Entscheidungsdatum
04.06.2020Norm
AsylG 2005 §57Spruch
W111 1400680-4/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2019, Zl. 451369506-190459395, zu Recht erkannt:
A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird gemäß den §§ 9 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 4 und Abs. 9, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen den Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 3 FPG mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf drei Jahre herabgesetzt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste zusammen mit seiner Ehefrau, seiner Schwiegermutter und seinen beiden Schwägerinnen illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14.02.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er in der am gleichen Datum abgehaltenen Erstbefragung damit begründete, im Herkunftsstaat wiederholt Festnahmen durch maskierte Männer erlebt zu haben und zu befürchten, im Falle einer Rückkehr getötet zu werden.
Dieser Antrag wurde zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.07.2008 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 aufgrund einer Zuständigkeit Frankreichs nach Art. 12 iVm 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-Verordnung zurückgewiesen und es wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Frankreich ausgesprochen.
In Stattgabe einer gegen diesen Bescheid eingebrachten Beschwerde behob der Asylgerichtshof jene Erledigung mit Erkenntnis vom 30.07.2008, Zahl S1 400.680-1/2008/2E, gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005.
Nach Zulassung seines Verfahrens erfolgte am 16.01.2009 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt, in welcher er seine Fluchtgründe darstellte.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.03.2009, Zahl 08 01.621-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diesem gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).
In der Begründung beurteilte das Bundesasylamt die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe sowie eine diesem im Herkunftsstaat drohende individuelle Verfolgung angesichts seiner unsubstantiierten und vagen Ausführungen als nicht glaubhaft. In Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, es sei aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes seiner Schwiegermutter, welche zudem aufgrund der vorliegenden Minderjährigkeit der Ehefrau des Beschwerdeführers nach wie vor deren gesetzliche Vertreterin sei, von einer Ausweisung des Beschwerdeführers und den weiteren Familienmitgliedern derzeit abzusehen gewesen. Der minderjährigen - mit diesem nach moslemischen Recht verheirateten - Ehefrau des Beschwerdeführers sowie dessen in Österreich geborener Tochter sei mit Bescheiden vom 02.03.2009 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden, sodass auch dem Beschwerdeführer als Ehepartner und Vater der Genannten der gleiche Schutzumfang zu gewähren gewesen sei.
Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 26.07.2012, Zahl D1 400680-2/2009/9E, wurde die gegen Spruchpunkt I. des dargestellten Bescheides eingebrachte Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Gleichlautende Entscheidungen ergingen in den Verfahren der Ehefrau und der minderjährigen Tochter des Beschwerdeführers.
Begründend hielt der erkennende Senat des Asylgerichtshofes fest, dass der Beschwerdeführer aufgrund der insgesamt vagen, unschlüssigen und unplausiblen sowie teilweise widersprüchlichen Darstellung des behaupteten Fluchtgrundes eine ihm im Herkunftsstaat zum Entscheidungszeitpunkt drohende asylrelevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können.
3. Die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers als subsidiär Schutzberechtigter wurde regelmäßig, zuletzt mit - gemäß § 58 Abs. 2 AVG nicht näher begründetem - Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2018 für den Zeitraum bis 23.09.2020 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verlängert.
4. Mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 148a Abs. 1, 148a Abs. 2 erster und zweiter Fall StGB, § 15 StGB, § 241e Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von zehn Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist.
5. Am 07.03.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im gegen seine Person eingeleiteten Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab an, er spreche muttersprachlich Tschetschenisch, außerdem beherrsche er Russisch sowie Deutsch auf dem Niveau B1. Er sei gesund, benötige keine Medikamente und habe in den bisherigen Einvernahmen der Wahrheit entsprechende Angaben erstattet. In Österreich habe er als Security, Lagerarbeiter, auf Baustellen und als Maurer gearbeitet. Seinen Lebensunterhalt habe er durch den Bezug von Familienbeihilfe sowie seine Erwerbstätigkeit bestritten. Zuletzt habe er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einem gemeinsamen Haushalt gewohnt. Seine Frau habe er in Tschetschenien traditionell und in Österreich standesamtlich geheiratet. Nach seiner Entlassung aus der Strafhaft sei es wichtig für ihn, zu arbeiten, damit seine Kinder zur Schule gehen könnten. Die Straftat sei die erste in seinem Leben und eine Lehre für ihn gewesen. Neben seiner (Kern)Familie befänden sich in Österreich seine Schwiegereltern, vier Schwestern seiner Frau, sowie ein Cousin und eine Schwester des Beschwerdeführers. Die Frage, ob zu seinen Angehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis in finanzieller Hinsicht oder wegen einer Pflegebedürftigkeit bestehe, wurde vom Beschwerdeführer verneint; sie würden einander regelmäßig besuchen. Das Sorgerecht für die vier Kinder komme seiner Frau und ihm gemeinsam zu. Er hätte einen Freundeskreis in Österreich. In Tschetschenien würden noch seine Eltern sowie ein Onkel und eine Tante leben, mit welchen er den Kontakt während seines Aufenthaltes in Österreich aufrechterhalten habe und welche davon berichtet hätten, dass die Lage in der Heimat unmöglich sei und es dort kein freies Leben gebe; damit meine er, dass er dort nichts lernen und keine Arbeit finden könnte. Nach wie vor komme es dort zur Tötung von Menschen.
Auf die Frage nach den aktuell einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehenden Gründen wiederholte der Beschwerdeführer, dort für sich und seine Familie keine Möglichkeit zu leben zu sehen. Außerdem fürchte er, dass man ihn auch jetzt noch für den Fehler von damals bestrafen werde. Seine Eltern würden immer sagen, er solle in Österreich bleiben, da dies sicherer für ihn und seine Familie sei. Im Falle einer Abschiebung würde er sofort von Leuten des Kadyrow in Empfang genommen werden. Eine Abschiebung wäre der sichere Tod für ihn. Die Frage, ob er von russischen Behörden oder den Gefolgsleuten von Kadyrow gesucht werde, bejahte der Beschwerdeführer. Angesprochen auf seinen russischen Auslandsreisepass erklärte der Beschwerdeführer, er sei nie auf einer Botschaft gewesen und könne sich nicht erinnern, wo er den Pass herhätte. Der Beschwerdeführer würde eine freiwillige Rückkehr einer Abschiebung vorziehen, er ersuche jedoch um eine weitere Chance; er bereue seine Tat und sehe keine Zukunft in Russland.
6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 02.03.2009 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die mit Bescheid vom 11.09.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt VII.).
Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich die subjektive Lage des Beschwerdeführers geändert hätte und dieser im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Gefährdungs- oder Bedrohungslage zu befürchten hätte. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei ursprünglich im Rahmen eines Familienverfahrens erfolgt, zumal seine damals minderjährige Ehefrau wegen der Krankheit ihrer Mutter subsidiären Schutz, ebenfalls im Familienverfahren, erhalten hätte. Hierzu sei festzuhalten, dass im Falle des Beschwerdeführers korrekterweise nie die Voraussetzungen für eine Schutzgewährung im Familienverfahren vorgelegen hätten, zumal § 34 Abs. 6 AsylG 2005 eine Weitergabe von selbst im Familienverfahren erhaltenem Schutz ausschließe, wobei die Behörde diesen Umstand aufgrund der Rechtskraft der Entscheidung und mehrfachen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nicht als Grund für eine Aberkennung heranziehen könne. Jedoch sei neben der Straffälligkeit des Beschwerdeführers eine Änderung sowohl seiner subjektiven Lage als auch der objektiven Gegebenheiten in seinem Herkunftsstaat eingetreten. Den Länderberichten sei keine allgemeine Gefahrenlage aufgrund eines Bürgerkrieges zu entnehmen. Die Ehefrau des Beschwerdeführers sei mittlerweile volljährig und seine Schwiegermutter sei nicht mehr in einem Ausmaß erkrankt, welches die Gewährung subsidiären Schutzes erforderlich werden ließe. Überdies habe der Beschwerdeführer sich durch die im Jahr 2015 erfolgte Ausstellung eines russischen Auslandsreisepasses selbst wieder unter den Schutz seines Heimatlandes gestellt. Eine aktuelle Gefährdungslage des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat sei nicht ersichtlich, sodass er den Schutz des Aufnahmestaates nicht mehr benötige.
Der Beschwerdeführer könne seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Der Beschwerdeführer, welcher mit Sprache und Kultur seines Heimatlandes vertraut sei, habe nach wie vor Angehörige in Tschetschenien, von deren Seite ihm nach einer Rückkehr Unterstützung zu Teil werden könne, zudem sei er gesund und zur Teilnahme am Erwerbsleben fähig. Konkrete Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr in die Russische Föderation dem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein würde, lägen nicht vor, sodass der Schutzstatus abzuerkennen und die befristete Aufenthaltsberechtigung zu entziehen gewesen sei.
Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 seien im Verfahren nicht hervorgekommen.
Der Beschwerdeführer sei verheiratet und habe vier Kinder, wobei zuletzt eine gemeinsame Meldeadresse vorgelegen hätte, sodass von einem aufrechten Familienleben ausgegangen werde. Überdies bestünde keine Abhängigkeit zu seiner Verwandtschaft oder seinen Kindern. Seiner Frau und seinen Kindern wäre es möglich, den Beschwerdeführer in die Russische Föderation zu begleiten und das gemeinsame Familienleben dort fortzusetzen. Der Beschwerdeführer sei laut einem vorliegenden Versicherungsdatenauszug seit dem rund zehn Jahre zurückliegenden Zeitpunkt der Schutzgewährung insgesamt lediglich zehn Monate einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen. Dieser habe sich Deutschkenntnisse angeeignet und ginge aktuell einer Arbeit nach, andere Bindungen zu Österreich hätte er jedoch nicht vorgebracht. Das Gewicht der familiären und privaten Bindungen werde durch die begangene Straftat relativiert und es würden aus diesem Grund die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen, sodass sich ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers als verhältnismäßig erweise. Die vorliegende Verurteilung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten indiziere gemäß § 53 Abs. 3 FPG das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit und es sei aufgrund der vom Beschwerdeführer verursachten, nur marginal unter EUR 300.000,- liegenden, Schadenshöhe eine Dauer des Einreiseverbotes von sieben Jahren gerechtfertigt, zumal auch der Tatzeitraum von rund zweieinhalb Jahren deutlich zeige, dass der Beschwerdeführer nicht gewillt sei, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Die Gesamtbeurteilung seines Verhaltens, seiner Lebensumstände in Österreich, sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte ergebe, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angeführten Dauer gerechtfertigt und notwendig sei, um der von ihm ausgehenden schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu begegnen.
7. Mit am 04.06.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, eine Rückführung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation würde entgegen den Feststellungen der Behörde eine maßgebliche Gefährdung für diesen bedeuten.
Die Behörde habe ihrer Entscheidung unzureichende Länderberichte zugrunde gelegt, sodass auf ergänzendes Berichtsmaterial zur Lage von Rückkehrern, zur Kollektivbestrafung von Verwandten mutmaßlicher Rebellen, zur allgemeinen Menschenrechts- und Sicherheitslage, zu aus Russland stammenden IS-Kämpfern und zur Situation von Tschetschenen in der Russischen Föderation verwiesen wurde. Bei richtiger Würdigung hätte die Behörde zur Feststellung gelangen müssen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage jedenfalls eine Verletzung in seinen nach Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechten drohe. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer Verwandte in Tschetschenien hätte, habe bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung subsidiären Schutzes im Jahr 2009 vorgelegen und stelle demnach keine Änderung seiner subjektiven Lage dar. Ebensowenig sei die zwischenzeitliche Volljährigkeit der Ehefrau, welche überdies auch schon zur Zeit der Verlängerungsbescheide vorgelegen hätte, einen Grund für eine Aberkennung. Wie die Behörde zur Feststellung gelange, dass sich der Gesundheitszustand der Schwiegermutter des Beschwerdeführers gebessert hätte, bleibe unklar. Die Ehefrau und Schwiegermutter seien nach wie vor subsidiär schutzberechtigt, sodass sich an der relevanten Lage nichts geändert hätte. Die Erlangung eines Auslandsreisepasses bilde keine Grundlage für eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten. Die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid entgegen richtlinienkonformer Interpretation des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 (Art. 16 Abs. 2 der Statusrichtlinie) eine grundlegende und dauerhafte Änderung jener Umstände, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes geführt hätten, nicht aufgezeigt. Da eine Änderung der individuellen Gefährdungsprofile des Beschwerdeführers nicht eingetreten sei und auch eine maßgebliche Änderung der allgemeinen Situation im Herkunftsland zu Lasten des Beschwerdeführers nicht festgestellt werden könne, seien die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nicht erfüllt und der angefochtene Bescheid daher ersatzlos zu beheben.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erscheine bei einer korrekten Interessensabwägung als unverhältnismäßig. Der Beschwerdeführer lebe seit 2008 mit seiner Ehefrau in Österreich und führe mit dieser und den vier gemeinsamen ebenfalls subsidiär schutzberechtigten Kindern ein schützenswertes Familienleben. Er befinde sich in aufrechten Arbeitsverhältnissen, spreche bereits sehr gut Deutsch und habe zahlreiche Angehörige in Österreich. Die Straftaten des Beschwerdeführers seien unbestritten und sollen nicht verharmlost werden, es sei jedoch unrichtig, dass dieser eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Hinsichtlich seiner Straffälligkeit zeige der Beschwerdeführer vollständige Reue. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung werde beantragt.
Beiliegend übermittelt wurden ein Sozialversicherungsdatenauszug vom 27.05.2019, ein Dienstvertrag, Bestätigungen über den Besuch von Deutschkursen (zuletzt auf dem Niveau B1 im November 2012), Deutschzertifikate auf dem Niveau A2 und B1 aus den Jahren 2011/2012, sowie ein ÖSD-Zertifikat auf dem Niveau A2 aus September 2016.
8. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 17.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. In einer Stellungnahme zur Beschwerde vom 07.06.2019 führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, die in der Beschwerde nicht substantiiert vorgebrachten Sachverhalte könnten die im Bescheid getroffenen Feststellungen und Würdigungen nicht ändern, weshalb beantragt werde, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und bekennt sich zum moslemischen Glauben. Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2008 zusammen mit seiner damals minderjährigen Ehegattin, seiner Schwiegermutter und weiteren Angehörigen illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 14.02.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.03.2009, Zahl 08 01.621-BAT, im Umfang der Gewährung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer gemäß §§ 8 Abs. 1 iVm 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, welche zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2018 für den Zeitraum bis 23.09.2020 verlängert wurde.
Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde im Bescheid des Bundesasylamtes vom 02.03.2009 damit begründet, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Eigenschaft als Familienangehöriger seiner damals minderjährigen Ehegattin sowie seiner zwischenzeitlich im Bundesgebiet geborenen Tochter, welchen der Status der subsidiär Schutzberechtigten jeweils ihrerseits nach den Bestimmungen des Familienverfahrens zuerkannt worden war (die damals minderjährige Ehegattin leitete ihren Schutzstatus von ihrer Mutter ab, welcher der Status einer subsidiär Schutzberechtigten originär aufgrund ihres damaligen Gesundheitszustandes zuerkannt worden war), Anspruch auf den gleichen Schutzumfang hätte. Eine individuelle Gefährdung seiner Person im Herkunftsstaat wurde nicht festgestellt.
Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 26.07.2012, Zahl D1 400680-2/2009/9E, wurde die sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtende Beschwerde als unbegründet abgewiesen, wobei ausgeführt wurde, dass der Beschwerdeführer die vorgebrachten Fluchtgründe und eine ihm im Herkunftsstaat drohende individuelle Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können.
1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er Russisch und hat nach wie vor enge Angehörige im Herkunftsstaat. Seine Eltern, ein Onkel und eine Tante halten sich unverändert in Tschetschenien auf. Der Beschwerdeführer, welcher sein Heimatland im Erwachsenenalter verlassen hat, nachdem er dort die Hochschule besucht hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Im Mai 2015 ließ sich der Beschwerdeführer einen russischen Auslandsreisepass ausstellen.
1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs nach §§ 148a Abs. 1, Abs. 2 erster und zweiter Fall, 15 StGB sowie der Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünfzehn Monaten verurteilt, von der ihm ein Teil in der Höhe von zehn Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden ist.
Der Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Zeitraum vom 02.05.2016 bis 22.10.2018 gewerbsmäßig mit dem Vorsatz, sich unrechtmäßig zu bereichern, näher angeführten Unternehmen dadurch, dass er an einer Datenverarbeitungsanlage das Ergebnis der automationsunterstützten Datenverarbeitung durch Eingabe von Daten beeinflusste, indem er sich bei zumindest 1.1014 Onlinebestellungen unter falschem Namen als Kunde registrierte, Lieferungen von Waren veranlasste, die Lieferungen dann via Post-App auf anonyme Postabholstationen umleitete und die Waren abholte, am Vermögen geschädigt bzw. zu schädigen versucht und durch die Tat einen Schaden von gesamt EUR 293.059,23, somit einen EUR 5.000,- übersteigenden Schaden, herbeigeführt hat. Zudem hat der Beschwerdeführer ab einem nicht feststellbaren Zeitpunkt bis zum 24.10.2018 unbare Zahlungsmittel - nämlich eine Bankomatkarte und eine Kreditkarte -, über die er nicht verfügen durfte, mit dem Vorsatz, deren Verwendung im Rechtsverkehr zu verhindern, unterdrückt, indem er sie bei sich verwahrte.
Im Rahmen der Strafbemessung wertete das Landesgericht das reumütige Geständnis, die Unbescholtenheit des Beschwerdeführers, sowie den Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben sei, als mildernd, als erschwerend hingegen wurden die Tatwiederholung im Rahmen der Gewerbsmäßigkeit, der hohe Schadensbetrag sowie das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen gewertet.
Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet würde eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen, da anhand seines bisherigen Verhaltens eine neuerliche Straffälligkeit zu prognostizieren ist.
1.4. Der Beschwerdeführer lebt im Bundesgebiet in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehegattin und deren vier gemeinsamen minderjährigen Kindern, welche ebenfalls russische Staatsangehörige und im Bundesgebiet subsidiär schutzberechtigt sind. Desweiteren halten sich im Bundesgebiet die Schwiegereltern, vier Schwägerinnen, ein Cousin sowie eine Schwester und Neffen des Beschwerdeführers auf. Zu diesen Angehörigen liegt jeweils eine Beziehung, wie sie zwischen Verwandten dieser Art üblich ist, jedoch kein spezielles Abhängigkeitsverhältnis vor. Der Beschwerdeführer hat die deutsche Sprache auf dem Niveau B1 erlernt. Der Beschwerdeführer hat sich im Zeitraum ab der Zuerkennung des Schutzstatus im März 2009 bis zum Zeitpunkt seiner Haftentlassung im Jänner 2019 für eine Dauer von zusammengerechnet rund zehn Monaten in Beschäftigungsverhältnissen befunden und seinen Lebensunterhalt im Übrigen durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen bestritten. Im Mai 2019 hat er einen Vertrag über ein unbefristetes Vollzeit-Arbeitsverhältnis mit einem stündlichen Grundgehalt von EUR 10,05 brutto abgeschlossen.
1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).
Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).
Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
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1. SICHERHEITSLAGE
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
- BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
1.1. Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ?Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ?Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
- DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
1.2. Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
2. RECHTSSCHUTZ / JUSTIZWESEN
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
2.1. Tschetschenien
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).
Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018
- HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018
- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
3. FOLTER UND UNMENSCHLICHE BEHANDLUNG
Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).
Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).
Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).
Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).
Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018
- EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018
- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018
- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
- NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018
- Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 3.8.2018
- US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
4. KORRUPTION
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen sowie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in de