Afghanistan im April/Mai 2015.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Nach seinen eigenen Angaben ist er in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Er ist kein Mitglied von Vereinen und politischen Parteien und war bisher auch sonst politisch nicht aktiv.
Der BF wurde nach seinen eigenen Angaben in Afghanistan nie persönlich von den Taliban bedroht und hatte er noch nie mit einem Taliban näheren Kontakt.
Das Vorbringen des BF, dass er wegen der Taliban geflüchtet sei, weil diese ihn verdächtigt hätten für die Regierung als Spion zu arbeiten und er daher mit Verfolgungshandlungen asylrelevanter Intensität konfrontiert werde, ist nicht glaubhaft und wird der Beurteilung nicht zu Grunde gelegt. Sonstige Beweggründe für das Verlassen des Heimatstaates konnten nicht festgestellt werden.“
Das BVwG stellte ua fest, dass während der Verhandlung vor dem BVwG am 16.02.2017 keine Beeinträchtigung aufgrund seiner Anpassungsstörung festgestellt habe werden können (Seite 26/AS 289). Das BVwG hielt es auch nicht für glaubhaft, dass der BF über keinen Kontakt zu seinen Eltern mehr verfüge (Seite 29/AS 295).
4. Aufgrund eines vom BF selbst unterfertigten Verlängerungsantrags (vom 27.07.2017) verlängerte das BFA (im Folgenden: belangte Behörde) mit Bescheid vom 01.08.2017 die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG bis zum 29.09.2019.
Begründend wurde lediglich ausgeführt, aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland in Verbindung mit seinem Vorbringen bzw seinem Antrag, könne das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig erachtet werden (AS 348).
5. Am 07.08.2019 stellte der BF neuerlich einen Verlängerungsantrag und leitete das BFA ein Ermittlungsverfahren ein, im Zuge dessen der BF am 30.09.2019 niederschriftlich befragt wurde (AS 367).
Er gab dabei zusammengefasst auf das Wesentliche an, er sei gesund, nehme keine Medikamente ein, stehe in keiner ärztlichen Behandlung und könne arbeiten gehen, nur gelegentlich habe er Kopfschmerzen vom Stress in der Arbeit. Er habe ein Haus gemietet und habe keine privaten Bindungen in Österreich. Zu seiner Familie in der Heimat habe er keinen Kontakt, weil es kein Telefon gebe. Er arbeite als Staplerfahrer.
Er legte einen Führerschein, einen Staplerführerschein, eine Arbeitsbestätigung und diverse sonstige Integrationsunterlagen vor.
Verständigungsprobleme gab es keine und wurde die Niederschrift auch korrekt rückübersetzt.
6. Das BFA leitete am 30.09.2019 aus diesem Grund ein Aberkennungsverfahren ein und teilte dem BF dies mit den Länderfeststellungen dem BF mit (AS 1 – ab hier bezieht sich die Angabe der AS auf den Aberkennungsakt, davor auf das Zuerkennungsverfahren).
Der nunmehr rechtsanwaltlich vertretene BF gab dazu am 07.10.2019 eine Stellungnahme ab (AS 69). Im Wesentlichen wurde angeführt, die persönliche Situation des BF habe sich seit der Zuerkennung nicht wesentlich verändert und die Sicherheits- sowie Versorgungslage sei in ganz Afghanistan äußerst prekär.
7. Mit dem im Spruch genannten Bescheid (AS 83) wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 Asylgesetz 2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt" (Spruchpunkt I.) und der Antrag vom 07.08.2019 auf Verlängerung der befristete Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ferner sprach die belangte Behörde aus, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). und gegen ihn gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt wird, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters legte sie gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
8. Gegen den am 11.10.2019 zugestellten Bescheid wurde am 31.10.2019 beim BFA Beschwerde eingebracht (AS 315). In der Beschwerde wurde im Wesentlichen ausgeführt, der BF würde bei einer Rückkehr aufgrund der schlechten Sicherheits- und Versorgungslage in eine ausweglose Lage geraten. Eine psychische Beeinträchtigung wurde nicht erwähnt. Beigelegt war ein am 01.11.2019 (!) abgeschlossener Mietvertrag des BF für eine 30 m² Wohnung in WIEN in der XXXX GASSE beginnend mit 01.11.2018 (!) auf unbefristete Zeit.
9. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 06.11.2019 vom BFA vorgelegt. Am 11.12.2019 langte ein als „Nervenäztliches Gutachten“ titulierte Schreiben (eine A4-Seite) des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. XXXX aus K XXXX vom 22.11.2019 beim BVwG ein, indem dem BF eine „Major Depression, eine Angststörung mit Panikepisoden“ diagnostiziert wurde (BVwG/ON 2).
10. Mit Ladungen vom 05.02.2019 wurde vom BVwG eine Verhandlung in der Sache anberaumt und der BF darauf hingewiesen, welche aktuellen Länderinformationen in das Verfahren eingebracht und falls nicht bekannt angefordert werden oder Akteneinsicht genommen und eine Stellungnahme abgegeben werden kann.
11. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 12.03.2019 eine öffentliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner ebenfalls darisprechenden Rechtsvertreterin, persönlich teilnahm und ausführlich befragt wurde, sowie Stellung nehmen konnte.
Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt.
Zu Beginn der Verhandlung wurde der BF gefragt, ob er Korrekturen zur NS beim BFA vom 30.09.2019 habe und korrigierte er dabei lediglich die Anzahl seiner Onkel. Er habe vier statt zwei (VHS , 3).
Im Vorfeld der Verhandlung wurde eine ZMR-Abfrage durchgeführt, die ergab, dass der BF an der im Mietvertrag angeführten Adresse XXXX GASSE lediglich von 12.09.2019 bis 25.11.2019 gemeldet war und nunmehr seinen Hauptwohnsitz in der XXXX STRASSE in WIEN hat.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden folgende weitere Unterlagen vorgelegt bzw. eingebracht: eine Überlassungsmitteilung nach § 12 AÜG der XXXX GmbH, wonach er ab 3.3.2020 für 4-6 Wochen der XXXX GmbH 1010 Wien, Himmelpfortgasse 13/4 als Helfer für Sanierungsarbeiten im Kraftwerk XXXX überlassen wird. Der Grundlohn beträgt für eine 38,5 Std. Woche 10,65 € pro Stunde. Er legt weiters vor den Arbeitsvertrag mit der XXXX GmbH vom 28.02.2020, wo ebenfalls ein Bruttogrundlohn von 10,65 € pro Stunde angeführt ist.
Der BF legte auch eine Schachtel MIRTABENE 30mg. Er gab an, er nehme davon jeden Tag eine halbe Tablette ein. Weiters eine Schachtel SERTRALIN GENERICON 50mg. Er nehme davon eine halbe Tablette morgens und eine halbe Tablette abends. MIRTABENE wird nach dem Beipackzettel als Antidepressiva verwendet. SERTRALIN ebenfalls bei Depressionen, soziale Angststörung, PTBS. Beide Medikamente können als Nebenwirkungen Kopfschmerzen verursachen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen
1.1. Zur Person und ihrem Netzwerk
Der BF führt den im Spruch angeführten Namen, wurde am XXXX in der Stadt MAZAR E SHARIF in der Provinz BALKH geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan; weiters Angehöriger der Volksgruppe der Tadschicken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam (VHS II, 3). Seine Muttersprache ist Dari, außerdem versteht er noch Paschtu, Türkisch und Englisch sowie verfügt über Deutschkenntnisse A1. In der Sprachen Dari und Deutsch kann er lesen und schreiben, (VHS II, 6, 7).
Er ist im Juni 2015 illegal in Österreich eingereist und hat davor ca 1 ½ Jahre in MAZER-E SHARIF als Verkäufer in einem Textilgeschäft gearbeitet (AS 369 und VHS II, 7).
Der BF hat folgende Bildung genossen: fast 12 Jahre Grundschule und Gymnasium in MAZER-E SHARIF (VHS II, 7).
