Entscheidungsdatum
29.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W111 2219630-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.04.2019, Zl. 1102041507-180079345, zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte am 13.01.2016 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, nachdem sie zuvor gemeinsam mit ihrem damals minderjährigen Sohn - infolge einer vorherigen Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in Polen - illegal in das Bundesgebiet eingereist war. Im Zuge der am 14.01.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes abgehaltenen Erstbefragung gab sie an, dass ihre beiden volljährigen Kinder bereits seit sechs Jahren sowie ihr Ehemann seit zwölf Jahren in Österreich leben würden. Zum Grund ihrer Flucht führte die Beschwerdeführerin an, ihr Mann habe im Jahr 1999 als Soldat im Krieg gekämpft und sei vor etwa zwölf Jahren nach Österreich geflüchtet. Danach hätten sie rund 15 Jahre Ruhe gehabt, kürzlich hätten sich die Behörden jedoch nach ihrem Mann erkundigt und den älteren Sohn der Beschwerdeführerin verhaftet. Dieser Sohn sei dann ins Ausland geflüchtet und habe die Beschwerdeführerin telefonisch gewarnt, dass sie mit dem jüngeren Sohn flüchten solle, da man auch diesen holen wolle. Aus diesem Grund habe sie sich entschlossen, gemeinsam mit ihrem jüngeren Sohn ihre Heimat zu verlassen.
2. Anlässlich einer am 24.05.2017 durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab der damals minderjährige Sohn der Beschwerdeführerin an, über den aktuellen Aufenthaltsort seiner Mutter nicht in Kenntnis zu sein und zuletzt im Jänner 2016 Kontakt mit dieser gehabt zu haben. Der bei der Einvernahme anwesende Vater des Minderjährigen gab an, dass er von der Polizei in Traiskirchen über das Verschwinden der Beschwerdeführerin informiert worden sei und sodann als gesetzlicher Vertreter für seinen minderjährigen Sohn bestellt worden wäre. Auch ihm sei der aktuelle Aufenthaltsort der Beschwerdeführerin nicht bekannt.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.07.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin vom 13.01.2016 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin III-VO Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 61 Abs. 1 FPG wurde gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Polen festgestellt (Spruchpunkt II.).
Dieser Bescheid wurde durch Hinterlegung im Akt gemäß § 23 Abs. 2 Zustellgesetz am 05.07.2017 zugestellt und erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
4. Mit Schreiben vom 18.12.2017 teilte ein Mitarbeiter der Caritas mit, dass die Beschwerdeführerin sich an jenem Tag an die dortige Beratungsstelle gewandt hätte; da seit dem Zuständigkeitsübergang auf Polen nach Art. 22 der Dublin III-VO bereits mehr als 18 Monate verstrichen seien und die Zuständigkeit zur Verfahrensführung demnach gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf Österreich übergegangen wäre, werde die Behebung des zurückweisenden Bescheides sowie eine Zulassung des Verfahrens der Beschwerdeführerin in Österreich beantragt.
Über Rückfrage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl teilte die Beratungsorganisation am 09.01.2018 mit, dass keine Kontaktdaten der Beschwerdeführerin bekannt seien.
5. Am 22.01.2018 meldete die Beschwerdeführerin neuerlich einen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet und stellte am darauffolgenden Tag den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, zu dem sie am gleichen Datum vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurde. Die Beschwerdeführerin gab an, sie gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an, bekenne sich zum islamischen Glauben und sei zuletzt Fabrikarbeiterin gewesen. Die Beschwerdeführerin erklärte, sich seit ihrer erstmaligen Einreise am 13.01.2016 durchgängig in Österreich aufgehalten zu haben. Ihre im Zuge der ersten Antragstellung vorgebrachten Gründe blieben aufrecht. Anfang Dezember 2015 seien drei- bis viermal Männer in Militäruniformen zu ihnen nach Hause gekommen und hätten nach ihrem Ehemann gefragt. Die Männer hätten gesagt, dass sie ihren Sohn mitnehmen würden, sollte der Ehemann sich nicht selbst stellen. Ihr Ehemann habe gegen die jetzige Regierung Tschetscheniens gekämpft. Sie sei deshalb mit ihrem jüngsten Sohn nach Österreich geflohen. Über den Aufenthaltsort ihres ältesten Sohnes sei sie nicht in Kenntnis. Die Beschwerdeführerin gab mehrfach an, dass sie bei ihren in Österreich aufhältigen beiden mittleren Kindern leben und nicht von diesen getrennt werden wolle.
