Entscheidungsdatum
04.05.2020Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15Spruch
W259 2220704-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ulrike RUPRECHT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch XXXX gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .05.2019, Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 04.05.2023 erteilt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der 17-jährige Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, brachte am 04.02.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz ein.
2. Am selben Tag fand eine Erstbefragung durch die Sicherheitsbehörden statt. Bei dieser gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass es in Syrien Bürgerkrieg gebe und er mit 16 Jahren zum Militär bzw. in den Krieg müsse, was er nicht wolle (AS 23). In Folge legte er seinen syrischen Personenregisterauszug vor (AS 35).
3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge "BFA") am 24.04.2019 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er Syrien verlassen habe, weil die PKK junge Leute zwangsrekrutiert habe. Seine Familie sei aus diesem Grund über Kurdistan in die Türkei geflohen. Sein Vater habe ihn weiter nach Österreich geschickt und gehofft, dass er die restliche Familie nachholen werde (AS 114).
4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.05.2020 (Spruchpunkt III.).
5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die gegenständliche fristgerecht erhobene Beschwerde. In der Beschwerdebegründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Beschwerdeführer entgegen der Ansicht des BFA nicht wirtschaftliche Fluchtgründe vorgebracht habe, sondern angegeben habe, dass er aus Angst vor einer drohenden Zwangsrekrutierung aus Syrien geflohen sei (AS 239).
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 06.02.2020 in Anwesenheit einer beeideten Dolmetscherin für die Sprache Arabisch und im Beisein des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers und der Betreuerin des minderjährigen Beschwerdeführers im XXXX eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der minderjährige Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er trägt den im Spruch angeführten Namen, ist am XXXX in XXXX geboren und im Dorf XXXX aufgewachsen. Der Beschwerdeführer verließ Syrien Ende 2018 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern.
Seine Familie befindet sich derzeit in der Türkei. Die ältere Schwester ist verheiratet und lebt in Schweden. Der Beschwerdeführer hat keine Brüder.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und hatte darüber hinaus keine Probleme mit Behörden.
1.2. Zum Fluchtgrund und zur Rückkehr:
Die Heimatregion des Beschwerdeführers steht unter kurdischer Kontrolle. Im Falle einer Rückkehr besteht für den 17-jährigen Beschwerdeführer die Gefahr, zum kurdischen Militärdienst eingezogen zu werden, was er ablehnt.
Er ist im Zusammenhang mit der Verweigerung des Militärdienstes der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.
1.3. Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom Oktober 2019:
Politische Situation
Die syrische Verfassung sieht die Baath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat (USDOS 13.3.2019). Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten zur Regierung Assads entwickeln könnten (FH 1.2018).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Baath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 10.8.2016).
Es gibt weiterhin Landesteile, in denen die syrische Regierung effektiv keine Kontrolle ausübt. Diese werden entweder durch Teile der Opposition, kurdische Einheiten, ausländische Staaten oder auch durch terroristische Gruppierungen kontrolliert (AA 13.11.2018; vgl. MPG 2018).
Am 13.4.2016 fanden in Syrien Parlamentswahlen statt. Das Parlament wird im Vier-Jahres- Rhythmus gewählt, und so waren dies bereits die zweiten Parlamentswahlen, welche in Kriegszeiten stattfanden (Reuters 13.4.2016; vgl. France24 17.4.2017). Die in Syrien regierende Baath-Partei gewann gemeinsam mit ihren Verbündeten unter dem Namen der Koalition der "Nationalen Einheit" 200 der 250 Parlamentssitze. Die syrische Opposition bezeichnete auch diese Wahl, welche erneut nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten stattfand, als "Farce". Die Vereinten Nationen gaben an, die Wahl nicht anzuerkennen (France24 17.4.2016).
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position. Seit der Machtergreifung Assads haben weder Vater noch Sohn politische Opposition geduldet. Jegliche Versuche eine politische Alternative zu schaffen wurden sofort unterbunden, auch mit Gewalt (USCIRF 26.4.2017). 2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Assad führten (USDOS 13.3.2019), wodurch dieser für weitere 7 Jahre im Amt bestätigt wurde (WKO 11.2018). Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten.
Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Nichtsdestotrotz wenden die Sicherheitskräfte in Tausenden Fällen solche Praktiken an (USDOS 13.3.2019). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 18.1.2018; vgl. AI 22.2.2018, USDOS 13.3.2019, AA 13.11.2018). Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen werden (AA 13.11.2018).
NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen (USDOS 13.3.2019; vgl. TWP 23.12.2018). Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung soll hierbei auch auf Personen abzielen, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 13.3.2019). Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren (AA 13.11.2018; vgl. AI 22.2.2018).
Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod der Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese Bedingungen waren so durchgängig, dass die UN Commission of Inquiry zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik. Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") an unbekannten Orten fest (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 13.11.2018, SHRC 24.1.2019). Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (MOFANL 7.2019).
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen. Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder um sie im Zuge eines "Freilassungsabkommens" auszutauschen (SHRC 24.1.2019).
Seit Sommer 2018 werden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe wenig glaubwürdiger amtlich festgestellter natürlicher Todesursachen (Herzinfarkt, etc.). Berichte von ehemaligen Insassen sowie Menschenrechtsorganisationen benennen als häufigste Todesursachen Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötung (AA 13.11.2018; vgl. SHRC 24.1.2019). Die syrische Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien (HRW 17.1.2019).
Mit Stand Dezember 2018 ist der Verbleib von 100.000 syrischen Gefangenen noch immer unbekannt. Laut Menschenrechtsgruppen und den Vereinten Nationen sind wahrscheinlich Tausende, wenn nicht Zehntausende davon umgekommen (TWP 23.12.2018).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).
Russland, der Iran und die Türkei haben im Zusammenhang mit den Astana-Verhandlungen wiederholt zugesagt, sich um die Missstände bezüglich willkürlicher Verhaftungen und Verschwindenlassen zu kümmern. Im Dezember 2017 gründeten sie eine Arbeitsgruppe zu Inhaftierungen und Entführungen im syrischen Konflikt, es waren bisher jedoch nur geringe Fortschritte zu verzeichnen (HRW 17.1.2019).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von Inhaftierten beschuldigt (FH 1.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Opfer sind vor allem (vermutete) regierungstreue Personen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Zu den Bedingungen in den Hafteinrichtungen der verschiedenen regierungsfeindlichen Gruppen ist wenig bekannt, NGOs berichten von willkürlichen Verhaftungen, Folter und unmenschlicher Behandlung. Der IS bestrafte häufig Opfer in der Öffentlichkeit und zwang Bewohner, darunter auch Kinder, Hinrichtungen und Amputationen mitanzusehen. Es gibt Berichte zu Steinigungen und Misshandlungen von Frauen. Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) werden systematische Misshandlungen von Gefangenen der Freien Syrischen Armee (FSA) und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vorgeworfen. Berichtet werden auch Folter und Tötungen von Gefangenen durch den IS (USDOS 13.3.2019).
Ethnische und religiöse Minderheiten
Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demographischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74% der Bevölkerung stellen, wobei diese sich unter anderem aus arabischen, kurdischen, tscherkessischen, tschetschenischen und turkmenischen Bevölkerungsanteilen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und Zwölfer Schiiten machen zusammen 13% aus, die Drusen 3%. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10% (USDOS 21.6.2019; vgl. MRG 5.2018a, AA 2.2018, CIA 11.2.2019). Laut Medien- und anderen Berichten ist davon auszugehen, dass viele Christen aufgrund des Bürgerkrieges das Land verließen, und die Zahl nun bedeutend geringer ist. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jeziden (USDOS 21.6.2019).
Die alawitische Gemeinde, zu der Bashar al-Assad gehört, genießt einen privilegierten Status in der Regierung und dominiert auch den staatlichen Sicherheitsapparat und das Militär (USDOS 13.3.2019).
In Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit besteht die syrische Bevölkerung zum Großteil aus Arabern (Syrer, Palästinenser, Iraker). Ethnische Minderheiten sind Kurden, Armenier, Turkmenen und Tscherkessen (AA 2.2018; vgl. MRG 5.2018a).
Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt von Seiten der Regierung gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl interkonfessionelle Elemente als auch Elemente ohne interkonfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionellengruppen, welche die Vormachtstellung der Regierung bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeige sie interkonfessionelle Auswirkungen. So versucht die syrische Regierung konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt, während sie aber gleichzeitig auch radikale sunnitische Gruppen unterstützt und Religionsgemeinschaften kontrolliert. Manche Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Islamisten und haben eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis. Dies gibt dem Vorgehen der Regierung gegen oppositionelle Gruppen auch ein konfessionelles Element. Der Einsatz von schiitischen Kämpfern, z.B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellt die Regierung die bewaffnete Opposition auch als religiös motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang setzt, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 21.6.2019).
Dies führte dazu, dass manche Führer religiöser Minderheitengruppen der Regierung Präsident Assads ihre Unterstützung aussprechen, da sie diese als ihren Beschützer gegen gewalttätige sunnitisch-arabische Extremisten sehen (USDOS 21.6.2019; vgl. USCIRF 4.2019, FA 27.7.2017). Die Minderheiten sind in ihrer Einstellung der syrischen Regierung gegenüber allerdings gespalten. Auch die Alawiten sind in ihrer Unterstützung bzw. Ablehnung der syrischen Regierung nicht geeint. Manche Mitglieder der Minderheiten sehen die Regierung als Beschützer, andere sehen einen Versuch der Regierung die Minderheiten auszunutzen, um die eigene Legitimität zu stärken, indem zum Beispiel konfessionell motivierte Propaganda verbreitet, und so die Ängste der Minderheiten geschürt werden und deren empfundene Vulnerabilität vertieft wird (MRG 5.2018b). So werden Berichten zufolge auch alawitische oppositionelle Aktivisten Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung (USDOS 13.3.2019).
Alawitische Gemeinden und schiitische Minderheiten werden aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes außerdem zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (MRG 5.2018b). Sunnitische Araber sehen viele der syrischen Christen, Alawiten und schiitischen Muslime aufgrund ihrer fehlenden Unterstützung oder Neutralität gegenüber der syrischen Revolution als mit der syrischen Regierung verbündet an (USCIRF 26.4.2017).
In den unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) oder der Gruppierung Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) stehenden Gebieten wurden Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten sowie auch Sunniten, die gegen deren strikte Auslegung des Islam verstießen, Zielscheibe von Tötung, Entführung, Verhaftung oder Misshandlung. Christen wurden gezwungen eine Schutzsteuer zu zahlen, zu konvertieren oder liefen Gefahr getötet zu werden. Der IS entführte tausende großteils jezidische aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak und verschleppte sie nach Syrien, wo sie als Sexsklavinnen verkauft und als Kriegsbeute an IS-Kämpfer verteilt wurden. Durch die Zurückdrängung des IS wurde dessen Herrschaft über Teile der Bevölkerung beendet und seine Möglichkeit religiöse Minderheiten zu unterdrücken und Gewalt auszusetzen, eingedämmt. Allerdings agiert er weiter als aufständische Gruppe und zielt als solche weiterhin mit Angriffen auch gegen Mitglieder religiöser Gruppen (USDOS 21.6.2019).
Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten in Syrien zwischen zwei und drei Millionen Kurden. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die Lebensumstände waren für die Kurden in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran. Ein Grund dafür war die brutale Repression aller oppositionellen Bestrebungen durch das Regime. Das Ergebnis waren sehr weitgehende Diskriminierungen. Im Nachgang einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten, die wiederum in registrierte (ajanib) und unregistrierte (maktumin) Staatenlose unterteilt wurden, dürfte 2011 bei über 300.000 gelegen haben. Als im März 2004 im kurdischen Nordosten Unruhen ausbrachen, deren Wellen bis in kurdischen Viertel von Damaskus reichten, wurden sie brutal niedergeschlagen. Die schweren Diskriminierungen, die alle Kurden im Nordosten trafen, blieben bis 2012 bestehen. So durfte in den Schulen und Universitäten nicht in kurdischer Sprache gelehrt werden und kurdische Publikationen waren verboten (SWP 4.1.2019). Die fehlende Präsenz der syrischen Regierung in den kurdischen Gebieten in den Anfangsjahren des Konfliktes verlieh den Kurden mehr Freiheiten, wodurch zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden konnte. Die syrische Regierung erkennt die Legitimation der föderalen kurdischen Gebiete jedoch nicht an (MRG 3.2018).
Allgemeine Menschenrechtslage
Schätzungen besagen, dass etwa eine halbe Million Menschen im syrischen Bürgerkrieg getötet wurden (BS 2018).
[...]
Auch die oppositionellen bewaffneten Gruppen der Syrian Democratic Forces (SDF) werden für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht, darunter die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG). Es gibt Berichte über Verschwindenlassen von Gegnern der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren Familien, unrechtmäßige Verhaftungen, Folter von politischen Gegnern, sowie vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 13.3.2019; vgl. HRW 10.9.2018). Familienmitglieder von gesuchten Aktivisten, darunter auch Verwandte von Mitgliedern des IS, sollen von den SDF in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefangen genommen worden sein, um Informationen zu erhalten oder um Druck auszuüben. Weiters gibt es Berichte über vermehrte Verhaftungen von Männern für versuchte Wehrdienstverweigerung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in den befreiten Gebieten (USDOS 13.3.2019).
Berichten zufolge kam es 2017 auch zur Vertreibung von arabischen Bewohnern aus Gegenden, die durch kurdische Einheiten vom IS befreit worden waren (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 13.11.2018).
Die YPG gehört seit 2014 zu den vom VN-Generalsekretär gelisteten Konfliktparteien, die Kindersoldaten einsetzen und Kinderrechte verletzen (AA 13.11.2018). Nach Berichten zu Rekrutierungen von Kindern, auch unter Zwang, durch die SDF, verabschiedeten diese ein Verbot der Rekrutierung und Verwendung von Personen unter 18 Jahren zum Kampf. Verboten sind, unter Androhung von Strafen für die Befehlshaber, auch Hilfsdienste wie Ausspähen, Wach- und Versorgungsdienste. Die kurdischen Gruppen erklärten ihre volle Unterstützung der Anordnung. Im Dezember 2018 wurden 56 Unter-18-Jährige ihren Eltern übergeben (USDOS 13.3.2019).
Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt deutlich weniger gravierend dar, als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer bis jihadistischer Gruppen befinden (AA 13.11.2018).
Ein Charakteristikum des Bürgerkriegs in Syrien ist, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als "regierungsfreundlich" oder "regierungsfeindlich" gilt (UNHCR 11.2015).
Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedenste Organisationen
Einige Quellen berichten, dass Regierungseinheiten, Pro-Regime-Milizen, bewaffnete nichtstaatliche Gruppen, inklusive der Freien Syrischen Armee (FSA) und mit dieser verbündete Gruppen, kurdische Einheiten und islamistische Gruppen in Syrien Minderjährige als Kindersoldaten rekrutieren (USDOS 20.6.2019; vgl. AA 13.11.2018). Andere Quellen berichten jedoch davon abweichend, dass es zwar Minderjährige gibt, die in den Rängen von regierungstreuen Milizen kämpfen, jedoch die syrische Armee keine Minderjährigen rekrutiert oder einsetzt (FIS 14.12.2018; vgl. ÖB 7.2019).
Jabhat al-Nusra und der sogenannte Islamische Staat (IS) setzen sie als menschliche Schutzschilde, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker ein. Bewaffnete Gruppen setzen Kinder auch als Zwangsarbeiter oder Informanten ein, was diese dem Risiko von Vergeltungsakten oder extremen Bestrafungen aussetzt. Manche bewaffnete Gruppen, die auf Seiten der syrischen Regierung kämpfen rekrutieren Kinder, manche nicht älter als sechs Jahre (USDOS 20.6.2019). Es gibt aktive Versuche der Rekrutierung von Minderjährigen durch den sogenannten Islamischen Staat (IS), die einer Nötigung gleichkommen (BFA 8.2017).
Berichten zufolge gibt es weiterhin Rekrutierungen Minderjähriger durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten bzw. Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) (AA 13.11.2018; vgl. USDOS 20.6.2019). Im September 2018 erließen die großteils kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) einen Befehl, der die Rekrutierung von Minderjährigen verbietet und vorsieht das Alter der aktuellen Mitglieder der SDF zu überprüfen (HRW 11.9.2018). Im Dezember 2018 wurden Berichten zufolge 56 minderjährige Jungen ihren Familien übergeben (USDOS 13.3.2019).
Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)
Die Rekrutierung zu regierungsfreundlichen Milizen geschieht im Allgemeinen auf freiwilliger Basis. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Der soziale Druck sich diesen Gruppierungen anzuschließen ist jedoch stark. In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in die Strukturen der syrischen Armee zu integrieren, wodurch es möglicherweise nicht mehr möglich ist, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden. Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).
Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Die Frage ist, ob man sich dem Druck durch die Milizen und die Gesellschaft entziehen kann. Zwangsrekrutierung per se durch Milizen in Syrien ist nicht dokumentiert, aber Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten ein Problem. So herrscht z.B. in Idlib, wo es zahlreiche Gruppierungen gibt, großer Druck sich einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen, wobei auch die Bezahlung eine Motivation darstellen kann (BFA 8.2017).
Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)
Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind die bewaffneten Einheiten der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) (DZO 13.1.2019). Bis 2014 war der Militärdienst bei der YPG freiwillig (AA 13.11.2018). Seit 2014 gibt es jedoch in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst für Männer von 18 bis 30 Jahren. Der Wehrdienst sollte sechs Monate dauern, dauerte in den letzten Monaten jedoch 12 Monate. Jene, die den Wehrdienst verweigern, müssen zur Strafe 15 Monate Wehrdienst leisten (MOFANL 7.2019).
Mehrfach ist es zu Fällen gekommen, in denen Männer von der YPG rekrutiert werden, die älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen, die PYD-kritisch politisch aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Rekrutierung abgestraft werden sollten (Savelsberg 3.11.2017).
Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten leisten, wobei es gleichzeitig Berichte von Zwangsrekrutierungen von Frauen gibt (AA 13.11.2018). Quellen zufolge gibt es keine Beweise für Zwangsrekrutierungen von Frauen durch die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), jedoch kann es einzelne Fälle der Zwangsrekrutierung von Frauen in kleineren lokalen kurdischen Milizen geben, die gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) kämpfen (BFA 8.2017). Dem widersprechen andere Quellen, denen zufolge es in mehreren Fällen zur Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung minderjähriger Mädchen gekommen ist. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen kurdische Frauen, die der YPG zunächst freiwillig beitraten, daran gehindert wurden, diese wieder zu verlassen (Savelsberg 3.11.2017).
Rückkehr
Im Juli 2018 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,5 Millionen Menschen (CIA 3.4.2019).
Die Zahl der Binnenvertriebenen belief sich im September 2018 auf insgesamt 6,2 Millionen Menschen (UNHCR 30.9.2018). 2018 sind insgesamt etwa 1,2 bis 1,4 Millionen IDPs in Syrien zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Mit März 2019 waren 5.681.093 Personen in den Nachbarländern Syriens und Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert (UNHCR 11.3.2019). 2018 sind laut UNHCR insgesamt etwa 56.000 Flüchtlinge nach Syrien zurück gekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS 14.12.2018). Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar und es herrschen weiterhin Zugangsbeschränkungen und Beschränkungen bei der Datenerhebung für UNHCR (EIP 6.2019). Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig, und über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse (ÖB 7.2019).
Das Fehlen von vorhersehbarer und nachhaltiger physischer Sicherheit in Syrien ist der Hauptfaktor, der die Rückkehrvorhaben von Flüchtlingen negativ beeinflusst. Weiters werden das Fehlen einer adäquaten Unterkunft oder Wohnung oder fehlende Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu sichern als wesentliche Hindernisse für die Rückkehr genannt. Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wird der Wunsch nach Familienzusammenführung genannt (UNHCR 7.2018). Rückkehrüberlegungen von syrischen Männern werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019).
Bereits im Jahr 2017 haben die libanesischen Behörden trotz des Konfliktes und begründeter Furcht vor Verfolgung vermehrt die Rückkehr syrischer Flüchtlinge gefordert. Eine kleine Anzahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Abkommen nach Syrien zurückgekehrt. Diese Rückkehrbewegungen werden nicht von UNHCR überwacht. Einige Flüchtlinge kehren aufgrund der harschen Politik der Regierung ihnen gegenüber und sich verschlechternden Bedingungen im Libanon nach Syrien zurück, und nicht weil sie der Meinung sind, dass Syrien sicher sei. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen in Massenausweisungen/Massenvertreibungen ohne Rechtsgrundlage oder ordnungsgemäßes Verfahren vertrieben. Zehntausende sind weiterhin der Gefahr einer Vertreibung ausgesetzt (HRW 17.1.2019). Viele syrische Flüchtlinge kehren aufgrund der schlechten Bedingungen im Libanon und Jordanien nach Syrien zurück, und weil sie außerhalb Syriens keine Zukunft für sich sehen (IT 19.8.2018). UNHCR hat nur vereinzelt und für kurze Zeit Zugang zu Personen, die aus dem Libanon nach Syrien zurückkehren, und kann auch keine ungestörten Interviews mit ihnen führen (AA 13.11.2018).
Flüchtlinge, die aus dem Libanon nach Syrien zurückkehren möchten, müssen dies bei den lokalen Sicherheitsbehörden melden und diese leiten den Antrag an die syrischen Behörden weiter (IT 19.8.2018; vgl. Reuters 25.9.2018). Die syrischen Behörden überprüfen die Antragsteller. Anträge auf Rückkehr können von der Regierung auch abgelehnt werden. Der Anteil der Personen, denen die Rückkehr nicht gestattet wird, wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 13.3.2019).
Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Ableistung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren Status zu "regularisieren", bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). In Jordanien gibt es für diese Regularisierung jedoch bisher keine Abläufe. Im Januar 2019 fanden erstmals organisierte Rückkehrbewegungen einer geringen Anzahl von syrischen Flüchtlingen aus Jordanien am syrisch-jordanischen Jaber-Nassib-Grenzübergang statt. Organisiert wurde die Rückkehr von einem zivilen Komitee, ohne Beteiligung der jordanischen Behörden und auch hier wurden die Namen der Antragsteller den syrischen Behörden zur Rückkehrgenehmigung übermittelt (SD 16.1.2019).
Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP 6.2019).
Gesetz Nr. 18 von 2014 sieht eine Strafverfolgung für illegale Ausreise in der Form von Bußgeldern oder Haftstrafen vor. Entsprechend einem Rundschreiben wurde die Bestrafung für illegale Ausreise jedoch aufgehoben und Grenzbeamte sind angehalten Personen, die illegal ausgereist sind, "bei der Einreise gut zu behandeln". Einem syrischen General zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der entsprechenden syrischen Auslandsvertretung "Versöhnung" beantragen und unter anderem angeben wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General zufolge dort ein "Versöhnungsformular" ausfüllen (DIS 6.2019).
Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für Wiederaufbautätigkeiten oder auch um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, z.B. wo eine Person seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war, wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).
Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens erlaubt die Regierung die Wohnsitzänderung aktuell nicht. Wenn es darum geht, wer in seinen Heimatort zurückkehren kann, können einem Experten zufolge ethnisch-konfessionelle aber auch praktische Motive eine Rolle spielen. Genannt werden zum Beispiel Sayyida Zeinab - eine schiitisch dominierte Gegend, in welcher der Sayyida Zeinab Schrein gelegen ist - oder die christliche Stadt Ma'lula in Damaskus-Umland, in die Muslime nicht zurückkehren können (FIS 14.12.2018). Ehemalige Bewohner von Homs müssen auch vier Jahre nach der Wiedereroberung durch die Regierung noch immer eine Sicherheitsüberprüfung bestehen, um in ihre Wohngebiete zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen zu können (TE 28.6.2018). Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht an jedem Ort, der unter Regierungskontrolle steht, niederlassen. Die Begründung eines Wohnsitzes ist nur mit Bewilligung der Behörden möglich (ÖB 21.8.2019). Das syrische Innenministerium kündigte Anfang 2019 an, keine Sicherheitserklärung mehr als Voraussetzung für die Registrierung eines Mietvertrages bei Gemeinden zu verlangen (SLJ 29.1.2019; vgl. ÖB 10.5.2019), sondern Mieten werden dort registriert und die Daten an die Sicherheitsbehörden weitergeleitet (ÖB 10.5.2019), sodass die Sicherheitsbehörden nur im Nachhinein Einspruch erheben können. Abgesehen von Damaskus wurde dies bisher nicht umgesetzt (ÖB 21.8.2019). Außerhalb von Damaskus muss die Genehmigung nach wie vor eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen (ÖB 7.2019). Eine Reihe von Vierteln in Damaskus bleiben teilweise oder vollständig geschlossen, selbst für Zivilisten, die die Wohnviertel nur kurz aufsuchen wollen, um nach ihren ehemaligen Häusern zu sehen (SD 19.11.2018).
Es ist wichtig, dass Rückkehrer in ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann auf ein soziales Netzwerk und/ oder ihren Stamm zurückgreifen können. Jenen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, fehlt ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019).
Es ist schwierig Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer, oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern. Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sind (Syria Direct 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es wohl auch aufgrund deren geringen Zahl keine Angaben (ÖB 7.2019).
Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle wie einem Checkpoint von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Checkpoint-Personals oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter, riskieren. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffe der Regierung verbreitet haben sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt (FIS 14.12.2018).
Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen kann den Verdacht des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018).
Es wird regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der Anti-Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird. Diese Berichte erscheinen laut deutschem Auswärtigem Amt glaubwürdig, können im Einzelfall aber nicht verifiziert werden (AA 13.11.2018).
Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exilpolitische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (AA 13.11.2018; vgl. ÖB 7.2019). Es gibt Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in Deutschland lebende Verwandte ausüben (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung hat Interesse an politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle von exilpolitischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen (BFA 8.2017). Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über alle Personen, die nach Syrien zurückkehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch wurden Informationen dieser Art benutzt, um Personen, die aus jedwedem Grund als Bedrohung für die Regierung gesehen werden, zu erpressen oder zu verhaften (EIP 6.2019).
Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Personen, die nach Syrien zurückgekehrt waren (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört - inklusive Geflüchteten, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrten, IDPs aus Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, und Personen, die in durch die Regierung wiedereroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung geschlossen haben. Sie wurden gezwungen Aussagen über Familienmitglieder zu machen und in manchen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 6.2019).
Daten der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass 14% von mehr als 17.000 befragten IDP- und Flüchtlingshaushalten, die im Jahr 2018 zurückgekehrt sind, während ihrer Rückkehr angehalten oder verhaftet wurden, 4% davon für über 24 Stunden. In der Gruppe der (ins Ausland) Geflüchteten wurden 19% verhaftet. Diese Zahlen beziehen sich spezifisch auf den Heimweg und nicht auf die Zeit nach der Rückkehr (EIP 6.2019).
Syrische Flüchtlinge benötigen für die Heimreise üblicherweise die Zustimmung der Regierung und die Bereitschaft vollständige Angaben über ihr Verhältnis zur Opposition zu machen. In vielen Fällen hält die Regierung die im Rahmen der "Versöhnungsabkommen" vereinbarten Garantien nicht ein, und Rückkehrer sind Belästigungen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden oder auch Inhaftierung und Folter ausgesetzt, mit dem Ziel Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).
Laut UNHCR ist unter den in Syrien herrschenden Bedingungen eine freiwillige Rückkehr in Sicherheit und Würde derzeit nicht möglich und UNHCR fördert oder unterstützt die Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien weiterhin nicht (UNHCR 18.3.2019).
1.3.2. Auszug aus ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierungspraxis der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG; People's Protection Units) und der Frauenverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Jin, YPJ; Women's Protection Units); Fälle von Rekrutierungen Minderjähriger beziehungsweise Entführungen mit dem Ziel der Rekrutierung [a-11047-4 (11050)] vom 09.08.2019:
Fälle von Rekrutierungen Minderjähriger beziehungsweise Entführungen mit dem Ziel der Rekrutierung
Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Jahresbericht zu Menschenhandel (Beobachtungszeitraum April 2018 bis März 2019), dass die YPG und YPJ weiterhin Mädchen und Burschen ab einem Alter von 12 Jahren rekrutieren und ausbilden würden. Internationale Beobachter hätten in den Jahren 2017 und 2018 berichtet, dass YPG-Kräfte Kinder in Binnenflüchtlingslagern in Nordostsyrien rekrutiert hätten: [...]
Die regierungsunabhängige Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS), deren Schwerpunkt der Berichterstattung auf entwicklungspolitischen Themen liegt, schreibt im Juli 2019, dass die von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) eine Vereinbarung mit der UNO getroffen hätten, den Einsatz von Kindersoldaten in den Gebieten unter ihrer Kontrolle in Ostsyrien zu beenden und die Kinder freizulassen. General Mazloum Abdi, der Befehlshaber der SDF, einer Allianz von Gruppen, zu denen auch die YPG gehören würden, habe diesbezüglich eine Vereinbarung unterschrieben, die Rekrutierung von Kindern unter 18 Jahren zu stoppen und Offiziere zu belangen, die die neuen Regelungen verletzen würden. Seit 2014 würden die YPG von der UNO als Rekrutierer von Kindersoldaten gelistet, bei der letzten im Jahr 2017 durchgeführten Studie habe man 224 Fälle der Rekrutierung von Kindersoldaten durch die YPG identifiziert: [...]
Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, berichtet im März 2018 über den Fall eines 12-jährigen kurdischen Mädchens namens Avin Saroxan, dass von einer Miliz rekrutiert worden sei, die Berichten zufolge in der Provinz Deir ez-Zour gegen den IS kämpfe. Avin sei von Augenzeugen zuletzt vor ihrer Schule im Ort Darbassiye gesehen worden, bevor Männer, die angeblich Mitglieder der Partei der Demokratischen Union (PYD) gewesen seien, sie zu einem Auto geführt hätten und mit ihr davongefahren seien. Ihre Eltern hätten sich mit Vertretern der PKK in Verbindung gesetzt, die zunächst den Vorwurf der Rekrutierung abgestritten hätten. Später hätten sie zugegeben, dass Avin zu einem einmonatigen "Politikkurs" geschickt worden sei. Avins Onkel habe die Asayish (Sicherheitskräfte der de facto autonomen Region Kurdistan, Anm. ACCORD) für die Entführung seiner Nichte verantwortlich gemacht und angegeben, dass in letzter Zeit mehrere Mädchen im Alter von 13 bis 14 Jahren entführt worden seien. Man habe ihnen Waffen gegeben und sie an die Front in der Provinz Deir ez-Zor geschickt. Laut dem Medienaktivisten Juwan Remmo würden kurdische Milizen, obwohl sie angeben würden, keinen verpflichtenden Militärdienst durchzusetzen, regelmäßig Jugendliche in ihre Reihen aufnehmen. Die PKK und die zu ihr gehörenden Milizen seien dafür bekannt. Laut dem kurdischen Journalisten Raman Youssef seien die Milizen eine attraktive Option für Jugendliche, die von zu Hause weglaufen wollten. Die PKK unterhalte spezielle Trainingslager für neu Rekrutierte in der Gegend Rmeilan (Provinz Al-Hasaka, Anm. ACCORD), in die auch Jugendliche geschickt würden. Berichte von Entführungen seien laut Youssef jedoch übertrieben. Er glaube nicht, dass PKK oder Asayish am helllichten Tage Minderjährige entführen und sie in diese Trainingslager bringen würden. Es habe jedoch Fälle gegeben, in denen Jugendliche in diese Lager geschickt worden seien, weil ihre Eltern sie missbraucht hätten oder die Töchter minderjährig beziehungsweise gegen ihren Willen hätten verheiraten wollen. Die eigentliche Problematik sei laut Youssef, dass Mädchen es schwer hätten, eine Miliz wieder zu verlassen, wenn sie ihr einmal beigetreten seien. Nach einem Beitritt werde die Kommunikation mit den Familien unterbunden und es sei den Mädchen nicht erlaubt, zu ihren Familien zurückzukehren. Laut dem Menschenrechtsaktivisten Modr al-Asaad würden Milizen Jugendliche mit einer Kombination aus Drohungen und Anreizen anlocken. Viele Entführungen minderjähriger Mädchen und Burschen seien Teil einer Methode von Zuckerbrot und Peitsche in einem Ausmaß, dass sie in der Provinz Al-Hasaka und anderen Regionen unter Kontrolle der PKK und ihrer Milizen (gemeint sind die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehenden YPG, Anm. ACCORD) fast schon zur Norm geworden seien: [...]
Auf Daraj, einer eigenen Angaben zufolge unabhängig finanzierten Plattform, auf der arabische JournalistInnen Artikel zu in der Region weniger beachteten Themen wie Zivilrechten und Gender veröffentlichen, findet sich ein Artikel vom Oktober 2018 zur Rekrutierung von Kindern durch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die konkreten Fälle von Rekrutierungen Minderjähriger, die erwähnt werden, beziehen sich auf die Jahre 2016 bis 2018.
Im November 2016 habe der 14-jährige Baschar al-Ahmad von sich aus ein Trainingslager bei Al-Malikiya in der Provinz Al-Hasaka absolviert, um in der Handhabung von Waffen ausgebildet zu werden. Als seine Familie zum Lager gekommen sei, um ihn zu besuchen, habe ein Verantwortlicher dort gesagt, dass sie ihren Sohn vergessen solle, so ein Nahestehender der Familie.
Eine Mutter aus Afrin habe in einem Gespräch Mitte 2017 berichtet, dass ihr Sohn, der 2001 geboren worden sei, im Jahr 2016 von den YPG rekrutiert worden sei. Er sei in ein Rekrutierungszentrum gebracht worden und habe einen Zettel unterschrieben, dessen Inhalt er nicht verstanden habe, da er weder lesen noch schreiben könne. Er sei zurückgekehrt mit der vollen Absicht, den YPG beizutreten.
Ein weiterer Vorfall wird geschildert, bei dem ein 12-jähriger Bursche namens Mustafa Alo im Dezember 2017 während einer Hochzeitsfeier seines Onkels von Kämpfern der SDF mitgenommen und in ein Trainingslager westlich von Kobane gebracht worden sei. Zunächst hätten die Eltern nichts über den Verbleib ihres Sohnes gewusst, schließlich hätten sie erfahren, dass ihr Kind zwangsrekrutiert und in ein Lager in der Nähe von Dscharabulus gebracht worden sei. Laut Angaben eines Cousins von Mustafa Alo handle es sich dabei um ein Lager speziell für die Ausbildung von Kindern, in dem sich Dutzende entführte Minderjährige befinden würden.
Laut Berichten von Kindern und ihren Familien sowie Menschenrechtsorganisationen würden die YPG Kinder mithilfe von Veranstaltungen anziehen, diese würden Kaumin (plural: Kauminat) genannt und es gebe speziell an Kinder gerichtete Zusammentreffen. Dort würden laut Angaben eines Menschenrechtsaktivisten aus Afrin Kinder in den Prinzipien der PYD unterwiesen und man bereite sie geistig darauf vor, Waffen zu tragen, indem man ihnen Slogans wie "Vergeltung ist der Weg zur Freiheit" und "wir bekämpfen die Welt im Namen unseres Führers" beibringe. YPG-Kämpfer würden im Schulcurriculum, das die PYD vorgebe, als Idealmenschen und Nationalhelden dargestellt.
1.3.3. Auszug aus ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung: Wehrdienst bei den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, YPG; People's Protection Units): Verpflichtung, Konsequenzen bei Weigerung [a-11060] vom 14.08.2019:
Die für auswärtige Angelegenheiten zuständige niederländische Regierungsbehörde Ministerie van Buitenlandse Zaken (BZ) veröffentlicht im Juli 2019 ihren Bericht zur aktuellen Sicherheitslage in Syrien. Dieser geht unter anderem auch auf die von den YPG umgesetzte Wehrpflicht ein. Seit Juli 2014 gebe es in der Demokratischen Föderation Nordsyrien (die unter kurdischer Selbstverwaltung stehende Region in Nordsyrien, die von der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihrem militärischen Arm, den YPG dominiert wird, Anm. ACCORD) einen verpflichtenden Militärdienst von 12 Monaten für alle Männer von 18 bis 30 Jahren, die in dieser Region leben würden. Im Falle einer Wehrdienstverweigerung oder bei einer Festnahme würde ein verpflichtender Wehrdienst von 15 Monaten als Strafmaßnahme verhängt. Dann stehe es dem Wehrdienstleistenden frei, sich einer Miliz anzuschließen. Der Wehrdienstleistende müsse seinen Dienst bei den Yekîneyên Parastina Gel (YPG), dem bewaffneten Arm der PYD, ableisten. Frauen würden ihren Dienst in den in den Frauenverteidigungseinheiten, den Yekîneyên Parastina Jin (YPJ) ableisten. Der Beitritt zu den YPJ erfolge auf freiwilliger Basis.
Theoretisch sei ein Mann, wenn er der einzige Sohn in der Familie sei, von der Wehrpflicht ausgenommen. Wenn eine Familie mehrere Söhne habe, dann müssten diese ihren Wehrdienst nicht gleichzeitig ableisten. Die YPG seien ein wichtiger Bestandteil der Syrischen Demokratischen Kräfte (Syrian Democratic Forces, SDF), die aus kurdischen und arabischen Kämpfern sowie aus Angehörigen von Minderheiten bestehen und von den USA unterstützt würden.
SDF und YPG würden zusätzlich zum Einberufungssystem in der Region unter ihrer Kontrolle (Demokratische Föderation Nordsyrien) Zwangsrekrutierungen bei Männern der Altersgruppe 18 bis 30 Jahren durchführen, um die Truppenstärke zu erhöhen. So sei zur Zeit der türkischen Offensive in Afrin ein Anstieg von Zwangsrekrutierungen durch die YPG und SDF verzeichnet worden. In Gebieten, die vormals unter Kontrolle der Gruppe Islamischer Staat (IS) gewesen und nun kurdisch kontrolliert seien, habe die Bevölkerung gegen die Ankündigung einer allgemeinen Wehrpflicht aufbegehrt: [..]
Enab Baladi, eine 2011 in Daraya bei Damaskus gegründete, der Revolution nahestehende und regimekritische syrische Medienorganisation, berichtet in einem Artikel vom Juli 2019 über die Entwicklung des Wehrdienstes in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien. Im Juli 2014 sei dazu ein entsprechendes Gesetz erlassen worden. Diesem Gesetz zufolge würden alle Männer der Region im wehrfähigen Alter für einen verpflichtenden Dienst ("Selbstverteidigungsdienst") in die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) rekrutiert. Das Gesetz habe im Juni 2019 seine letztgültige Fassung angenommen, als die Selbstverwaltung ein neues Gesetz bestehend aus 35 Artikeln verabschiedet habe.
Die ursprüngliche Version des Gesetzes von 2014 habe vorgesehen, dass jede Familie, die in der Region lebe, ein Mitglied für sechs Monate "Selbstverteidigungsdienst" zur Verfügung stellen müsse. 2016 sei die Dienstzeit dann auf neun Monate angehoben worden.
Laut Enab Baladi habe es Berichte über willkürliche Festnahmen mit dem Ziel der Rekrutierung gegeben, auch in Fällen, in denen Personen eigentlich ein Wehrdienstaufschub aufgrund einer Ausbildung zugestanden worden sei, oder bei Personen, die aufgrund medizinischer oder anderer Gründe vom Wehrdienst befreit worden seien. Auch mehrere Angestellte im Bildungsbereich seien laut einem Bericht der Organisation Syrians for Truth and Justice vom März 2018 bei diesen Festnahmen rekrutiert worden, obwohl sie eine offizielle Genehmigung zum Aufschub ihres Wehrdienstes besessen hätten. Laut einem Forscher der in der Türkei ansässigen Denkfabrik Omran Center for Strategic Studies betrachte man das Gesetz von 2019 nicht als neues Gesetz, sondern als eine abgeänderte Fassung des alten Gesetzes. Eine der wichtigsten Abänderungen seien die regionalen Unterschiede in Bezug auf die zum Wehrdienst verpflichteten Geburtenjahrgänge. In den von KurdInnen bewohnten Gebieten und Städten im Norden seien die Jahrgänge ab 1986 zum Wehrdienst verpflichtet, in den Provinzen Deir Al- Zour und Al-Raqqa seien es die Jahrgänge ab 1990: [...]
Die prokurdische, in Amsterdam ansässige Nachrichtenagentur Firat News Agency (ANF), veröffentlicht im Juni 2019 den Gesetzestext des oben erwähnten Gesetzes zum "Selbstverteidigungsdienst" in den Gebieten unter Kontrolle der kurdischen Selbstverwaltung. Der Wehrdienst ist laut Artikel 1 des Gesetzes für alle Männer ab 18 Jahren verpflichtend, die bereits seit mehr als fünf Jahren in den Gebieten der Selbstverwaltung leben. Das Gesetz unterscheidet in Artikel 1 verschiedene Kategorien von Wehrdienstpflichtigen. Ein "Nichtanwesender" (Mutachallif) ist derjenige Wehrpflichtige, der noch keinen Wehrdienstausweis ausgestellt bekommen hat beziehungsweise einen ausgestellt bekommen und sich innerhalb von 60 Tagen nach der Ausstellung noch nicht bei einem Ausbildungszentrum gemeldet hat. Ein "Aufgeschobener" (Mu'adschdschal) ist ein Wehrdienstpflichtiger, dem Aufschub gewährt worden ist. Ein Deserteur (Far) ist derjenige, der sich bereits im Wehrdienst befindet und diesem mehr als 15 Tage ferngeblieben ist. Als im Ausland befindlich (Mughtarab) gilt jeder Wehrpflichtige, der seinen Dienst noch abzuleisten hat und sich außerhalb Syriens befindet.
Laut Artikel 2 beträgt der Wehrdienst zwölf Monate.
Artikel 4 legt fest, dass einem Wehrdienstpflichtigen (Mughtarab), der aus dem Ausland wieder in die Gebiete der Selbstverwaltung zurückkehrt, ein Formular ausgestellt wird, das ihm erlaubt, sich frei zu bewegen, um die nötigen Schritte für die Ausstellung eines Wehrdienstausweises einzuleiten. Dies muss innerhalb von 30 Tagen geschehen und das Formular wird nur einmal ausgestellt.
Laut Artikel 13 ist ein "Nichtanwesender" bis zu einem Alter von 40 Jahren verpflichtet, seinen Wehrdienst abzuleisten. Jeder "Nichtanwesende", der seinen Wehrdienst (verspätet) antritt, muss gemäß Artikel 15 einen zusätzlichen Monat Wehrdienst leisten.
Artikel 16 bis 22 regeln den Aufschub des Wehrdienstes für Schüler und Studenten. Artikel 25 legt die Bedingungen fest, unter denen man um einen Aufschub des Wehrdienstes ansuchen kann.
Einem aus dem Ausland Zurückkehrenden wird ein Aufschub von höchstens sechs Monaten gewährt. Einem Sohn, dessen Brüder noch nicht das Alter von 18 Jahren erreicht haben oder dessen Vater verstorben ist oder besondere Bedürfnisse hat, steht ein einjähriger Aufschub zu.
Ab dem Inkrafttreten des Gesetzes müssen Wehrpflichtige, die im Ausland wohnhaft sind und Aufenthaltstitel in anderen Ländern besitzen (ausgenommen werden die Länder Irak und Türkei), jährlich eine Aufschubgebühr von 400 US-Dollar entrichten (Artikel 26).
Artikel 28 legt die Bedingungen fest, unter denen man vom Wehrdienst befreit werden kann. Vom Wehrdienst befreite Personen sind Brüder und Söhne (einer gemeinsamen Mutter) von gefallenen Kämpfern; Personen mit bestimmten Krankheiten und besonderen Bedürfnissen, ein einziger Sohn einer Familie (unabhängig davon, ob die Eltern noch leben oder nicht). (ANF, 22. Juni 2019)
Es finden sich im von ANF veröffentlichten Gesetzestext keine weiteren Bestimmungen bezüglich der oben genannten Kategorie Deserteur (Far). Auch eine Wehrdienstverweigerung wird nicht behandelt.
Syria Television, ein aus der Türkei ausgestrahlter, der syrischen Revolution nahestehender Sender, berichtet im Juni 2019, dass die Selbstverwaltung in Nordsyrien ihr Gesetz zur Wehrpflicht abgeändert habe. Nun gelte die Wehrpflicht auch für Männer ab 18 Jahren, die als Binnenflüchtlinge seit mehr als fünf Jahren im Gebiet der Selbstverwaltungsregion leben würden. Der Wehrdienst dauere ein Jahr und werde innerhalb der Syrischen Demokratischen Kräfte (Syrian Democratic Forces, SDF) abgeleistet. Der Artikel erwähnt, dass die SDF in den Regionen unter ihrer Kontrolle, darunter Deir al-Zour, Raqqa und Manbidsch, Ende letzten Jahres Personen festgenommen und zwangsrekrutiert hätten, während die Stämme in diesen Regionen diese Rekrutierungen abgelehnt hätten. (Syria Television, 24. Juni 2019)
Konsequenzen bei Wehrdienstverweigerung; Fälle von Zwangsrekrutierung
Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) berichtet in einer im November 2017 veröffentlichten Aktualisierung seiner Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, unter Berufung auf mehrere Quellen von 2017 Folgendes zur Rekrutierungspraxis der YPG:
"Es wurde gemeldet, dass YPG und Asayish in den Gebieten, die de facto unter ihrer Kontrolle stehen, Zwangsrekrutierungen und Rekrutierungen von Minderjährigen vornehmen. Die Weigerung, den YPG beizutreten, kann Berichten zufolge schwerwiegend Konsequenzen haben, einschließlich Entführung, Inhaftierung und Misshandlung der inhaftierten Personen sowie Zwangsrekrutierung, da die Verweigerung des Kampfes als Ausdruck der Unterstützung von ISIS oder als Opposition zu PYD/YPG interpretiert werden kann. Es wurden einige Fälle gemeldet, in denen die Familienangehörigen von Personen, die sich der Zwangsrekrutierung widersetzten oder aus anderem Grund verdächtigt wurden, mit ISIS in Verbindung zu stehen, von den YPG ins Visier genommen wurden." (UNHCR, 3. November 2017, S. 55-56)
Das ägyptische Nachrichtenportal Arabi 21 berichtet im Jänner 2019, dass laut örtlichen Quellen in Nordsyrien die kurdischen Volksverteidigungseinheiten ihre Zwangsrekrutierungskampagne in der Stadt Raqqa und ihrer Umgebung aus