Der BF hat folgende Angehörige in Afghanistan: Die Eltern und sein minderjähriger Bruder in MAZER-E SHARIF. Der Vater des BF war als LKW-Fahrer tätig, die Mutter als Hausfrau und der Bruder des BF besuchte bis 2016 die Schule. Zwei Onkel väterlicherseits und ihre Familien und zwei Tanten mütterlicherseits sind ebenfalls in MAZER-E SHARIF aufhältig. Zwei Onkel mütterlicherseits leben mit ihren Familien auch in der Provinz BALKH, ca. eineinhalb Autostunden von MAZER-E SHARIF entfernt (AS 210-211 und VHS II, 9).
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF keine weiteren Angehörigen, Bekannte oder Freunde mehr in MAZER-E SHARIF bzw in BALKH hat.
Er kann nicht festgestellt werden, dass er nicht auf das soziale Netzwerk seines Clans in MAZER-E SHARIF bzw in BALKH zurückgreifen kann. Seine Angaben, dass er mit diesem nicht in Kontakt steht bzw bei Bedarf den Kontakt herstellen kann, sind nicht glaubhaft.
Der BF hat seit Oktober 2019 wieder psychische Probleme, ist aber durch seine Medikamente gut eingestellt, kann arbeiten gehen und tut das auch. Er nimmt Antidepressiva. Er braucht ungefähr alle 2 Monate eine neue Packung (VHS II, 5,6).
Er ist in Afghanistan nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Heimatland.
1.2. Zum Leben des BF in Österreich
1.2.1. Zu Dauer, Qualität und (Un-)Sicherheit des Aufenthaltsstatus
Nach seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet war der BF zunächst ab Juni 2015 als Asylwerber aufhältig und erhielt mit dem Bescheid vom 29.09.2016, den Status eines subsidiär Schutzberechtigten.
Einer gegen den Spruchpunkt I. des ersten Bescheides des BFA vom 29.09.2016 (Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten befristet bis 29.09.2017) erhobenen Beschwerde, gab das BVwG am 11.04.2017 keine Folge, weil es das Fluchtvorbringen des BF (Flucht vor den Taliban, weil diese ihn aufgrund der Verkaufstätigkeit im Geschäft, in dem auch Regierungsbeamte verkehrten, für einen Spion hielten) als nicht glaubhaft beurteilte, ebensowenig konnte festgestellt werden, dass im Jahr 2016 ein Angriff der Taliban auf das Haus der Eltern erfolgte (AS 245).
Die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde einmal am 01.08.2017 bis zum 29.09.2019 verlängert.
Sein neuerlicher Antrag auf Verlängerung der ihm befristet erteilten Aufenthaltsberechtigung wurde mit dem beschwerdegegenständlichen Bescheid abgewiesen.
1.2.1. Zu Selbsterhaltungsfähigkeit, Erwerbstätigkeiten, Ausbildungen etc.
Zu Beginn seines Aufenthalts war der BF aufgrund seines psychischen Zustandes nicht selbsterhaltungsfähig und lebte von der Grundversorgung. Ab 22.05.2007 erhielt er Arbeitslosengeld. Von 05.12.2017-17.04.2018 (Arbeiter in einem Schlosshotel) und von 06.07.2018-22.04.2019 (Arbeiter in einem Restaurant) arbeitete er, danach erhielt er wieder Arbeitslosengeld (04.05.2019-06.05.2019 und 15.06.2019-16.07.2019). Von 07.05.2019-03.06.2019 (Arbeiter), 06.06.2019-14.06.2019 (Arbeiter Bäckerei) und von 17.07.2019 bis laufend arbeitete er wieder und tut dies nach wie vor (AJ-Web Auskunftsverfahren, AS 363 und VHS II,4).
Der BF ist daher trotz seiner psychischen Probleme arbeitsfähig und hat in Österreich Berufserfahrung in einer Bäckerei, bei McDonalds, in einem Tankstellen-Supermarkt und bei Logistikfirmen gesammelt (VHS II, 10). Er hat im Dezember 2018 den Staplerführerschein (VHS II, 10) und im Februar 2019 den Autoführerschein gemacht (AS 373). Er besitzt auch ein Auto im Wert von ca. 3.000,00 Euro.
Aufgrund der nunmehrigen Beschäftigung bezieht er ein Einkommen, welches über der Geringfügigkeitsgrenze liegt (rund € 1.600,--).