Nach Zulassung ihres Verfahrens erfolgte am 20.06.2018 eine niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, bei welcher sie im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache zusammengefasst angab (im Detail, vgl. Verwaltungsakt, Seiten 63 bis 85), sie nehme Medikamente gegen Bluthochdruck ein und leide zudem an Knieschmerzen, ansonsten sei sie gesund und benötige keine Medikamente. Sie fühle sich zur Durchführung der Einvernahme in der Lage und habe bislang wahrheitsgemäße Angaben erstattet, welche korrekt zu Protokoll genommen worden wären. Sie verwies auf ihre bereits vorgelegte Heiratsurkunde und ihren russischen Inlandspass, darüberhinausgehende Dokumente besäße sie nicht. Ihr russischer Auslandsreisepass befände sich bei den Behörden in Polen. Die Beschwerdeführerin habe im Heimatland keine Probleme wegen ihrer tschetschenischen Volksgruppenzugehörigkeit sowie wegen ihres islamischen Glaubensbekenntnisses gehabt. Die Beschwerdeführerin sei im Herkunftsstaat verschiedenen Arbeitstätigkeiten nachgegangen, etwa drei Jahre zuvor sei sie in Pension gegangen und habe seither eine monatliche Rente bezogen. Im Jahr 1989 habe sie ihren nunmehr seit dreizehn bis vierzehn Jahren in Österreich lebenden Ehegatten geheiratet und mit diesem vier Kinder bekommen, von denen zwei gemeinsam mit dem Ehegatten nach Österreich gereist wären. Sie selbst und der jüngste, mit der Beschwerdeführerin eingereiste, Sohn würden deshalb nicht gemeinsam mit dem Ehegatten leben, da ihr Mann im Jahr 2000 oder 2001 noch einmal geheiratet hätte. Sie habe schon seit längerem vorgehabt, mit ihrem minderjährigen Sohn nach Österreich zu gehen, da ihre Mutter krank gewesen wäre, habe sie zunächst ihre beiden älteren Kinder nach Österreich geschickt; im Jahr 2011 habe sie dann für sich selbst und ihre anderen beiden Söhne Reisepässe ausstellen lassen. Ihre Mutter sei im vorangegangenen Jahr verstorben. Sie habe an einer näher angeführten Anschrift in Tschetschenien gelebt und den Herkunftsstaat im Dezember 2015 mit dem Zug über Moskau und Weißrussland verlassen. Im Zeitraum zwischen Jänner 2016 und Jänner 2018 sei sie in Österreich untergetaucht gewesen, habe bei diversen Familien als Reinigungskraft gearbeitet und sei bei tschetschenischen Familien untergebracht gewesen. Über Nachfrage gab sie an, es hätte ihr niemand gesagt, dass sie sich den österreichischen Behörden entziehen müsse, um nach einer gewissen Zeit wiederum einen Asylantrag in Österreich stellen zu können, sie habe jedoch gewusst, dass sie 2016 nach Polen hätte zurück müssen. In der Russischen Föderation würden noch vier Schwestern und zwei Brüder der Beschwerdeführerin leben, ihr ältester Sohn sei derzeit in der Ukraine wohnhaft. Zur Frage, weshalb sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt im Zuge eines Botschaftsverfahrens um Einreise nach Österreich, insbesondere im Hinblick auf ihren jüngsten Sohn, angesucht hätte, erwiderte die Beschwerdeführerin, ihr Mann habe noch einmal geheiratet, sie sei stinksauer gewesen. Sie könne sich nicht vorstellen, nach einer Rückkehr wieder an ihrer früheren Wohnadresse zu leben, zumal fast all ihre Kinder in Österreich wären. Zur Frage, was sie im Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland zu befürchten hätte, erklärte die Beschwerdeführerin, es nicht zu wissen; sie möchte nicht von ihren Kindern getrennt werden und hoffe, dass Österreich ihr helfe. Die Beschwerdeführerin habe im Heimatland nie Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt.
Zu ihren Flucht- und Asylgründen gab sie an, im Dezember 2015 seien Soldaten gekommen und hätten die Beschwerdeführerin und ihre beiden im Herkunftsstaat aufhältigen Söhne nach dem Ehegatten der Beschwerdeführerin gefragt. Sie hätten gesagt, dass sie über dessen Aufenthaltsort nicht in Kenntnis seien. Ihr ältester Sohn habe Angst bekommen und sei untergetaucht. Ein paar Tage später habe er sich telefonisch aus XXXX gemeldet und der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass sie mit dem jüngsten Sohn die Stadt verlassen solle. Etwa zehn Tage später habe sie mit dem jüngsten Sohn die Ausreise angetreten. Die erwähnten Männer hätten lediglich nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt; weiters hätten sie gesagt, sie würden den ältesten Sohn mitnehmen, sollte der Ehemann nicht auftauchen. Jener Sohn sei zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen; er sei weg gewesen, da er Angst gehabt hätte, scheinbar habe er gewusst, dass er gesucht werde. Wie viel Zeit zwischen dem Zeitpunkt, als ihr Sohn das Haus verlassen hätte und dem Erscheinen der Soldaten vergangen sei, wisse sie nicht. Sie persönlich sei durch die Soldaten nicht bedroht worden. Die Beschwerdeführerin habe sich mit dem jüngsten Sohn zu ihrer Mutter begeben und nach dem Anruf ihres ältesten Sohnes ihre Geschwister kontaktiert und um Geld für die Ausreise gebeten. Dies sei das einzige Mal gewesen, dass Soldaten bei ihnen zu Hause aufgetaucht seien. Ihr ältester Sohn sei bereits im Jahr 2011 verhaftet und gefoltert worden, dies sei in Zusammenhang mit einem Video geschehen, in dem es darum gegangen sein soll, wie tschetschenische Frauen getötet werden. Dieses Video sei auch an den in Österreich aufhältigen Sohn geschickt worden, was zu Problemen mit den hiesigen Behörden und einem Kontakt zwischen denselben und den russischen Behörden geführt hätte. Über Vorhalt, dass vor diesem Hintergrund den russischen Behörden ein Aufenthalt des Ehemannes der Beschwerdeführerin in Österreich schon zum damaligen Zeitpunkt bekannt geworden wäre und gefragt, weshalb Soldaten diesfalls im Jahr 2015 nach dem Aufenthaltsort des Genannten hätten fragen sollen, erwiderte die Beschwerdeführerin, sie nehme an, dass ihr Ehemann in die Ukraine gegangen sei und Soldaten aus diesem Grund bei ihnen zu Hause aufgetaucht wären. Man sollte ihren Mann danach fragen. Ihr jüngster Sohn sei nicht bedroht worden, sie habe jedoch Angst gehabt, dass diesem etwas passieren könnte.
Die Beschwerdeführerin verzichtete auf die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme zu den seitens der Behörde herangezogenen Berichten zur Lage in ihrem Herkunftsstaat und erklärte, alles ihr wichtig Erscheinende vorgebracht zu haben; sie wolle nur darum bitten, nicht von ihren Kindern getrennt zu werden.
Die Beschwerdeführerin habe bislang keine Integrationsbemühungen unternommen. Über Vorhalt, dass ihr Ehemann im Zuge einer Einvernahme davon gesprochen hätte, geschieden zu sein und die Beschwerdeführerin als seine Ex-Frau bezeichnet hätte, meinte die Beschwerdeführerin, darüber keine Kenntnis zu haben. Die Frage, ob sie Kontakt zu ihrem Ehegatten habe, beantwortete sie dahingehend, diesen schon länger nicht mehr gesehen zu haben, ab und zu riefen sie sich an. Zu ihren älteren in Österreich aufhältigen Kindern bestünde kein Abhängigkeitsverhältnis und sie sehe die beiden sehr selten.
Am 09.07.2018 wurde der von der Beschwerdeführerin benannte Ehegatte vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Zeuge im Verfahren der Beschwerdeführerin und ihres jüngsten Sohnes befragt. Dieser gab an, er habe die Beschwerdeführerin im Jahr 1989 in Tschetschenien standesamtlich geheiratet, diese Ehe sei nach wie vor gültig, es sei keine standesamtliche Scheidung erfolgt. Seine jetzige Frau habe er 1999 bzw. 2000 nur traditionell nach islamischem Recht geheiratet. Über Vorhalt, dass er die Beschwerdeführerin in einer früheren Einvernahme als seine Ex-Frau bezeichnet hätte, bestätigte der Zeuge dies. Wegen der gemeinsamen Kinder wolle er sich nicht offiziell von dieser scheiden lassen. Er lebe von der Beschwerdeführerin getrennt, treffe diese immer wieder und hätte auch körperlichen Kontakt mit ihr. Früher habe er rund einmal monatlich Kontakt zu ihr gehabt, wegen seiner gesundheitlichen Situation habe er die Beschwerdeführerin seit zwei Monaten gar nicht gesehen.
Seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden sodann Unterlagen über das in Polen geführte Verfahren auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin angefordert und relevante Passagen daraus einer Übersetzung ins Deutsche zugeführt. Aus dieser ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin in Polen angegeben hätte, dass ihr Ex-Mann im Herkunftsstaat zuletzt auf Besuch gekommen sei und hierdurch die ausreisekausale Bedrohung durch die Polizei ausgelöst worden sei.
Nach einer erfolgten Aufforderung des Bundeamtes zur Vorlage allenfalls zwischenzeitlich vorhandener Integrationsunterlagen übermittelte die Beschwerdeführerin am 15.04.2019 eine Bestätigung, wonach sie mangels entsprechenden Angebotes an ihrem Wohnort bislang keinen Deutschkurs habe besuchen können.
6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 29.04.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Die Behörde stellte die Identität, Staatsbürgerschaft, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführerin fest und legte ihrer Entscheidung Feststellungen zur aktuellen Situation in deren Herkunftsstaat zu Grunde.
Eine der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung habe nicht festgestellt werden können. Die Beschwerdeführerin habe keine individuelle Bedrohung vorgebracht und sei auch aufgrund ihrer Familienangehörigeneigenschaft keiner Verfolgung ausgesetzt. Da die Beschwerdeführerin keine in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit erlebten Drohungen geltend gemacht hätte, sei es unwahrscheinlich, dass im Falle ihrer Rückkehr entsprechende Handlungen gesetzt werden würden. Die Angaben der Beschwerdeführerin zur Bedrohung ihres jüngsten Sohnes würden aufgrund näher dargestellter Widersprüche innerhalb ihres Vorbringens als nicht glaubhaft qualifiziert werden. Die Beschwerdeführerin habe im Verfahrensverlauf insgesamt vier einander widersprechende Versionen hinsichtlich der angeblichen Bedrohung ihrer Söhne dargelegt. Beispielsweise habe die Beschwerdeführerin im Zuge ihrer ersten Befragung in Österreich ausgeführt, dass ihr ältester Sohn an dem Tag, als die Soldaten bei ihnen erschienen wären und sich nach dem Aufenthaltsort ihres Ehegatten erkundigt hätten, mitgenommen und verhört worden wäre; einen derartigen Sachverhalt habe sie in den weiteren Befragungen jedoch mit keinem Wort mehr erwähnt. Vielmehr habe sie im weiteren Verlauf des Verfahrens widersprüchlich davon gesprochen, dass sich besagter Sohn zum Zeitpunkt des Erscheinens der Soldaten bereits aus Angst nicht mehr zu Hause aufgehalten habe bzw. das Haus (erst) nach diesem Vorfall aus Angst verlassen hätte. Die später als fluchtkausal vorgebrachte Bedrohung des jüngsten Sohnes habe sie im polnischen Verfahren überhaupt nicht erwähnt. Eine staatliche Verfolgung sei zudem aufgrund der komplikationslos erfolgten legalen Ausreise auszuschließen. Selbst wenn ihr Vorbringen zutreffen würde, so wäre aus diesem keine ihre eigene Person betreffende Bedrohung ableitbar, die Beschwerdeführerin selbst hätte angeführt, nie Probleme mit den Behörden ihres Herkunftsstaates gehabt zu haben.
Es habe auch keine wie immer geartete sonstige Gefährdung der Beschwerdeführerin in ihrem Heimatland festgestellt werden können, ebensowenig habe festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat von einer wirtschaftlich ausweglosen Lage bedroht sei. Die Beschwerdeführerin sei Bezugsberechtigte einer Rente und habe mehrere Geschwister im Herkunftsstaat, welche ihr unterstützend zur Seite stehen könnten. Ebensowenig sei hervorgekommen, dass eine körperliche oder psychische Erkrankung einer Rückkehr der Beschwerdeführerin entgegenstehen würde. Die vorgebrachte Hypertonie sei im Herkunftsstaat gleichermaßen einer Behandlung zugänglich. Die allgemeine Sicherheitslage in der Russischen Föderation sei als stabil zu bezeichnen.
Die Beschwerdeführerin führe seit dem Jahr 2001 kein Familienleben mehr mit ihrem Ehegatten, mit welchem sie noch aufrecht standesamtlich verheiratet sei. Die Führung eines Familienverfahrens mit dem Genannten komme gemäß § 34 Abs. 6 Z 3 AsylG 2005 iVm § 30 NAG nicht in Betracht, zumal aus diesen Bestimmungen abzuleiten sei, dass Eheleute sich nicht auf ein gemeinsames Familienleben berufen könnten, wenn diese kein tatsächliches Familienleben iSd Art. 8 EMRK führen. Es müsse sowohl die formelle Familieneigenschaft (rechtliche Eheschließung, eingetragene Partnerschaft), als auch die materielle Familieneigenschaft, d.h. ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK, vorliegen. Im gegenständlichen Fall sei ein gemeinsames Familienleben mit ihrem Ehegatten, welcher seit 2001 mit einer neuen Partnerin eine Lebensgemeinschaft führe, nicht mehr gegeben. Ihr mittlerweile volljähriger jüngster Sohn habe den Status des Asylberechtigten selbst nach den Bestimmungen über das Familienverfahren zuerkannt bekommen, sodass eine Ableitung des Status auch von ihrem Sohn nicht in Betracht käme.
Zu den weiters in Österreich aufhältigen volljährigen Kindern bestehe kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis. Eine besondere Integrationsverfestigung der Beschwerdeführerin habe sich nicht ergeben. Die Beschwerdeführerin sei nicht selbsterhaltungsfähig, halte sich erst seit einem kurzen Zeitraum in Österreich auf und habe sich der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus stets bewusst sein müssen. Demgegenüber sei sie in die Gesellschaft ihres Herkunftsstaates sprachlich und sozial integriert.
Da auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen würden, erweise sich der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als zulässig.
7. Gegen diesen, der Beschwerdeführerin am 02.05.2019 zugestellten, Bescheid wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation am 24.05.2019 die vorliegende Beschwerde eingebracht, in welcher der dargestellte Bescheid in seinem gesamten Umfang wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt wurde. Begründend wurde ausgeführt, die Behörde habe die Führung eines Familienverfahrens zu Unrecht unterlassen; auch wenn mit dem in Österreich asylberechtigten Ehemann kein tatsächliches Familienleben bestehe, so handle es sich bei der Beschwerdeführerin dennoch um eine Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, da die Ehegatten nicht geschieden seien und die Ehe bereits im Herkunftsland bestanden hätte. Der Beschwerdeführerin sei demnach als Familienangehörige der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen. In eventu werde der Antrag auf Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten gestellt, da für die Beschwerdeführerin eine reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK bestünde. Zudem würden im vorliegenden Fall die familiären Interessen der Beschwerdeführerin an einem Verbleib im Bundesgebiet die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen, da die drei Kinder der Beschwerdeführerin in Österreich aufhältig seien und sie zu diesen täglichen intensiven Kontakt pflege.
8. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 03.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Im Rahmen eines mit "Beschwerdeergänzung" betitelten Schreibens vom 17.12.2019 führte die Beschwerdeführerin aus, aufgrund der hohen Position ihres Ehemannes in der Regierung Maschadov und dessen Weigerung, sich Kadyrow anzuschließen, sei es mehr als plausibel, dass er in Österreich von Kadyrow-nahen Personen überwacht werde. Offensichtlich hätten diese Personen angenommen, dass ihr Ehemann heimlich bei der Beschwerdeführerin eingereist sei und deshalb bei ihr gesucht. Es stimme zwar, dass die Beschwerdeführerin bei dieser Gelegenheit nicht angegriffen oder direkt bedroht worden sei, allerdings sei es das erste Mal nach langer Zeit gewesen, dass sich die Sicherheitskräfte wieder nach ihrem Ehemann erkundigt hätten und sie habe davon ausgehen können, dass dieses wiedererwachte Interesse nicht so schnell aufhören werde. Sie habe demnach Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte gefürchtet, sowie dass sie einen ihrer Söhne "mitnehmen." In dieser Situation hätten sich beide ihrer Söhne verstecken müssen und die Beschwerdeführerin wäre alleine und ohne Schutz zurückgeblieben, sodass ihr ein weiterer Verbleib in Tschetschenien unzumutbar gewesen sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Die Beschwerdeführerin ist eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum islamischen Glauben bekennt. Ihre Identität steht fest. Die Beschwerdeführerin stammt aus Tschetschenien, hat im Herkunftsstaat eine Grundschulbildung absolviert, in verschiedenen Berufen gearbeitet und war im Vorfeld ihrer Ausreise Bezugsberechtigte einer (Alters-)Pension. Die Beschwerdeführerin hat den Herkunftsstaat im Dezember 2015 gemeinsam mit ihrem damals minderjährigen jüngsten Sohn (IFA-Zahl: 1102041703) legal auf dem Landweg verlassen und reiste über Weißrussland illegal und schlepperunterstützt nach Polen, wo sie am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Von dort reiste sie, ohne den Ausgang ihres Verfahrens abzuwarten, illegal nach Österreich weiter, wo sie am 13.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf. Nachdem der Beschwerdeführerin mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes vom 20.01.2016 die beabsichtigte Zurückweisung ihres Antrages wegen einer Zuständigkeit Polens für die Verfahrensführung mitgeteilt worden war, tauchte die Beschwerdeführerin unter. Die Obsorge für den damals minderjährigen Sohn wurde sodann dem in Österreich asylberechtigten Kindesvater übertragen.
Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.07.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin vom 13.01.2016 gemäß § 5 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen, ausgesprochen, dass Polen gemäß Art. 18 Abs. 1 lit c der Dublin III-VO für die Prüfung desselben zuständig sei sowie gemäß § 61 Abs. 1 und 2 FPG die Außerlandesbringung der Beschwerdeführerin angeordnet und die Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Polen ausgesprochen.
Nach Ablauf der 18-monatigen Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit auf Österreich gemäß Art. 29 der Dublin III-VO stellte die Beschwerdeführerin 23.01.2018 den gegenständlichen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und gab im Zuge der Erstbefragung bekannt, dass sie seit der erstmaligen Einreise durchgehend unrechtmäßig und unangemeldet in Österreich aufhältig gewesen sei und ihren Lebensunterhalt durch Verrichtung von Reinigungstätigkeiten in privaten Haushalten bestritten hätte.
1.2. In Österreich lebt der Ehegatte der Beschwerdeführerin, welchem im Jahr 2006 der Status eines Asylberechtigten im Bundesgebiet zuerkannt worden ist. Abgeleitet vom Status ihres Vaters wurde zwei der (zwischenzeitlich) volljährigen gemeinsamen Kinder, welche im Jahr 2009 zu ihrem Vater ins Bundesgebiet nachgereist sind und sich seither hier aufhalten, sowie dem gemeinsam mit der Beschwerdeführerin eingereisten (zwischenzeitlich) volljährigen Sohn, nach den Bestimmungen über das Familienverfahren ebenfalls der Status von Asylberechtigten zuerkannt.
Die Beschwerdeführerin hat den in Österreich asylberechtigten russischen Staatsangehörigen und Vater ihrer vier volljährigen Kinder im Jahr 1989 in Tschetschenien standesamtlich geheiratet. Der Ehemann der Beschwerdeführerin reiste im Jahr 2004 nach Österreich; seither bestand kein gemeinsamer Wohnsitz zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem standesamtlich angetrauten Ehegatten mehr und es wurde kein gemeinsames Familienleben mehr geführt. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin führt seit dem Jahr 1999/2000 eine Lebensgemeinschaft mit einer neuen Partnerin, mit welcher er im Bundesgebiet in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Die Beschwerdeführerin hat ihre Möglichkeiten, im Rahmen einer Familienzusammenführung zu ihrem Ehegatten nach Österreich nachzureisen, während eines knapp fünfzehnjährigen Zeitraumes nicht in Anspruch genommen und auch infolge ihrer Einreise im Jahr 2016, ebenso wie ihr Ehegatte, keine Intention erkennen lassen, das gemeinsame Familienleben wieder aufzunehmen. Die Beschwerdeführerin hat in Österreich nur sporadischen Kontakt zu ihrem Ehemann gehabt und es wird auch in Hinkunft nicht bezweckt, die eheliche Lebensgemeinschaft wieder aufzunehmen. Wenn auch das formale Band der Ehe zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Gatten noch bestehen mag, so besteht seit rund 20 Jahren kein tatsächliches Familienleben mehr zwischen den Ehegatten und es ist auch die Wiederaufnahme eines solchen zwischen den Eheleuten nicht intendiert.
1.3. Die Beschwerdeführerin ist in der Russischen Föderation aufgrund der ehemaligen Tätigkeit ihres Ehemannes als Soldat im ersten Tschetschenienkrieg keiner Verfolgung durch russische/tschetschenische Sicherheitskräfte ausgesetzt. Nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung der Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien festgestellt werden. Diese ist aus familiären und wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gereist, um in Umgehung der Regelungen über einen regulären Zuzug ins Bundesgebiet einen gemeinsamen Aufenthalt mit ihren hier lebenden volljährigen Kindern zu begründen.
1.4. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass die Beschwerdeführerin im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Tschetschenien in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Die Beschwerdeführerin liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführerin hat bis zum Alter von 53 Jahren in der Russischen Föderation gelebt und war stets zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes in der Lage; während der drei Jahre vor ihrer Ausreise bestritt sie ihren Lebensunterhalt durch Bezug einer Rente, was ihr im Fall einer Rückkehr neuerlich möglich sein wird. Im Herkunftsstaat leben unverändert sechs volljährige Geschwister und weitere Verwandte der Beschwerdeführerin, welcher sie nach einer Rückkehr zusätzlich unterstützen könnten; ebenso stünde es ihren drei in Österreich lebenden volljährigen Kindern offen, der Beschwerdeführerin im Bedarfsfall finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.
Die Beschwerdeführerin leidet an Hypertonie und nimmt diesbezüglich Medikamente ein. Sie leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen, welche sie im Alltag maßgeblich einschränken und kann die Behandlung des vorliegenden Krankheitsbildes im Herkunftsstaat fortsetzen.
1.5. In Österreich leben der Ehegatte sowie drei volljährige Kinder der Beschwerdeführerin als Asylberechtigte. Zu ihrem Ehegatten sowie zu ihren beiden älteren Kindern, von denen sie im Vorfeld der Einreise rund sieben Jahre getrennt gelebt hat, besteht kein enger Kontakt. Die Beschwerdeführerin steht zu keinem ihrer Angehörigen in einem speziellen Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis und konnte den gemeinsamen Aufenthalt nur durch ihre illegale Einreise und Stellung eines unbegründeten Antrages auf internationalen Schutz erwirken. Sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihre Angehörigen waren sich der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus der Beschwerdeführerin bewusst und konnten demnach zu keinem Zeitpunkt auf die Möglichkeit zur Führung eines gemeinsamen Familienlebens im Bundesgebiet vertrauen.
Die Beschwerdeführerin ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und bestritt ihren Lebensunterhalt ab der Stellung des gegenständlichen Antrages bis Ende August 2019 durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen. Die Beschwerdeführerin hat bislang keinen formellen Nachweis über bereits vorhandene Sprachkenntnisse in Vorlage gebracht. Diese hat sich in keinen Vereinen engagiert, war nicht ehrenamtlich tätig und hat mit Ausnahme der erwähnten aufenthaltsberechtigten Angehörigen ihrer Herkunftsfamilie keine engen sozialen Bezugspersonen im Bundesgebiet. Eine die Beschwerdeführerin betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in deren gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.
1.3. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
- BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Tschetschenien
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).
Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018
- HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018
- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Sicherheitsbehörden
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).
Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).
Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018
- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Folter und unmenschliche Behandlung
Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).
Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).
Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).
Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).
Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer