TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/13 W122 2200180-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.03.2020
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Entscheidungsdatum

13.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W122 2200180-1/29E

W122 2200184-1/21E

W122 2200080-1/17E

W122 2223955-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER über die Beschwerde von 1) XXXX , geboren am XXXX , 2) XXXX alias XXXX geboren am XXXX , von der minderjährigen 3) XXXX , geboren am XXXX , und dem minderjährigen 4) XXXX , geboren am XXXX , beide gesetzlich vertreten durch die Mutter XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Volkshilfe Flüchtlingsdienst- und MigrantInnenbetreuung GmbH - ARGE Rechtsberatung, 1170 Wien, Wattgasse 48/3.Stock, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2018, Zl. 1077542700-150837469, Zl. 1077543000-150837507 und Zl. 11778993300-180050126 sowie dem Bescheid vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 05.09.2019, Zl. 1242857903-190855415 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.11.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (nunmehr "BF1"), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin (nunmehr "BF2"), zugleich seine bereits in Afghanistan verehelichte Ehefrau illegal in Österreich ein. Beide stellten am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF wurden am XXXX von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers zu ihrer Identität, ihrer Reiseroute, ihrem Fluchtgrund und einer allfälligen Rückkehrgefährdung befragt. Als Fluchtgrund gab der BF1 an, dass er in Afghanistan vor ein paar Jahren entführt und misshandelt worden sei. Nach der Bezahlung von Lösegeld sei der BF1 freigelassen worden, jedoch seien die Bedrohungen auch nach der Hochzeit mit der BF2 weitergegangen, sodass beide das Land verlassen hätten. Die BF2 berief sich auf die Fluchtgründe des BF1. Beide hätten im Falle ihrer Rückkehr Angst um ihr Leben, weil die beiden, aufgrund der wohlhabenden Familie des BF1, dann wieder entführt und erpresst werden würden.

2. BF1 und BF2 wurden am 16.10.2017 vor der belangten Behörde - dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - im Beisein eines Dolmetschers niederschriftlich zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen. Vorab gab der BF1 an, dass er zwar gesund sei, er aber, seitdem er sich im Bundesgebiet aufhalte, nicht glücklich sei und er einen Termin wegen seiner psychischen Probleme habe. Er stamme aus dem Distrikt XXXX in der Provinz Herat, sei tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit und gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er legte seine Tazkira, drei Dienstausweise und eine Heiratsurkunde in Kopie vor. Er habe seine Cousine mütterlicherseits vor über vier Jahren traditionell geheiratet. Diese Ehe sei nicht arrangiert gewesen. Seine Ehefrau sei mittlerweile im sechsten Monat schwanger. Afghanistan habe er zusammen mit seiner Ehefrau legal verlassen. Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht, allerdings dann nur kurz studiert und in weiterer Folge zahlreiche Berufe ausgeübt. Eine spezifische Berufsausbildung habe er nicht gemacht. Er habe lange Zeit im Elternhaus gelebt und sei nach der Hochzeit mit seiner Ehefrau in eine Mietwohnung gegangen. Von seinen noch lebenden Verwandten, seiner Mutter, vier Brüdern und vier Schwestern würden die meisten noch in Afghanistan aufhältig sein. Sein Vater sei bereits verstorben. Zu seinen Familienangehörigen habe er wenig Kontakt, weil diese gegen seine Ehe gewesen seien. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der BF1 an, sein Heimatland verlassen zu haben, weil sich die Familien nicht verstanden hätten und er in Ruhe habe leben wollen. Seine Frau sei glücklich hier, er selbst nicht. Er sei aufgrund eines Verkehrsunfalles im Gefängnis gewesen und nach einer Geldzahlung acht oder neun Tage später freigekommen. Er und seine Schwester seien bei der Polizei gewesen. Als Schiite hätte man in Afghanistan auch noch Probleme, jedoch sei er persönlich aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nie bedroht worden. Die Angaben zu seinem Fluchtgrund bei der Erstbefragung seien jedenfalls gelogen gewesen. Zu weitschichtigen in Europa lebenden Verwandten habe der BF1 keinen Kontakt. In Österreich habe er zahlreiche Sprach- und Integrationskurse besucht, jedoch habe er - abgesehen von gemeinnütziger Tätigkeit - in Österreich noch keiner Arbeit nachgehen können.

3. Die BF2 gab an, dass sie tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit sei und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam angehöre. Ihre Muttersprache sei Dari und sie stamme aus Herat. Sie sei seit 2013 mit dem BF1 verheiratet und nun im sechsten Monat schwanger. In Afghanistan habe sie die Schule abgeschlossen und danach zwei Jahre lang Agrarwirtschaft studiert, ehe sie in einer Schule für Gehörlose gearbeitet habe. Sie habe nach der Hochzeit dort aufgehört zu arbeiten, weil die Familie ihres Mannes dagegen gewesen sei, dass sie weiterarbeite. Ihr Ehemann sei sehr gereizt und habe sie auch geschlagen. In Österreich habe er sie jedoch noch nicht geschlagen. Ihre Eltern, ihre Schwester und ihre Brüder würden noch in Herat leben und es würde ihnen sehr gut gehen. Afghanistan habe sie verlassen, weil sich die Familie ihres Mannes in ihr Leben eingemischt habe. Ihre Schwiegermutter habe immer mit ihr diskutiert und sie habe nicht widersprechen dürfen. Sie würde ihren Mann aber lieben, auch wenn dieser schnell zornig werden würde und sie geschlagen habe. Sie habe mit ihrem Vater über diese Situation gesprochen, jedoch meinte er, dass sie ihrem Mann folgen solle. Gefragt, warum die BF2 mit ihrem Mann nicht in eine andere afghanische Stadt gegangen sei, führte sie aus, dass sie wegen der Freiheit nach Österreich gekommen sei. Innerhalb Afghanistans hätte die Familie eines Tages auftauchen können. Darauf aufmerksam gemacht, dass sie auch in Afghanistan bereits ein sehr freies Leben geführt habe, vermeinte die BF2 nur, dass dies nur bis zu ihrer Hochzeit möglich gewesen sei. In Kabul sei es nicht möglich, ein freies Leben zu führen. In Österreich habe sie lange nicht einen Deutschkurs besuchen können oder sich um eine Arbeitsstelle bemühen können, weil sie weit weg von einer größeren Stadt leben würde. Das Pendeln dorthin oder auch das Leben dort seien zu teuer. Sie lebe von der Grundversorgung, habe bereits ehrenamtlich gearbeitet und viele österreichische Freunde gefunden. Zum Vorbringen in der Erstbefragung könne sie nichts Näheres sagen, weil sich dies alles auf ihren Mann bezogen habe und sie diese Sachen nur vom Hörensagen kenne.

4. Mit Meldung vom 02.11.2017 wurde dargelegt, dass der BF1, zusammen mit der BF2, in einer Polizeiinspektion erschienen sei und er darum gebeten habe, dass man ihn erschieße, weil seine Dokumente seitens des BFA geprüft werden würden. Der BF1 sei danach zu einem Arzt wegen Selbstgefährdung vorgeführt worden.

5. Am 30.11.2017 wurde ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten betreffend dem BF1 erstellt. Dieses sei zu dem Schluss gekommen, dass der BF1 an einer Anpassungsstörung leiden würde, die allerdings lediglich aufgrund der Ungewissheit des Ausgangs des Asylverfahrens aufgetreten sei. Eine ihm eingeräumte zweiwöchige Frist zur Stellungnahme zu diesem Gutachten ließ der BF unbeantwortet verstreichen.

6. Am 09.01.2018 wurde die Drittbeschwerdeführerin (nunmehr "BF3") geboren. Durch Vorlage der Geburtsurkunde und dem Meldezettel wurde für die BF3 seitens der beiden gesetzlichen Vertreter am 15.01.2018 ein Asylantrag im Familienverfahren gestellt und für die BF3 keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

7. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 30.05.2018 wurden der Anträge des BF1, der BF2 und der BF3 auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF1, der BF2 und der BF3 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF1, die BF2 und die BF3 wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass deren Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Beweiswürdigend wurde betreffend des BF1 festgehalten, dass dessen Ausführungen bezüglich der vorgebrachten Verfolgungsszenarien keine asylrechtliche Relevanz zu entnehmen gewesen sei. Seine diagnostizierte Anpassungsstörung würde kein Rückkehrhindernis darstellen. Eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz sei möglich, weil er aus einer relativ sicheren Provinz stamme. Bezüglich der BF2 wurde festgehalten, dass sie bereits in Afghanistan ein selbstbestimmtes Leben geführt habe und die Schilderungen nicht glaubhaft gewesen seien, weil es nicht nachvollziehbar gewesen sei, dass es innerhalb einer Familie derart große Unterschiede zwischen konservativer und liberaler Einstellung geben würde. Außerdem sei es nicht nachvollziehbar gewesen, dass man bei Vorliegen dieser Probleme nicht innerhalb Afghanistans übersiedelt, um eine räumliche Trennung zu haben. Eine Rückkehr nach Afghanistan in den Familienverband sei daher zumutbar. Da für die BF3 keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht worden seien, sei deren Antrag negativ zu entscheiden gewesen, zumal sich dieser auf die Fluchtgründe der Eltern gestützt habe und deren Anträge ebenfalls negativ entschieden worden seien.

8. Mit Verfahrensanordnung vom 01.06.2018 wurde dem BF1, der BF2 und der BF3 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 01.06.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG für den BF1, die BF2 und die BF3 angeordnet.

9. Mit Schreiben vom 28.06.2018 erhoben der BF1, die BF2 und die BF3, vertreten durch den beigegebenen Rechtsberater, vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung, unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Es wurde eingewandt, dass die BF aufgrund der westlichen Orientierung der BF2 und der durch die Geburt der BF3 geänderten Situation eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft wäre und ein asylrechtlich relevanter Sachverhalt vorliege. Des Weiteren weise die Beschwerde auf die Situation der Frauen in Afghanistan hin und bekräftigte, dass die BF2 aufgrund ihrer Hochzeit ihr selbstbestimmtes Leben habe aufgeben und sie sich dem traditionellen Leben in der Schwiegerfamilie habe beugen müssen. Jedenfalls sei den BF aufgrund der aktuellen Lage in Afghanistan subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Unter dem Gesichtspunkt der Integration führte die Beschwerde aus, dass die BF unbescholten seien und sie sich in sprachlicher Hinsicht bereits integriert hätten. Die zahlreichen Referenzschreiben und Teilnahmebestätigungen an gemeinnütziger Tätigkeit würden ebenfalls darlegen, dass sich die BF integriert und einen Freundeskreis aufgebaut hätten.

10. Am 04.07.2018 legte das BFA die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor. Zugleich erklärte die belangte Behörde, dass das BVwG die Beschwerde als unbegründet abweisen möge.

11. Mit Eingabe vom 26.02.2019 erfolgte eine (gemeinsame) Beschwerdeergänzung, mit welcher eine afghanische Heiratsurkunde, eine afghanische Tazkira betreffend BF2 und ein afghanisches Auszeichnungsschreiben betreffend die BF2 über ihre Tätigkeit als Lehrerin vorgelegt wurden.

12. Mit Eingabe vom 05.03.2019 übermittelten der BF1 und die BF2 weitere Integrationsunterlagen.

13. Am 01.05.2019 erging ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Oberösterreich, dass der BF1 im Verdacht steht, bei einem Deutschkurs in einen Raufhandel verwickelt gewesen zu sein.

14. Am 17.07.2019 erging ein Bericht der Landespolizeidirektion Oberösterreich, dass der BF1 verdächtigt wird, im Zuge einer Fahrprüfung durch unsachgemäße Verwendung des KFZ, Schäden an diesem verursacht zu haben.

15. Am 05.08.2019 wurde der BF4 geboren und für ihn am 21.08.2019 ein Asylantrag im Familienverfahren gestellt. Am 05.09.2019 erging der vollabweisende Bescheid gegen den BF4. Am 16.09.2019 erfolgte die Beschwerdeerhebung seitens der rechtsfreundlichen Vertretung des BF4.

16. Am 15.10.2019 erging ein Bericht der Landespolizeidirektion Oberösterreich, dass der BF1 im Verdacht steht, einen Mordversuch und einen Mord begangen zu haben. Am 17.10.2019 wurde gegen den BF1 seitens des Landesgerichts XXXX die Untersuchungshaft verhängt. Am selben Tag erging die Verfahrensanordnung des BFA, dass der BF1 gem. §13 AsylG das Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verloren habe.

17. Am 30.10.2019 beantragte die rechtsfreundliche Vertretung die Trennung der Verfahren der BF2, dem BF3 und der BF4 vom BF1, weil sich dieser in Untersuchungshaft befinden würde und er mehrmals gegenüber der BF2 gewalttätig geworden sei.

18. Das Bundesverwaltungsgericht (nunmehr "BVwG") führte am 04.11.2019 in Anwesenheit von Vertretern der belangten Behörde, des ausgewiesenen Rechtsvertreters der BF und eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Der BF1 war im Beisein eines rechtlichen Vertreters aus der Justizanstalt XXXX via Videokonferenz zugeschalten. Im Zuge der Verhandlung über das gegenständliche Beschwerdeverfahren wurde auch die BF2 ausführlich zu ihren Beweggründen hinsichtlich der Ausreise aus Afghanistan und allfälligen Rückkehrbefürchtungen befragt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gab der BF1 an, dass er verheiratet sei und er die originale Heiratsurkunde im Verfahren vorgelegt habe. Zu seinen in Afghanistan lebenden Verwandten habe er zuletzt keinen Kontakt mehr gehabt. Seine Frau habe ihn im Gefängnis bislang noch nicht besucht. Falls sie nach Afghanistan zurückkehren würde, dann würden sich sowohl seine Großfamilie als auch die Schwiegerfamilie um seine Familie kümmern. Über die Lage in Herat könne er derzeit nichts sagen, weil er im Gefängnis sei. Seine vier Brüder würden aber dort aufhältig sein und in diversen Branchen arbeiten. Er selbst habe in Afghanistan maturiert, ein Jahr studiert und dann in diversen Branchen gearbeitet. In Österreich habe er Deutsch bis zum Niveau B1 gelernt. Eine Ausbildung habe er hier nicht machen dürfen. Er habe nach dem negativen Bescheid wieder nach Afghanistan zurückgehen wollen, jedoch sei seine Frau dagegen gewesen. Afghanistan habe er im Jahr 2015 mit seiner Frau legal in den Iran verlassen. Von dort aus seien sie illegal weitergereist. Afghanistan habe er aufgrund familiärer Probleme verlassen, weil seine Familie gegen die Ehe mit seiner Frau gewesen sei. Im Falle einer Heimkehr könne er überall in Afghanistan leben. Seine Frau wolle jedoch in Österreich bleiben, weil es ihr hier gut gehen würde. Sie sei mit der Kinderbetreuung ausgelastet, allerdings ansonsten selbstständig. Im Falle ihrer Rückkehr würde sie zu hundert Prozent von den Eltern oder Schwiegereltern aufgenommen werden. Seine Frau sei auch schon vor der Ausreise aus Afghanistan selbstständig gewesen. Sie habe maturiert, zwei Jahre lang studiert und danach als Lehrerin für schwerhörige Behinderte gearbeitet. Seine Kinder würden in Afghanistan auch eine Schulbildung erhalten. Vom gestellten Antrag seines rechtsfreundlichen Vertreters, dass das Familienverfahren getrennt werden sollte, wisse er nichts.

Danach kam es zur Einvernahme der BF2. Sie gab an, gesund zu sein und vermeinte am 31.01.1992 geboren worden zu sein, weil dieses Datum ihre Mutter auf den Koran geschrieben habe. Sie sei afghanische Staatsangehörige und stamme aus Herat. Sie sei Schiitin und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. In Afghanistan habe sie Probleme mit der Familie ihres Mannes gehabt. Ihren Mann habe sie in Herat geheiratet und die Ehe sei eingetragen worden. Sie habe ihren Schwiegereltern erzählt, dass der BF1 wegen Mordverdacht im Gefängnis sei. Diese hätten gemeint, dass der BF1 seit dem Eingehen der Ehe verrückt geworden sei. Der BF1 habe sie auch mehrmals geschlagen und zwar sowohl in Afghanistan als auch in Österreich, was ein vorgelegter Artikel einer österreichischen Tageszeitung auch darlegen sollte. Sie habe diesbezüglich aber nichts unternommen, weil sie sich mit ihrer eigenen Familie darüber beraten habe und diese ihr zu diesem Schritt geraten habe. Mittlerweile würde sie sich aber scheiden lassen, weil sie nicht mit einem zweifachen Mörder, der sie ebenfalls geschlagen habe, zusammenleben möchte. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde sie zu ihrer Schwiegerfamilie zurückgehen müssen, solange sie nicht geschieden sei. Ihre Kinder würden aber in der Familie des Ehemannes verbleiben. In Afghanistan würden noch ihre Eltern, zwei Brüder und eine Schwester leben, wobei die Schwester Rechtswissenschaften studieren würde. Sie selbst habe maturiert und an einem Institut zwei Jahre lang studiert, ehe sie zwei Jahre als Lehrerin gearbeitet habe. Nach der Heirat habe sie aber weniger gearbeitet. Im Falle einer Rückkehr würde sie entweder von ihrem Vater oder von ihrer Schwiegerfamilie versorgt werden, wobei sie mit der Schwiegerfamilie verfeindet sei. Die Familie habe nicht gewollt, dass sie den BF1 heirate und nach der Begehung der Straftaten habe die Schwiegermutter mit der BF2 gestritten und gemeint, dass sie daran schuld sei, dass der BF1 zu solchen Dingen fähig gewesen sei.

In Österreich habe sie Deutschkurse besucht, sei gemeinnützig tätig gewesen und habe sich einen Freundeskreis aufgebaut. Sie wolle in Österreich bleiben, damit sie ihre Kinder nicht verliere und sie ihre Freiheit behalten könne. Ihre Schwiegermutter sei sehr streng und deswegen würde ihr auch ihr Vater im Falle einer Rückkehr nicht helfen können. Seitdem ihr Mann im Gefängnis sei, habe sie ihr Kopftuch abgenommen und ihren Kleidungsstil verwestlicht. Afghanistan habe sie 2015 verlassen. Sie habe dort Probleme mit ihrer Schwiegermutter gehabt, die sehr streng gewesen sei. Auch der Rest der Familie habe sich ihr gegenüber schlecht verhalten und ihr Mann habe ihr viele Dinge nicht erlaubt. Im Falle einer Rückkehr habe sie Angst davor, geschlagen und getötet zu werden. Sie habe Angst, dass ihre Schwiegerfamilie ihr die Kinder wegnehmen und sie schlagen würde, weil sie einen schlechten Einfluss auf ihren Mann habe. Seine Familie habe aber schon gewusst, dass er psychische Probleme gehabt habe, als er noch in Afghanistan gewesen sei. Frauen würden in Afghanistan auch leicht Opfer von willkürlicher Gewalt werden. In Afghanistan könne sie an keinem anderen Ort leben. Selbst bei einer Scheidung würde sie nicht von ihrer Schwiegerfamilie loskommen, weil die Schwiegermutter ihre Tante mütterlicherseits sei. An einen anderen Ort in Afghanistan könne sie auch nicht gehen, weil sie die Familie ihres Mannes suchen und Männer eine geschiedene Frau ebenfalls belästigen würden. Freiheit bedeute für sie, dass sie von niemandem unter Druck gesetzt werde. Sie wolle sich scheiden lassen, aber ihr Vater sei gegen eine Scheidung, weil dadurch seine Ehre niedriger werden würde. Vor der Schwiegermutter habe sie aber mehr Angst als vor ihrem Vater. Die Väter hätten keine Probleme untereinander gehabt, weshalb sie auch Trauzeugen gewesen wären. Es habe nur Probleme zwischen den Müttern gegeben. Ihr Ehegatte habe in Afghanistan schon psychische Probleme gehabt, die aber noch nicht ernsthaft gewesen seien. Erst in Österreich hätten diese sich verschlimmert.

19. Am 07.11.2019 übermittelte das BVwG der rechtsfreundlichen Vertretung der BF als Anlage eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des BFA zum Thema "Afghanistan - Verbot der Doppelbestrafung" und am 06.12.2019 als Anlage die neueste Länderinformation "Afghanistan", Stand 13.11.2019, zur Kenntnisnahme bzw. allfälligen Stellungnahme binnen 14 Tagen ab Zustellung des Schreibens. Die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ließ die rechtsfreundliche Vertretung jedoch in beiden Fällen - ohne Abgabe einer Stellungnahme - verstreichen.

20. In einer am 12.11.2019 ergangenen Stellungnahme gab die rechtsfreundliche Vertretung bekannt, dass sich die BF2 bei einem Interview nur deswegen verschleiert habe, um ihre Anonymität wahren zu können. Es wurden Lichtbilder vorgelegt, die bezeugen sollen, dass die BF2 schon vor der Verhaftung ihres Mannes einen westlichen Kleidungsstil gehabt habe und sie das Kopftuch seit dessen Verhaftung endgültig abgelegt habe.

21. Am 25.11.2019 legte die rechtsfreundliche Vertretung ein weiteres Beweismittel betreffend die BF2 vor. Eine am 20.11.2019 ausgestellte "Bestätigung über Psychotherapie" soll darlegen, dass die BF seit 15.10.2019 psychotherapeutische Gespräche durchführe und sie sich diesbezüglich in ärztlicher Behandlung befinde. Am 29.11.2019 wurden diesbezüglich auch zwei ärztliche Atteste vorgelegt.

22. Die BF legten im Laufe des Verfahrens zahlreiche Dokumente vor:

* Eine afghanische Tazkira, afghanischer Reisepass, afghanischer Führerschein und drei afghanische Dienstausweise betreffend BF1, eine afghanische Tazkira betreffend BF2 und eine afghanische Heiratsurkunde in Kopie betreffend BF1 und BF2

* Zahlreiche Empfehlungsschreiben betreffend BF1 und BF2

* Bestätigung über Durchführung gemeinnütziger Tätigkeiten betreffend BF1 und BF2

* Teilnahmebestätigungen an Werte- und Orientierungskursen betreffend BF1 und BF2

* Sprachzertifikat ÖSD A1 und Teilnahmebestätigungen an Sprachkursen betreffend BF1 und BF2

* Teilnahmebestätigung am Deutschkurs B1 betreffend BF2

* Zeugnis zur Integrationsprüfung betreffend BF1 und BF2

* Österreichische Geburtsurkunden betreffend BF3 und BF4

* Artikel der XXXX vom 27.10.2019 (Interview der BF2 über die Gewalttätigkeit des BF1)

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, die hg. Akten des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den BF, durch Einsicht in die vorgelegten Integrationsunterlagen und in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der BF, ihrem Leben in Österreich und einer Rückkehr nach Afghanistan:

Die volljährigen BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet und wie ihre beiden minderjährigen gemeinsamen Kinder (BF3 und BF4) Staatsangehörige von Afghanistan und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam zugehörig. Ihre Muttersprache ist Dari.

BF1 und BF2 sind in der Provinz Herat geboren und verbrachten dort auch ihr Leben. Beide haben zwölf Jahre lang die Schule besucht, maturiert und studiert sowie Arbeitserfahrung gesammelt. Nach ihrer Hochzeit lebten BF1 und BF2 bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan zwei Jahre lang an einer gemeinsamen Adresse in Herat. Sowohl die Familie des BF1 als auch die Familie der BF2 verfügen in Herat über Häuser und Grundstücke.

Der BF1 arbeitete in Afghanistan im Sauerstoffhandel, hat Küchenkabinette verkauft und Minen entschärft. Die BF2 arbeitete nach dem Abschluss ihres Agrarwissenschaftsstudiums zwei Jahre lang als Lehrerin in einer Schule für Gehörlose. Die beiden Familien sind miteinander verwandt, zumal BF1 und BF2 Cousin und Cousine sind. Die Schwiegermutter der BF2 ist daher auch ihre Tante mütterlicherseits.

BF1 und BF2 verließen Afghanistan im Frühjahr 2015 und reisten gemeinsam illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

Der BF1 lebte nach seiner Einreise in Österreich zusammen mit der BF2. Am 09.01.2018 wurde die BF3 und am 05.08.2019 der BF4 geboren. Die beiden sind die gemeinsamen Kinder des BF1 und der BF2. Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und sind nicht erwerbstätig. BF1 und BF2 absolvierten Deutschprüfungen und besuchten zuletzt Deutschkurse auf dem Niveau B1. Neben der Teilnahme an Werte- und Orientierungskursen waren BF1 und BF2 auch gemeinnützig tätig.

Der BF1 befindet sich seit dem 17.10.2019 wegen Verdachts des zweifachen Mordes in Untersuchungshaft. Er hat mit 17.10.2019 das Recht zu Aufenthalt im Bundesgebiet gem. § 13 AsylG verloren.

Die BF2 geht in ihrer Freizeit spazieren, schaut Fernsehen und pflegt freundschaftliche Kontakte zu Österreicherinnen. Sie ist kein Mitglied in einem Verein und hat, abgesehen von ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern, keine weiteren Verwandten oder wichtigen Bezugspersonen in Österreich.

Die BF2 befindet sich seit der Inhaftierung des BF1 in psychologischer Betreuung. Abgesehen davon ist sie gesund und benötigt keine weitere ärztliche Behandlung die in Afghanistan nicht möglich wäre. Sie leidet, so wie der BF1, die BF3 und der BF4 an keiner lebensbedrohenden Krankheit.

Die BF2 ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die von den BF ins Treffen geführten Fluchtgründe treffen nicht zu. Es kann festgestellt werden, dass die BF keiner konkret gegen ihre Personen gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihnen im Falle ihrer Rückkehr eine solche droht.

Die BF haben familiäre Anknüpfungspunkte in ihrem Herkunftsstaat. Sowohl die Familie des BF1 als auch die Familie der BF2 halten sich nach wie vor in der Heimatprovinz der BF in Herat auf. Der Kontakt zur Verwandtschaft in Herat ist aufrecht.

1.2. Zur Verfolgung der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer behaupteten "westlichen Orientierung":

Es wird festgestellt, dass die BF2 im Herkunftsstaat nicht aufgrund ihres Geschlechts einer Verfolgung ausgesetzt ist.

Es wird festgestellt, dass die BF2 während ihres Aufenthalts in Österreich keine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Sie wurde bereits in Afghanistan liberal erzogen, gut ausgebildet und sammelte Erfahrungen im dortigen Arbeitsmarkt. Die BF2 hat sich in ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen und Gesellschaftsbild orientiert.

Der Alltag der BF2 in Österreich unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von ihren zuletzt in Afghanistan ausgeübten Tätigkeiten. Sie kümmert sich auch in Österreich überwiegend um den Haushalt und nun auch um die Betreuung ihrer minderjährigen Kinder.

Es wird festgestellt, dass die BF2 bereits in Afghanistan ein liberales Leben führen konnte. So hat sie die Schule besucht, maturiert und ein Studium der Agrarwissenschaften abgeschlossen. Es war ihr auch möglich, dass sie in Afghanistan einer Arbeit in einer Schule für Gehörlose nachgehen hat können.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers - Afghanistan:

1.3.1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

1.3.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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