Der BF hat während seines Aufenthalts in Österreich Deutschkurse besucht und zuletzt die Deutschprüfung (ÖSD Niveau A1) erfolgreich bestanden.
1.2.2. Zu Wohnverhältnissen und privaten Bindungen in Österreich
Der BF wohnt seit 25.11.2019 gemeinsam mit 3 bzw 4 afghanischen Freunden in einer Mietwohnung in WIEN (VHS II, 6). Er hat keine Ehefrau, Verlobte oder Freundin. In seiner Freizeit macht er Sport und geht einkaufen (VHS II, 10).
1.2.4. Der BF ist im Vergleich zum Zeitpunkt der Erlassung der vorhergehenden Bescheide (aus 2016 und 2017) älter und reicher an Lebens- und Berufserfahrung. Seine psychischen Probleme die erst nach dem Aberkennungsbescheid vom 09.10.2019 wieder aufgetreten sind, die er aber in der Beschwerde nicht erwähnt und erst im November zu einem Arzt gegangen ist, beeinträchtigen seine Arbeitsfähigkeit nicht mehr.
Er hat Berufserfahrungen in der Gastronomie und in der Lagerlogistik als Staplerfahrer gemacht und auch den Führerschein.
Seit er in Österreich ist, hat er Kontakte zu anderen afghanischen Staatsangehörigen geknüpft. Private Bindungen in Österreich hat er sonst nicht, er ist auch kein Mitglied von Vereinen oder besucht Kurse (AS 369, 370).
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in ihr Herkunftsland
Im Fall einer Rückkehr an den Ort seiner Geburt und Herkunft, MAZER-E SHARIF, wäre der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht der ernsthaften Gefahr durch den Eintritt eines ernsthaften Schadens im Sinne entweder der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder einer Behandlung wie Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt, die auf Faktoren beruht, die den afghanischen Behörden direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind (sei es der Art, dass die Behörden Afghanistan ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren würden, oder der Art, dass diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückginge, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen könnten).
Der BF kann sich in MAZAR-E SHARIF – seiner Heimatstadt in der er bis zur Ausreise gelebt hat und wo auch seine Verwandten leben - niederlassen und mittelfristig dort eine Existenz aufbauen.
Er kann MAZER-E SHARIF bzw in BALKH auch - in einer relativ sicheren Weise – auf dem Luftweg erreichen.
Es besteht dort für ihn keine reale (über die bloße Möglichkeit hinausgehende) Gefahr einer Tötung (einschließlich der Verhängung und/oder Vollstreckung der Todesstrafe) durch den Staat oder tödlicher Übergriffe durch Dritte.
Eine mit der Rückkehr in den Herkunftsstaat verbundene reale (über die bloße Möglichkeit hinausgehende) Gefahr, der Folter ausgesetzt zu sein oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe durch einen konkreten Akteur unterworfen zu sein, besteht dort nicht, insbesondere nicht im Hinblick auf eine drohende Kettenabschiebung, im Hinblick auf eine drohende Todesstrafe; weiters auch nicht im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand in Verbindung mit einer Unzulänglichkeit der medizinischen Bedingungen im Herkunftsstaat, im Hinblick auf die dortigen allgemeinen humanitären Bedingungen und Versorgungslage, in Verbindung mit seiner persönlichen Lage (etwa im Sinne einer existenzgefährdenden Notlage oder des Entzugs der notdürftigsten Lebensgrundlagen) oder im Hinblick auf psychische Faktoren, auf Haftbedingungen oder aus anderen Gründen.
Eine solche mit der Rückkehr in den Herkunftsstaat verbundene Gefahr besteht in MAZER-E SHARIF auch nicht im Hinblick auf eine etwaige ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
Das BVwG trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
1.4.1. Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:
Das LIB der Staatendokumentation führt zur SICHERHEITSLAGE im Punkt 3 im Wesentlichen aus:
„Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen derafghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
[…]
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
[…]
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
[…]
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zur Heimatprovinz des BF wird im LIB ausgeführt:
„3.3. BALKH
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.04.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019 – 20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.01.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. (TD 05.012.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.03.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 09.01.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 01.09.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 06.05.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.03.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban, die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.08.2019). Einem UN-Bericht zufolge gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 01.02.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.02.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.04.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command – North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.09.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[...]
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz (UNAMA 24.02.2019). Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten sechs Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden (UNAMA 30.07.2019).
Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.02.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.06.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.09.2019; vgl KP 29.08.2019, KP 31.08.2019, KP 09.09.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.01.2019; vgl. KP 09.09.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 09.01.2019; vgl. TN 10.01.2019), Chemtal (TN 11.09.2018; vgl. TN 06.07.2018), Dawlatabad (PAJ 03.09.2018; vgl. RFE/RL 04.09.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.04.2019) an.
Berichten zufolge errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.08.2019; vgl. 10.08.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.08.2019).
IDPs – Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 01.01. – 31.12.2018 1.218 aus der Provinz Balkh vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. – 30.06.2019 meldete UNOCHA 4.361 konfliktbedingt Vertriebene aus Balkh, die allesamt in der Provinz selbst verblieben (UNOCHA 18.08.2019). Im Zeitraum 01.01. – 31.12.2018 meldete UNOCHA 15.313 Vertriebene in die Provinz Balkh, darunter 1.218 aus der Provinz selbst, 10.749 aus Faryab und 1.610 aus Sar-e-Pul (UNOCHA 28.01.2019). Im Zeitraum 01.01. – 30.06.2019 meldete UNOCHA 14.301 Vertriebene nach Mazar-e-Sharif und Nahri Shahi, die aus der Provinz Faryab, sowie aus Balkh, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (UNOCHA 18.08.2019).
[…]“
Im Punkt 3.35. des LIB ist zur Erreichbarkeit der genannten Provinzen zusammengefasst angeführt, dass die Infrastruktur ein kritischer Faktor für Afghanistan bleibt, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und –optimierungen. Seit dem Fall der Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk zählen zu den Projekten, die systematisch geplant und umgesetzt werden. Unter anderem in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif befinden sich internationale Flughäfen. Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans, sowie Gemeinschaftstaxis.
Im Rechts- und Justizwesen (detailliert ausgeführt in Punkt 4 des LIB) gibt es zwar Gesetze, es gilt allerdings der Vorrang der Scharia (islamisches Recht) und daneben existieren lokale Gepflogenheiten. Das Justizwesen wird von Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquater Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert. Letzteres gilt auch für die Sicherheitskräfte (Punkt 5 des LIB). Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2018 von Transparency International, belegt Afghanistan von 180 Ländern den 172. Platz, was eine Verbesserung um fünf Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI 29.1.2019; vgl. TI 21.2.2018). Einer Umfrage aus dem Jahr 2018 zufolge betrachten 81,5% der befragten 15.000 Afghaninnen und Afghanen die Korruption als ein Hauptproblem des Landes, was eine leichte Verbesserung im Vergleich zur Umfrage ein Jahr zuvor darstellt (83,7%) (AF 4.12.2018) (Punkt 7.)
„10.1. REKRUTIERUNG DURCH REGIERUNGSFEINDLICHE GRUPPIERUNGEN
UNAMA dokumentierte glaubwürdige Vorwürfe über die Rekrutierung von 23 Buben durch regierungsfeindliche Gruppen (darunter pakistanische Taliban, afghanische Taliban und IS) im ersten Halbjahr 2018. In einzelnen Fällen wurden Kinder insbesondere in den südlichen Provinzen als Selbstmordattentäter, menschliche Schutzschilde oder Bombenleger eingesetzt (USDOS 13.3.2019) Obwohl die Taliban eine interne Richtlinie haben, keine Kinder zu rekrutieren, gibt es Hinweise auf Kinderrekrutierungen, insbesondere postpubertärer Buben (EASO 6.2018). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 13.3.2019; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zum Training nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018).
Taliban
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017). Die Taliban haben keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018).
Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junge, desillusionierte Männer, deren Motive der Wunsch nach Rache und Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Sie fühlen sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glauben nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schließen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven sind die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.6.2017).
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats. Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook haben sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt, sie dienen auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien können die Taliban mit Sympathisanten und potentiellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations-und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke (LI 29.6.2017).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vgl. EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.8.2019).
Quellen haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen. Die Gruppe der Stammesältesten ist gezielten Tötungen ausgesetzt. Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind (LI 27.6.2017). Eine Quelle verweist hier auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfern verweigert haben. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet, meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen. Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Die erweiterte Familie kann einer Quelle zufolge allerdings auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen. Es ist bekannt, dass – wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen – die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (LI 29.6.2017).“
Es kommt auch zu bedeutenden Menschenrechtsverletzungen, obwohl die Menschenrechte eine klare rechtliche Grundlage haben. Dazu zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwinden lassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen „moralischer Straftaten“) und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen. Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (vgl. zur Menschenrechtslage Punkt 11 des LIB).
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem stellen beide Praktiken ernsthafte Probleme dar. Häufig werden Personen in Haft genommen, ohne die rechtlichen Prozeduren zu beachten, obwohl das Delikt nicht im Strafgesetz definiert ist oder ohne dass die Behörde eine entsprechende Befugnis hätte (USDOS 13.3.2019). In staatlichen Gefängnissen werden Verdächtige oft lange über die gesetzliche Frist von 72 Stunden hinaus festgehalten, ohne einem Staatsanwalt oder Richter vorgeführt zu werden. Inhaftierte erhalten trotz gesetzlicher Regelung nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Das im Februar 2018 in Kraft getretene Strafgesetz führte für Erwachsene Alternativen zur Haft ein. Gerichte setzen das neue Gesetz normalerweise um, bei Justizmitarbeitern und in der Öffentlichkeit ist Wissen über die neuen Gesetze jedoch nicht weit verbreitet (USDOS 13.3.2019) (Punkt 14. LIB).
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln. Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für “moralische” Vergehen inhaftiert werden. Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt. Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (Punkt 13 LIB).
Gem. Punkt 15 LIB droht die Todesstrafe nicht nur bei Delikten wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw., sondern auch unter dem Einfluss der Scharia bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch).
Punkt 16 des LIB hält zur Religion in Afghanistan das Folgende fest:
„16. Religionsfreiheit
„Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 2.9.2019; vgl. CIA 30.4.2019, USDOS 21.6.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019).
Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.6.2019; vgl. FH 4.2.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USODS 21.6.2019; vgl. AA 9.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.6.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.5.2018).
Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.6.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.6.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.6.2019).
[...]“
„17.2. Tadschiken
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.b; vgl. RFERL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.b).
Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.b). Aus historischer Perspektive identifizierten sich dari-persisch sprechende Personen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa durch das Siedlungsgebiet oder der Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel k?boli (aus Kabul), her?ti (aus Herat), maz?ri (aus Mazar-e Scharif), panjsh?ri (aus Panjsher) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name t?jik (Tadschike) bezeichnete ursprünglich traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (BFA 7.2016; vgl. GIZ 4.2019, MRG o.D.b). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (BFA 7.2016).
Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominierendste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.b). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).“
Lt. Punkt 19 des LIB garantiert das Gesetz interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung schränkt die Bewegung der Bürger/innen gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein [Anm.: siehe dazu auch Artikel 39 der afghanischen Verfassung] In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. Gesellschaftliche Sitten schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein. Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten” oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Dennoch gibt es Mittel und Wege, um Familienmitglieder ausfindig zu machen. Das Dorf, aus dem jemand stammt, ist der naheliegende Ort, um eine Suche zu starten. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien in dem Gebiet und die Ältesten haben einen guten Überblick (BFA/EASO 1.2018; vgl. EASO 2.2018).
Die Mobiltelefonie ist weit verbreitet, Internet und soziale Medien vor allem in den städtischen Zentren verfügbar (LIB, Punkt 12).
Zur VERSORGUNGSLAGE wird in Punkt 21 und 22 des LIB ausgeführt
„21. Grundversorgung und Wirtschaft
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 2.9.2019; AF 2018). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 2.9.2019).
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar (WB o.D.). Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert (WB 7.2019).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht (WB 7.2019).
Arbeitsmarkt
Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt (ILO 2.4.2018). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (BFA 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000) (BFA 4.2018; vgl. CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes