Entscheidungsdatum
08.04.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W136 2201487-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Brigitte HABERMAYER-BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.06.2018, Zl. 1098759100-151976742, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.01.2020, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 11.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sein Onkel väterlicherseits seinen Vater aufgrund eines Grundstücksstreits umgebracht habe. Als alleiniger Erbe habe der Onkel es jetzt auf ihn abgesehen und möchte ihn umbringen. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen teilte er mit, dass sein Onkel ihn umbringen würde.
Am 20.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Pashtu niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er zunächst vor, dass seine Onkel väterlicherseits den Vater sechs Monate vor seiner Ausreise erschossen hätten. Er habe das Grundstück seines Vaters geerbt. Um die Grundstücke würden sich nun sein Onkel mütterlicherseits kümmern. Er wisse aber nicht, ob sie bewirtschaftet werden. Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass es Streitigkeiten wegen des väterlichen Grundstücks gegeben habe. Ein Onkel väterlicherseits habe seinen Vater aufgefordert, ihm sein Grundstück zu überlassen, damit er seine Spielschulden zurückzahlen kann. Sein Vater habe aber weder das Grundstück noch Geld hergeben wollen. Deshalb habe der Onkel seinen Vater erschossen. Nach dem Tod seines Vaters seien sie zum Onkel mütterlicherseits gezogen. Nach sechs Monaten sei sein (ältester) Onkel mütterlicherseits von seinem Onkel väterlicherseits bedroht und aufgefordert worden, ihm den Beschwerdeführer zu übergeben, da ansonsten Probleme entstehen würden. Der Onkel mütterlicherseits habe daraufhin zugesagt, den Beschwerdeführer zu übergeben. Er habe vom Plan seiner Onkel mütterlicherseits nichts gewusst. Sie hätten für ihn alles organisiert und ihm nachts einen Fingerabdruck abgenommen. In der Früh hätten sie ihn dann weggeschickt und er sei ausgereist. Nachgefragt, erklärte er, dass er seinen Onkeln mütterlicherseits durch den Fingerabdruck das vom Vater geerbte Grundstück überlassen habe. Befragt, nannte er den Namen seines Onkel väterlicherseits, dem er wegen der Feindschaft übergeben werden hätte sollen. Dieser hätte das Grundstück an sich genommen und den Beschwerdeführer getötet. Der Onkel habe nämlich Angst gehabt, dass der Beschwerdeführer für den Tod seines Vaters Rache nehmen würde. Während seines sechsmonatigen Aufenthalts bei seinem Onkel mütterlicherseits sei es zu keinen Bedrohungen gegenüber seinen Familienmitgliedern gekommen. Auf Hinweis, dass der Onkel väterlicherseits nicht sechs Monate gewartet hätte, wenn es ihm ernst gewesen wäre, erwiderte er, dass er nicht wissen würde, warum der Onkel das [Anm: seine Auslieferung verlangt] nicht früher gemacht habe. Die Onkel väterlicherseits hätten ihm nie etwas gesagt, sondern immer nur über die Onkel mütterlicherseits Kontakt aufgenommen. Er sei auch nie von sonstigen Personen in Afghanistan persönlich bedroht oder belangt worden. Bezüglich einer allfälligen innerstaatlichen Fluchtalternative teilte er mit, dass er nicht wissen würde, warum seine Onkel ihn weggeschickt hätten. Es sei dort aber sein Leben in Gefahr gewesen. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab er an, dass Kabul zerstört sei und dass es dort Anschläge geben würde. Bewohner von Kabul seien geflüchtet und hierhergekommen. Auf die Frage seines Vertreters, ob ihm das Grundstück nach der Abnahme seines Fingerabdrucks noch gehören würde, bestätigte der Beschwerdeführer die Abnahme und gab an, dass es jetzt ihre Sache sei, was sie mit dem Grundstück machen. Das wisse er nicht.
Mit Schreiben vom 04.04.2018 wurde seitens des Rechtsvertreters eine Stellungnahme für den Beschwerdeführer abgegeben. Darin wurde nach einer Zusammenfassung des Sachverhalts zusammenfassend im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer als alleiniger Erbe des Grundstückes immer mehr ins Visier des Mörders seines Vaters geraten sei. Dieser habe unbedingt an das Erbe gelangen wollen. Vor der Ausreise habe sich der Onkel mütterlicherseits noch das Erbe übereignen lassen, als Ausgleich dafür, dass der Verwandte sich um die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers kümmert. Der Beschwerdeführer würde in Afghanistan daher über kein soziales Netzwerk mehr verfügen. Anschließend wurden umfangreiche Ausführungen zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers getätigt und wurde festgestellt, dass mangels adäquaten Gutachtens zur Altersfeststellung weiterhin vom ursprünglich angegebenen Geburtsdatum auszugehen sei. Allein aufgrund eines Handwurzelröntgens sei die Feststellung eines bestimmten Alters nämlich nicht möglich. Weiters wurden zahlreiche Berichte internationaler Organisationen angeführt, welche deutlich machen würden, dass es zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan gekommen sei. Insbesondere die Heimatprovinz des Beschwerdeführers würde zu den unsichersten Provinzen Afghanistans zählen. Schließlich sei im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass der Mörder des Vaters nach seinen eigenen Rechtsanschauungen nunmehr mit Blutrache zu rechnen habe, für die der Beschwerdeführer als ältester Sohn zuständig sei und inzwischen auch das entsprechende Alter erreicht habe.
Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.06.2018, durch Hinterlegung zugestellt am 28.06.2018, wurde der gegenständliche Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf umfassende herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan, stellte die Identität des Beschwerdeführers nicht fest und begründete im angefochtenen Bescheid die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Tod des Vaters vom Beschwerdeführer nicht glaubhaft sei, da er diesen Umstand absolut widersprüchlich dargestellt habe. So habe er bezüglich des Täters zunächst von mehreren Onkeln, später von einem Onkel gesprochen. Auch zum Tatzeitpunkt habe er keine näheren Angaben machen, nicht einmal die Jahreszeit nennen können. Weiters habe er zu den genaueren Umständen der Ermordung vorerst gemeint, nur von anderen Leuten davon erfahren zu haben. Im weiteren Verlauf der Einvernahme habe er dann allerdings behauptet, dass der Vater direkt vor der Haustür des Elternhauses erschossen worden sei. Trotzdem sei er nicht in der Lage gewesen, eine genaue Beschreibung der Abläufe zu schildern. Auch die Tatsache, dass er als ältester Sohn nicht bei der Beerdigung gewesen sei und nicht einmal wissen würde, auf welchem Friedhof sein Vater begraben worden sei, würde darauf schließen lassen, dass er der Behörde in Bezug auf die Ermordung seines Vaters ein Konstrukt präsentiert habe. Überdies seien zwischen der angeblichen Ermordung seines Vaters und seiner Ausreise mehr als sechs Monate vergangen und sei es während dieser Zeit zu keinerlei Übergriffen seitens der Familie väterlicherseits gekommen. Ebenso würde es nicht glaubhaft erscheinen, dass - wenn tatsächlich ein Interesse der Familie väterlicherseits an ihm bestanden haben soll - die Familie väterlicherseits ihm gegenüber nie auch nur ansatzweise Drohungen - welcher Art auch immer - ausgesprochen habe. Außerdem habe er vor seiner Ausreise die Grundstücksrechte an seine Verwandten mütterlicherseits abgetreten. Davon abgesehen sei er männlich, jung, gesund, arbeitsfähig, würde die beiden afghanischen Amtssprachen beherrschen und über Arbeitserfahrung verfügen bzw. durch seinen dreijährigen Schulbesuch lesen und schreiben können. Er habe vor seiner Ausreise über eine gesicherte Unterkunft in seinem Heimatdorf verfügt, wo seine engsten Familienangehörigen, zu welchen er im regelmäßigen Kontakt stehen würde, nach wie vor noch leben würden. Außerdem würde er aus einem Kulturkreis stammen, in dem das soziale und familiäre Netzwerk und das sich daraus ableitende Solidarsystem nach wie vor stark ausgeprägt sei, sodass ihm Unterstützungsmöglichkeiten durch seine Familienangehörigen zur Verfügung stehen würden. Schließlich sei er schon als Fünfzehnjähriger in der Lage gewesen, völlig auf sich alleine gestellt, mehrere Monate in verschiedensten Ländern zu leben, sich während dieser Zeit die Existenz zu sichern und auch die Reisebewegung bis nach Österreich zu organisieren, was ein hohes Maß an Anpassungs- und Selbsterhaltungsfähigkeit unter Beweis stellen würde.
Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 22.06.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
Gegen den oben genannten Bescheid wurde fristgerecht eine Beschwerde erhoben, welche am 18.07.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte. In dieser wurde im Zuge einer Wiederholung des Sachverhalts bzw. seines bisherigen Fluchtvorbringens im Wesentlichen ausgeführt, dass die Behörde es zur Gänze unterlassen habe, sich mit der Schutzfähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden und der Praxis der Blutrache auseinanderzusetzen bzw. Informationen zu Landrechtsstreitigkeiten zwischen Familienangehörigen einzuholen. Weiters seien auch die verwendeten Länderberichte nicht geeignet, das Vorbringen des Beschwerdeführers abschließend beurteilen zu können. Anschließend wurden zahlreiche Berichte internationaler Organisationen zur Blutrache und zur mangelnden Schutzfähigkeit der afghanischen Behörden bzw. zur Situation von Rückkehrern aus Europa auszugsweise angeführt. Der Beschwerdeführer würde zwar noch über Familienangehörige in seiner Heimat verfügen, die ihn jedoch nicht unterstützen könnten. Ebenso könnte nicht von einer ausreichenden Unterstützung durch UNHCR und IOM ausgegangen werden. Er könnte auch nicht auf eine interne Fluchtalternative in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zurückgreifen, da die dortige Sicherheits- und Versorgungslage unzureichend und die Fluchtalternative daher unzumutbar sei. Darüber hinaus habe sich die Sicherheitslage nach einem Gutachten von Dr. Rasuly vom 29.01.2018 und einem aktuellen Bericht des Pentagon erheblich verschlechtert. Insofern die Behörde die Ermordung seines Vaters für nicht glaubwürdig hält, weil der Beschwerdeführer bei der Anzahl der Täter zwischen Plural und Singular gewechselt habe, habe er ohnehin ausgeführt, dass er die Tat nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Es sei ihm vielmehr berichtet worden, dass XXXX der Haupttäter gewesen sei. Da seine beiden Onkel väterlicherseits in einem gemeinsamen Haushalt leben würden, würde zwischen ihnen eine starke familiäre Verbundenheit und ein entsprechender Zusammenhalt bestehen, sodass von einem gemeinsamen Risiko gesprochen werden müsste. Außerdem sei nach einem Bericht von UNHCR aus 2013 bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers das Bildungsniveau zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer habe lediglich eine dreijährige Schulbildung erhalten und sich bemüht, die Ereignisse in eine für die Behörde nachvollziehbare Abfolge zu bringen. Daten hätten für ihn nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Der Mangel an einwandfreien Zeitangaben würde für die Behörde keine zulässige Grundlage darlegen, dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Er sei im Zeitpunkt der Einvernahme 17 Jahre und im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse erst 15 Jahre alt gewesen. Sein Alter und sein Entwicklungsstand wären im Rahmen der Beweiswürdigung jedenfalls zu berücksichtigen gewesen. Davon abgesehen sei es in Afghanistan nach islamischen Recht bzw. islamischer Sitte nicht üblich, dass Frauen und Kinder Beerdigungen beiwohnen. Hinsichtlich des sechsmonatigen Zeitraums ohne Übergriff würde die Behörde verkennen, dass mit zunehmendem Alter des Beschwerdeführers auch die Gefahr eines potentiellen Vergeltungsaktes gegenüber dem Mörder seines Vaters wachsen würde. Er sei nach dem paschtunischen Gewohnheitsrecht nämlich verpflichtet die ungerechtfertigte Tötung seines Vaters zu rächen. Um dieser Gefahr vorzubeugen würde es im erheblichen Interesse des Mörders liegen, die für ihn zukünftige Gefahr a priori zu eliminieren. Dies habe der Beschwerdeführer in der Einvernahme auch angegeben. Bezüglich der durch die Behörde in Frage gestellten Innehabung von Grundstücksrechten durch einen Minderjährigen hätte sie bei Nachfrage in Erfahrung bringen können, dass das Eigentum und die damit einhergehenden Grundstücksrechte durch den damals noch minderjährigen Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter, in ihrer Funktion als gesetzliche Vertretung, übertragen worden seien. Es sei daher zweifelsfrei davon auszugehen, dass die Veräußerung des Eigentums den bereits bestehenden Konflikt genährt habe und dass damit zusätzlich an der Spirale der Gewalt gedreht worden sei. Eine vom Bundesamt angenommene Streitbeilegung sei lediglich reine Spekulation. Es sei daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Heimatland der erheblichen Gefahr ausgesetzt wäre, von den verfeindeten Familienmitgliedern, insbesondere von seinem Onkel, getötet zu werden. Hinsichtlich der Asylrelevanz der drohenden Blutrache, der nichtvorhandenen internen Fluchtalternative in Afghanistan und der Schutzunfähigkeit des afghanischen Staates wurden mehrere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes auszugsweise angeführt. Unabhängig davon wäre dem Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren, da neben der schlechten Sicherheitslage die Aufnahmeressourcen der Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif erschöpft seien und der Beschwerdeführer infolge besonderer Vulnerabilitäten (Keine Berufsausbildung, Diskriminierung nach längerem Auslandsaufenthalt, lediglich dreijährige Schulbildung, wehrfähiges Alter und vermuteter Verstoß gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte) keinen Zugang zu grundlegender Infrastruktur wie Wohnraum, Erwerbsmöglichkeiten oder medizinischer Versorgung hätte. Abschließend wurden noch seine Integrationsbemühungen angeführt und wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 23.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
Mit Schreiben vom 26.11.2019 wurden der Beschwerdeführer und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 08.01.2020 geladen.
Am 08.01.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu mit der beschwerdeführenden Partei und deren Vertretung eine mündliche Verhandlung durch, bei der die beschwerdeführende Partei im Detail zu ihren Fluchtgründen befragt wurde.
Mit Schreiben vom 08.01.2020 wurde im Zuge der mündlichen Verhandlung eine Stellungnahme zu den im Vorfeld dazu übermittelten landeskundlichen Feststellungen abgegeben, welche zahlreiche Berichte internationaler Organisationen zur Sicherheit in Afghanistan bzw. in ausgewählten Provinzen enthält.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grundlage des Antrages auf internationalen Schutz vom 11.12.2015, der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 08.01.2020, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt Sorkhrod, der Provinz Nangarhar. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht aber auch Dari und Deutsch. Er kann nur in Deutsch etwas lesen und schreiben.
Er ist ledig, kinderlos, arbeitsfähig und leidet an keinen schweren bzw. lebensbedrohlichen Erkrankungen. In seiner Heimat leben zumindest noch seine Schwester, drei Onkel mütterlicherseits, zwei Onkel väterlicherseits und mehrere Tanten mütter- und väterlicherseits mit ihren Familien. Auch wenn aktuell kein regelmäßiger und intensiver Kontakt mit den genannten Personen besteht bzw. dieser zwischenzeitig abgebrochen ist, ist es nicht völlig auszuschließen, dass er im Rahmen seiner Rückkehr zu seinen Verwandten wieder Kontakt erhalten und schließlich - entsprechend der afghanischen Tradition - Unterstützung finden wird. Es ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb ihn seine Verwandten nicht auch in einer der anonymen Großstädte Afghanistans zumindest vorübergehend unterstützen sollten.
Es ist - aufgrund der Erfahrungen aus zahlreichen Einvernahmen von afghanischen Staatsbürgern - eine gerichtsnotorische Tatsache, dass afghanische Familien wegen der schwachen staatlichen Sozialstrukturen in der Regel mehrere Kinder haben und enge Beziehungen zu ihrer erweiterten Großfamilie pflegen auf deren Netzwerk sie auch angewiesen sind.
Der Beschwerdeführer kann auf das soziale Netzwerk seiner Familie vor Ort und auf die Unterstützung der Großfamilie (Onkel/Tanten und deren Nachkommen in der Heimatprovinz) bzw. seiner Freunde zurückgreifen, die ihn aufgrund der modernen Kommunikationsmittel und des Bankwesens finanziell und mit ihren Kontakten auch aus der Ferne unterstützen können.
In Österreich hat der Beschwerdeführer keine verwandtschaftlichen oder sozialen Anknüpfungspunkte. Er ist nicht berufstätig, lebt von der Grundversorgung, verfügt über ausreichende Deutschkenntnisse und sein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus sportlichen Bekanntschaften und Personen mit Migrationshintergrund.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan Verfolgung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf Grund seiner ethnischen, religiösen, staatsbürgerlichen oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bzw. wegen seiner politischen Gesinnung durch den afghanischen Staat bzw. durch den jeweiligen Machthaber oder durch private Verfolger (insbesondere durch seinen bzw. seine beiden Onkel väterlicherseits) im Herkunftsgebiet droht.
Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat würde er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29. Juni 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 13.11.2019, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, wird auszugsweise wie folgt angeführt:
Allgemeine Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil. Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen.
Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen.
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF; diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu.
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen. Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder.
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben. Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten.
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant.
Balkh
Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt. Die Hauptstadt Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana (Provinzhauptstadt Faryab) und Pul-e-Khumri (Provinzhauptstadt Baghlan); sie ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen.
Im Juni 2017 wurde ein großes nationales Projekt ins Leben gerufen, welches darauf abzielt, die Armut und Arbeitslosigkeit in der Provinz Balkh zu reduzieren. Nach monatelangen Diskussionen hat Ende März 2018 der ehemalige Gouverneur der Provinz Balkh Atta Noor seinen Rücktritt akzeptiert und so ein Patt mit dem Präsidenten Ghani beendet. Er ernannte den Parlamentsabgeordneten Mohammad IshaqRahgozar als seinen Nachfolger zum Provinzgouverneur. Der neue Gouverneur versprach, die Korruption zu bekämpfen und die Sicherheit im Norden des Landes zu garantieren.
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte.
Im Zeitraum 11. Jänner 2017 bis 30. April 2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.
Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führen regelmäßig militärische Operationen durch, um regierungsfeindliche Aufständische zu verdrängen und sie davon abzuhalten, Fuß im Norden des Landes zu fassen. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben. Sowohl Aufständische der Taliban als auch Sympathisanten des IS versuchen in abgelegenen Distrikten der Provinz Fuß zu fassen. Im Zeitraum 1. Jänner 2017 bis 15. Juli 2017 wurden keine IS-bezogenen Vorfälle in der Provinz registriert. Im Zeitraum 16. Juli 2017 bis 31. Jänner 2018 wurden dennoch vom IS verursachten Vorfälle entlang der Grenze von Balkh zu Sar-e Pul registriert.
Nangarhar
Die Provinz Nangarhar liegt im Osten von Afghanistan. Im Norden grenzt sie an die Provinzen Kunar und Laghman. im Westen an die Hauptstadt Kabul und die Provinz Logar und an den Gebirgszug Spinghar im Süden (Pajhwoko.D.g). Die Provinzhauptstadt Jalalabad ist 120 Kilometer von Kabul entfernt (Xinhua 10.2.2017). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.573.973 geschätzt (CSO 4.2017).
Die Provinz Nangarhar besteht. neben der Hauptstadt Jalalabadaus folgenden Distrikten: GhaniKhil/Shinwar. Sherzad. Rodat. Kama. Surkhrod. Khogyani. Hisarak/Hesarak. Pachiragam/PachirWaAgam. DehBala/DehBalah/Haska Mina. Acheen/Achin. Nazyan. Mohmand Dara/Muhmand Dara. Batikot. Kot. Goshta. Behsood/Behsud. Kuz Kunar/Kuzkunar. Dara-e Noor/Dara-e-Nur. Lalpora/Lalpur. Dur Baba/Durbaba und Chaparhar (UN OCHA 4.2014; vgl. EASO 12.2017).
Nangarhar zählte 2017 zu den Provinzen mit der höchsten Opium-Produktion (UNODC 11.2017).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
In den letzten Jahren hat sich die Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar verschlechtert (Khaama Press 2.1.2018; vgl Reuters 14.5.2018); Nangahar war seit dem Sturz des TalibanRegimes eine der relativ ruhigen Provinzen im Osten Afghanistans, jedoch versuchen bewaffnete Aufständische in den letzten Jahren ihre Aktivitäten in der Provinz auszuweiten (Khaama Press 11.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018, GT 22.1.2018). Begründet wird das damit, dass seit dem Fall des Talibanregimes von weniger Vorfällen berichtet worden war (Khaama Press 28.1.2018). In den letzten Jahren versuchen Aufständische der Taliban und des IS in abgelegenen Distrikten Fuß zu fassen (Khaama Press 11.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018, Khaama Press 3.2.2018, Khaama Press 5.10.2017, GT 22.1.2018, SD 22.2.2018). Befreiungsoperationen, in denen auch Luftangriffe gegen den IS getätigt werden, werden in den unruhigen Distrikten der Provinz durchgeführt (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 14.1.2018a). Angriffe auch auf lokale Beamte und Sicherheitskräfte in der Provinz werden regelmäßig von Aufständischen der Taliban und dem IS durchgeführt (RFERL 12.3.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 795 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
Nangarhar war die Provinz mit den meisten im Jahr 2017 registrierten Anschlägen (Pajhwok 14.1.2018).
Im gesamten Jahr 2017 wurden in Nangarhar 862 zivile Opfer (344 getötete Zivilisten und 518 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 1% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen in Nangarhar
In der Provinz werden regelmäßig militärische Operationen ausgeführt (VoA 11.1.2018), um gewisse Distrikte von Aufständischen zu befreien (Khaama Press 4.3.2018; vgl. Khaama Press 3.2.2018, Khaama Press 14.1.2018, Khaama 7.1.2018, Khaama Press 13.5.2017). Ebenso werden Luftangriffe durchgeführt (ABNA 16.3.2018; vgl. Khaama Press 11.3.2018, GT 22.1.2018, Khaama Press 1.3.2018, Khaama Press 14.1.2018a, Khaama Press 2.1.2018); in manchen Fällen wurden Aufständische getötet (Tolonews 26.5.2018; vgl. Khaama Press 11.3.2018, SD 22.2.2018, Khaama Press 1.3.2018, Khaama Press 2.3.2018, Khaama Press 7.1.2018, Khaama Press 13.5.2017); darunter auch IS-Kämpfer (Tolonews 31.5.2018; vgl. ABNA 16.3.2018, GT 22.1.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Nangarhar
Anhänger der Taliban, als auch des IS haben eine Präsenz in gewissen Distrikten der Provinz (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018); zu diesen werden mehrere südliche Distrikte gezählt (VoA 11.1.2018). Nachdem die Grausamkeit des IS ihren Höhepunkt erreicht hat, sind die Taliban in Nangarhar beliebter geworden und haben an Einfluss gewonnen. Auch ist es dem IS nicht mehr so einfach möglich, Menschen zu rekrutieren (AN 6.3.2018).
Obwohl militärische Operationen durchgeführt werden, um Aktivitäten der Aufständischen zu unterbinden, sind die Taliban in einigen Distrikten der Provinz aktiv (Khaama Press 12.1.2018). In Nangarhar kämpfen die Taliban gegen den IS, um die Kontrolle über natürliche Minen und Territorium zu gewinnen; insbesondere in der Tora Bora Region, die dazu dient, Waren von und nach Pakistan zu schmuggeln (AN 6.3.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und IS fanden statt, dabei ging es um Kontrolle von Territorium (UNGASC 27.2.2018). In einem Falle haben aufständische Taliban ihren ehemaligen Kommandanten getötet, da ihm Verbindungen zum IS nachgesagt wurden (Khaama Press 20.1.2018).
Seit dem Jahr 2014 tauchen immer mehr Berichte zu einem Anstieg von Aktivitäten des IS in manchen abgelegenen Teilen der Provinz - dazu zählt auch der Distrikt Achin (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 14.1.2018, Khaama Press 20.1.2018). Der IS zeigte weiterhin große Widerstandsfähigkeit, wenngleich die afghanischen und internationalen Kräfte gemeinsame Operationen durchführten. Die Gruppierung führte mehrere Angriffe gegen die zivile Bevölkerung und militärische Ziele aus - insbesondere in Kabul und Nangarhar (UNGASC 27.2.2018).
Eine Anzahl Aufständischer der Taliban und des IS haben sich in der Provinz Nangarhar dem Friedensprozess angeschlossen (Khaama Press 5.10.2017; vgl. Khaama Press10.1.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Nangharhar IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen Zivilisten, Auseinandersetzungen mit den Streitkräften und Gewalt) gemeldet (ACLED 23.2.2018).
Paschtunen
Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; die meisten ihrer Regierungsvertreter sprechen auch Dari (CSR 12.1.2015). Die Pashtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze (USDOS 20.4.2018). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 25.5.2017).
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (BFA Staatendokumentation 7.2016).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (BFA Staatendokumentation 7.2016).
Taliban
Die Taliban führten auch ihre Offensive "Mansouri" weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" laut US-Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF- Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017).
Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Aufgrund der Komplexität der in Selbstmord- und komplexen Anschlägen involvierten Akteure hat die UNAMA oft Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zivilen Opfer spezifischen regierungsfreundlichen Gruppierungen zuzuschreiben, wenn keine Erklärungen zur Verantwortungsübernahme abgegeben wurde. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (UNAMA 2.2018).
Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US- amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld - insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friedens- Konferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala zu abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).
Die Taliban geben im Kurznachrichtendienst Twitter Angaben zu ihren Opfern oder Angriffen (FAZ 19.10.2017; vgl. Pajhwok 13.3.2018). Ihre Angaben sind allerdings oft übertrieben (FAZ 19.10.2017). Auch ist es sehr schwierig Ansprüche und Bekennermeldungen zu verifizieren - dies gilt sowohl für Taliban als auch für den IS (AAN 5.2.2018).
Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan. im Nordosten an Kapisa. im Osten an Laghman. an Nangarhar im Südosten. an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar. Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten (Pajhwoko.D.z): Bagrami. Chaharasyab/CharAsiab. Dehsabz/Dehsabz. Estalef/Istalif. Farza. Guldara. Kabul Stadt. Kalakan. Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar. Mirbachakot/Mir Bacha Kot. Musayi/Mussahi. Paghman. Qarabagh. Shakardara. Surobi/Sorubi (UN OCHA 4-2014; vgl. Pajhwoko.D.z).
Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt (CSO 4.2017).
In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen. Tadschiken. Hazara. Usbeken. Turkmenen. Belutschen. Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an. dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten. Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt (Pajhwoko.D.z). Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen (LAT 26.3.2018). In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (TG 15.3.2018).
Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen: den Hamid Karzai International Airport (HKIR) (Tolonews 25.2.2018; vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation; Kapitel 3.35). Auch soll die vierspurige "Ring Road", die Kabul mit angrenzenden Provinzen verbindet, verlängert werden (Tolonews 10.9.2017; vgl. Kapitel 3.35.).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl. UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl. FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl. VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen. Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen und Maßnahmen der afghanischen Regierung in der Provinz Kabul
Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt (Tolonews 31.1.2018; vgl. AT 18.3.2018, RS 28.2.2018; vgl. MF 18.3.2018). Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden (MF 18.3.2018). Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind (Tolonews 7.2.2018). Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017). Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen (Tolonews 7.2.2018). Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt (Tolonews 1.3.2018). Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden (RFE/RL 7.2.2018). Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden (Reuters 14.3.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in der Provinz Kabul
Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul (UNGASC 27.2.2018; vgl. RFE/RL 17.3.2018, Dawn 31.1.2018), auch dem Haqqani- Netzwerk wird nachgesagt, Angriffe in der Stadt Kabul zu verüben (RFE/RL 30.1.2018; vgl. NYT 9.3.2018, VoA 1.6.2017). So existieren in der Hauptstadt Kabul scheinbar eine Infrastruktur, Logistik und möglicherweise auch Personal ("terroriststohire"), die vom Haqqani-Netzwerk oder anderen Taliban-Gruppierungen, Splittergruppen, die unter der Flagge des IS stehen, und gewaltbereiten pakistanischen sektiererischen (anti-schiitischen) Gruppierungen verwendet werden (AAN 5.2.2018).
Zum Beispiel wurden zwischen 27.12.2017 und 29.1.2018 acht Angriffe in drei Städten ausgeführt, zu denen neben Jalalabad und Kandahar auch Kabul zählte - fünf dieser Angriffe fanden dort statt. Nichtsdestotrotz deuten die verstärkten Angriffe - noch - auf keine größere Veränderung hinsichtlich des "Modus Operandi" der Taliban an (AAN 5.2.2018).
Für den Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Kabul vom IS verursachte Vorfälle registriert (Gewalt gegenüber Zivilist/innen und Gefechte) (ACLED 23.2.2018).
Rückkehr
Als Rückkehrer werden jene afghanischen Staatsbürger bezeichnet, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind, nachdem sie mindestens sechs Monate im Ausland verbracht haben. Dazu zählen sowohl im Ausland registrierte Afghanen, die dann die freiwillige Rückkehr über UNHCR angetreten haben, als auch nicht-registrierte Personen, die nicht über UNHCR zurückgekehrt sind, sondern zwangsweise rückgeführt wurden. Insgesamt sind in den Jahren 2012 bis 2017 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt.
Die Anzahl der Rückkehrer hat sich zunächst im Jahr 2016 im Vergleich zum Zeitraum 2012-2015, um 24% erhöht, und ist im Jahr 2017 um 52% zurückgegangen. In allen drei Zeiträumen war Nangarhar jene Provinz, die die meisten Rückkehrer zu verzeichnen hatte (499.194); zweimal so viel wie Kabul (256.145). Im Jahr 2017 kehrten IOM zufolge insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück (sowohl freiwillig, als auch zwangsweise). Im Jahr 2018 kehrten mit Stand 21. März 1.052 Personen aus angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück.
Unterstützung durch verschiedene Organisationen Vorort
Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen.
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer für maximal zwei Wochen untergebracht werden.
Unterstützung durch die afghanische Regierung
Hilfeleistungen für Rückkehrer durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft (wenngleich sich das Jangalak- Aufnahmezentrum bis September 2017 direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand, wurde dieses dennoch von IOM betrieben und finanziert). Seit 2016 erhalten die Rückkehr nur Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind.
Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "wholeofcommunity" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.
Die Rolle unterschiedlicher Netzwerke für Rückkehrer
Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten.
Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.
Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten.
Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte.
Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat, welche den Parteien im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgehalten und denen im Zuge dessen nicht substantiiert entgegengetreten wurde, stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
2.2. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers. Seine Identität konnte mangels Vorlage unbedenklicher Dokumente nicht festgestellt werden; der im Spruch angeführte Name dient lediglich zur Identifizierung des Beschwerdeführers als Verfahrenspartei.
Das Datum der Antragstellung und die Ausführungen zum Verfahrensverlauf ergeben sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zur persönlichen und familiären Situation des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben im Rahmen des Verfahrens vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bzw. im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.3. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entspre-chende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (VwGH 25.3.1999, 98/20/0559). Dabei bedarf es zunächst einer persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers, die insbesondere dann getrübt sein wird, wenn sein Vorbringen auf ge- oder verfälschte Beweismittel gestützt ist oder er wichtige Tatsachen verheimlicht respektive be-wusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegrün-det und verspätet erstattet oder mangelndes Interesse am Verfahrensablauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert. Weiters muss das Vorbringen des Asylwerbers - unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten - genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
Im vorliegenden Verfahren hat der Beschwerdeführer nach seiner Erstbefragung in einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Gelegenheit gehabt, seine Fluchtgründe umfassend darzulegen. Der aufgrund dieser Befragungen festgestellte Sachverhalt und die Beweiswürdigung finden ihren Niederschlag im angefochtenen Bescheid. In Anbetracht des von der belangten Behörde durchgeführten Ermittlungsverfahrens sowie angesichts der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem ergänzenden Vorbringen des Beschwerdeführers, hat dieses auch keine Bedenken gegen die (in der Bescheidbegründung zum Ausdruck kommende) Annahme der belangten Behörde, dass dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat keine gezielte konkrete Verfolgung droht:
Die vom Beschwerdeführer behauptete Bedrohung bzw. Verfolgungsgefährdung durch seinen (bzw. seine beiden) Onkel väterlicherseits in Afghanistan konnte letztlich nicht festgestellt werden. Dem Beschwerdeführer war es im gesamten Verfahren nämlich nicht möglich konkrete Erlebnisse oder Erfahrungen zu schildern, welche seine Ängste überzeugend untermauern. Er hat insgesamt von keinem einzigen Vorfall in seiner Heimat berichtet, welcher seine dahingehenden Befürchtungen glaubwürdig stützen und eine Bedrohung für seine Person tatsächlich nahelegen würde. Vielmehr hat er ausdrücklich bestätigt, dass es während seines sechsmonatigen Aufenthalts bei seinen Onkeln mütterlicherseits keine Bedrohungen gegenüber seiner Mutter, seiner Schwester oder ihm gegeben habe. Er sei auch nie von den Brüdern seines Vaters oder sonstigen Personen persönlich bedroht oder belangt worden. Der Beschwerdeführer hat letztlich nur vage Vermutungen geäußert, welchen jeglicher Bezug zu konkreten Wahrnehmungen bzw. Vorfällen fehlt (vgl. Einvernahme vom 20.03.2018: "Ich weiß nicht, warum mich meine Onkel weggeschickt haben. Aber dort war mein Leben in Gefahr. [...] Nachgefragt gebe ich an, dass er das Grundstück weggenommen hätte und mich getötet." Verhandlung vom 08.01.2020: "Mein Leben war dort in Gefahr. Deshalb bin ich geflüchtet. [...] Er wird mich persönlich töten.") und sich dabei ausschließlich auf Erzählungen Dritter (vgl. Einvernahme vom 20.03.2018: " XXXX . Leute haben erzählt, dass er meinen Vater erschossen hat, ich selbst habe nicht gesehen wie mein Vater getötet wurde. [...] LA: Woher wissen Sie über die Spielschulden Ihres Onkels? AW: Meine Mutter hat es mir erzählt.") gestützt.
Abgesehen davon ist die gesamte Geschichte weder nachvollziehbar noch plausibel und damit insgesamt nicht glaubwürdig. Da sein Vater erschossen worden sein soll, ist es nämlich weder nachvollziehbar noch plausibel, dass der Beschwerdeführer davon überhaupt nichts mitbekommen hat, obwohl der Mord vor der Haustür seines Elternhauses stattgefunden habe und er zu diesem Zeitpunkt zu Hause gewesen sei (vgl. Einvernahme vom 20.03.2018: "Ich war im Haus, meine Mutter ist schreiend ins Haus gekommen."). Auch seine Erklärung dafür, warum keine Polizei involviert bzw. vor Ort gewesen sei (vgl. Einvernahme vom 20.03.2018: "Ich selbst konnte nicht zur Polizei und hatte aber auch keinen älteren Bruder, der sich darum kümmert."), ist weder plausibel noch vorstellbar. Immerhin hätten offenbar mehrere Personen seinen Onkel väterlicherseits als Täter identifizieren können und wären kurz danach zahlreiche Nachbarn, ebenso wie seine Onkel mütterlicherseits am Tatort gewesen. Weiters ist es schwer nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer mit seiner Mutter und seiner Schwester lediglich zu seinen rund zehn Gehminuten entfernt wohnenden Onkeln mütterlicherseits gezogen wäre, wenn er tatsächlich in Gefahr gewesen sei. Auch der Umstand, dass er sich nach dem Tod seines Vaters noch rund sechs Monate im Heimatdorf aufgehalten habe, ohne dass es zu irgendwelchen Vorfällen oder Bedrohungen gekommen ist, deutet gerade nicht darauf hin, dass der Beschwerdeführer tatsächlich in Gefahr war. Es ist nämlich kein Grund ersichtlich, weshalb der (bzw. die) Onkel väterlicherseits die beabsichtigte Tötung des Beschwerdeführers (derart lange) aufschieben hätten sollen. Immerhin habe der Onkel den Angaben des BF zufolge das Grundstück dringend für die Bezahlung von Wettschulden benötigt. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer das strittige Grundstück ohnehin an seine Onkel mütterlicherseits abgetreten hat. Außerdem ist es letztlich auch nicht plausibel und glaubwürdig, dass die Onkel väterlicherseits den Beschwerdefüh