TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/27 L526 2200475-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.06.2019
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Entscheidungsdatum

27.06.2019

Norm

BFA-VG §18
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §18 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4

Spruch

L526 2200475-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.04.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX beschlossen:

A) Der Antrag der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz "BF" genannt), ein türkischer Staatsangehöriger, reiste mit einem Visum D nach Österreich ein und hatte hier seit 19.11.2013 einen polizeilich gemeldeten Wohnsitz zusammen mit seiner damaligen Ehegattin.

Der BF erhielt den Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" vom Magistrat der Stadt XXXX . Nach seiner Scheidung stellte er einen Zweckänderungsantrag und erhielt die "Rot Weiß Rot Karte plus", die bis 14.05.2018 gültig war. Am 20.4.2018 stellte der BF einen Verlängerungsantrag an die ausstellende Behörde.

Der BF hat im Inland bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet (nämlich vom 7.9.2016 bis 16.9.2016, vom 13.10.2015 bis 7.12.2015 und vom 23.7.2014 bis 14.8.2015) und bezog dazwischen immer wieder Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe.

Am 12.06.2014 (RK 15.06.2014) wurde der BF zu GZ XXXX wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten vom LG XXXX verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren auch kurz "bB" genannt) vom 30.10.2017 wurde dem BF zur Kenntnis gebracht, dass im Falle einer weiteren Verurteilung die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes beabsichtigt sei. Gleichzeitig wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, Auskünfte über seine familiären und privaten Verhältnisse zu erteilen sowie zu den von der Behörde ins Verfahren eingebrachten Länderberichten Stellung zu nehmen.

Am 8.1.2018 wurde der BF zu XXXX wegen des Verbrechens des schweren Raubes gem. §§ 142, Abs. 1 2. Fall, 143 Abs. 1 2. Fall StGB, des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB und des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Am 21.11.2018 gab der BF schriftlich zusammengefasst an, dass er gesund wäre, in der Türkei die Schule fertiggemacht habe, keinerlei Verwandte in einem anderen europäischen Staat habe, in Österreich bei der GKK versichert sei und hier Bindungen zu " XXXX " habe und er auch eine Lebensgefährtin in Österreich habe, welche er bald heiraten werde; einen Raub habe er nicht begangen; da es sich um seinen Freund gehandelt hätte, welcher ihm Geld geschuldet habe.

Mit Schreiben vom 07.02.2018 gewährte die bB dem BF weiteres Parteiengehör, zu welchem der BF zusammengefasst angab, dass seine Lebensgefährtin XXXX hieße und sich derzeit in der JA XXXX befände. Der BF habe keine weiteren Familienangehörigen in Österreich; in der Türkei würden Ihre Eltern sowie ein Bruder und eine Schwester leben.

Einer Auskunft des AMS aufgrund einer Anfrage durch die bB zufolge habe der BF keine Rechte erworben, die das Anwenden des Assoziationsabkommens mit der Türkei rechtfertigen würde.

Mit Schreiben der bB vom 17.04.2018 wurden dem BF aktualisierte Länderfeststellungen übermittelt, zu welchen der BF keine Stellungnahme abgab.

Mit Verfahrensanordnung vom 29.5.2019 wurde dem BF ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

I.2. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer über eine abgelaufene Rot-Weiß-Rot Karte plus verfüge, er jedoch rechtzeitig um eine Verlängerung angesucht habe. Der Stattgabe des Verlängerungsantrages stehe ein Versagungsgrund entgegen, als der BF im Inland strafrechtlich in Erscheinung getreten wäre und ein massives Fehlverhalten an den Tag gelegt hätte. Sein Aufenthalt widerstreite somit den öffentlichen Interessen. Nach Abwägung des Privat- und Familienlebens sei eine Rückkehrentscheidung zulässig. Es lägen auch keine Umstände vor, welche gegen eine Abschiebung in die Türkei sprechen würden. Bezüglich der Verhängung eines Einreiseverbots wurde ausgeführt, dass mit den Verurteilungen des BF die Tatbestandsvoraussetzung des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt und aufgrund des Verhaltens der BF davon auszugehen sei, dass dieser eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Eine Gefährlichkeitsprognose gehe daher zu Lasten des BF. Familiäre oder private Anknüpfungspunkte des BF in der Türkei seien in Form seiner Eltern und Geschwister gegeben. Der BF sei auch selbsterhaltungsfähig. Die Erlassung eines Einreiseverbotes auf die Dauer von acht Jahren sei angemessen. Im Falle der Abschiebung bestehe auch keine Gefahr einer Menschenrechtsverletzung. Eine Maßnahme gemäß § 50 Abs. 3 FPG gebe es nicht.

Es sei auch der Tatbestand des § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG erfüllt, zumal das gezeigte Fehlverhalten im österreichischen Bundesgebiet in Zusammenschau mit seiner wirtschaftlichen Lage eine Gefahr für öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.

Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. In dieser wurde zunächst dargelegt, dass nicht zwingend mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot zu ergehen habe. Ferner wurde aus einem Judikat des Verwaltungsgerichtshofes zitiert, aus welchem hervorgeht, dass auf die privaten und familiären Interessen des Drittstaatsangehörigen Bedacht zu nehmen ist. Die Anführung des Fehlverhaltens reiche nicht aus. Der BF habe auch ein schützenswertes Privat- und Familienleben in Österreich, zumal er eine Beziehung zu einer rumänischen Staatsangehörigen führe, mit welcher der BF nach seiner Haftentlassung zusammenziehen möchte. Der BF habe während seines fünf jährigen Aufenthaltes auch in mehreren Betrieben gearbeitet und habe selbständig die Deutsche Sprache erlernt. Der BF habe einen Großcousin in Belgien und in Deutschland lebten zwei Cousinen seines Vaters. Zu diesen habe der BF regelmäßig Kontakt. Der Lebensmittelpunkt des BF befinde sich aufgrund der geführten Beziehung in Österreich. Hätte die Behörde nähere Ermittlungen in Bezug auf das Familien- und Privatleben des BF im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten getätigt und die Durchführung der gebotenen Interessensabwägung nicht unterlassen, hätte sie feststellen müssen, dass der BF in Österreich schützenswerte familiäre Beziehungen hat, die die öffentlichen Interessen an der Erlassung des Einreiseverbotes überwiegen. Das Bundesverwaltungsgericht möge dieser Ansicht folgen, zumindest möge es die Dauer des über den BF verhängten Einreiseverbotes herabsetzen.

Diesem Schreiben wurde ein Versicherungsdatenauszug beigelegt.

I.3. Der Verwaltungsakt langte am 10.7.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde der nunmehr zuständigen Geschäftsabteilung zugewiesen.

I.4. Nach Prüfung der Sach- und Rechtslage wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt.

I.5. Am 3.4.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. Im Zuge dieser Verhandlung legte der BF die am 14.8.2018 abgelaufene Rot-Weiß-Rot-Karte, eine Terminkarte des AMS sowie eine "Arbeitsaufnahmebestätigung" - in dieser wird von einem XXXX Unternehmen mitgeteilt, dass der BF Mitte April dort als "Schwarzdecker" anfangen wird - vor. Der genaue Wortlaut des Vorbringens des BF lässt sich dem im Akt erliegenden Verhandlungsprotokoll entnehmen.

I.6. Mit elektronischer Nachricht vom 9.6.2019 erreichte das Bundesverwaltungsgericht ein Bericht, aus welchem hervorgeht, dass der BF beschuldigt wird, vom 8.3.2019 bis 1.4.2019 im Großraum XXXX und in XXXX eine große Menge an Suchtmitteln in Form von 100 Gramm Crystal Speed zu einem Gesamtpreis von 7000 Euro einem verdeckten Ermittler des BK angeboten zu haben. Er wird beschuldigt, am 8.3.2019 im Geschäftslokal eines Fastfood Restaurants in XXXX die angeführte Menge an Crystal Speed einem verdeckten Ermittler des BK angeboten zu haben. Im Zuge dieses Treffens habe der BF in der Folge vor seiner Wohnung bei GH XXXX in XXXX eine Probe von 0,3 Gramm Crystal Speed kostenlos übergeben. Der BF wird weiters beschuldigt, im Zuge eines Treffens mit einer verdeckten Ermittlerin am 1.4.2019 versucht zu haben, ihr anstelle von Suchtmitteln 100 Gramm Badesalz zum Preis von 7000 Euro zu verkaufen. Der BF habe die Ware an die verdeckte Ermittlerin übergeben. Als sie die Ware in ihrem Auto testen wollte, habe er sie wieder an sich genommen und sei aus dem Wagen geflüchtet. In der Folge sei er im Bereich eines Kepabstandes angetroffen worden und habe im Besitz des Badesalzes sowie 0.5 Gramm Crystal Speed festgenommen werden können.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde sowie Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.04.2019 Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:

Die Identität des BF steht fest. Er ist Staatsangehöriger der Türkei und hat kurdische Wurzeln. Der BF heiratete in der Türkei seine nunmehrige geschiedene Ehefrau und reiste Ende des Jahres 2013 in das österreichische Bundegebiet ein, um mit seiner Ehefrau hier zu leben.

Der BF ging erhielt einen Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" vom Magistrat der Stadt XXXX . Nach seiner Scheidung stellte er einen Zweckänderungsantrag und erhielt die Rot- Weiß Rot-Karte plus", die bis 14.05.2018 gültig war. Am 20.4.2018 stellte der BF einen Verlängerungsantrag an die ausstellende Behörde.

Der BF hat in der Türkei die Grund- sowie die Hauptschule besucht. Die schulische Ausbildung im Gymnasium hat er abgebrochen. Er hat einen Kurs in der Textilbranche absolviert, wofür er auch ein Zertifikat bekommen hat, und weiterhin in der Textilbranche sowie auch vier oder fünf Jahre als Maschinist gearbeitet.

In Österreich hat der BF bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet (nämlich vom 7.9.2016 bis 16.9.2016, vom 13.10.2015 bis 7.12.2015 und vom 23.7.2014 bis 14.8.2015) und bezog dazwischen immer wieder Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe.

Der BF erholt sich von einer Kieferoperation, ist darüber hinaus aber gesund und lebt in einem Hotel. Er hat eine Beschäftigung als Schwarzdecker in Aussicht.

Am 12.6. wurde der BF wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 und gefährlicher Drohung gemäß § 107 Abs. 1. und 2. 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, wobei vom Vollzug der Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der BF seine ehemalige Ehegattin vorsätzlich am Körper verletzte, indem er sie im Bereich der Hüfte so kräftig zwickte, dass sie ein Hämatom an der angeführten Körperstelle erlitt und er sie am 20.5.2014 gefährlich mit dem Tode bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er zu ihr sagte: "Komm raus! Wenn Du rauskommst, dann bring ich Dich um!".

Am 8.1.2018 wurde der BF wegen schwerem Raub gemäß §§ 142 Abs.1 2. Fall, 143 Abs. 1 2. Fall StGB, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel gemäß § 241e Abs. 3 StGB und Urkundenunterdrückung gemäß § 229 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 24.5.2017

1. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben unter Verwendung eines Klappmessers als Waffe einem anderen ein Fahrrad und weitere im Urteil näher beschriebene Gegenstände, wie etwa ein Handy, einen Kopfhörer, eine Fahrradtasche, eine Geldbörse und einen Schlüsselbund sowie Werkzeug mit dem Vorsatz weggenommen oder abgenötigt hat, um sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er ein Messer gegen den Beraubten richtete und sinngemäß sagte: "Ich steche Dich", das Fahrrad erfasste, trotzt Aufforderung nicht mehr losließ und samt den daran befestigten Gegenständen an sich nahm

2. durch die unter 1. genannte Handlung ein unbares Zahlungsmittel, über das er nicht oder nicht allein verfügen durfte, nämlich die Bankomatkarte, die sich in der Geldtasche befand, der beraubten Person mit dem Vorsatz, deren Verwendung im Rechtsverkehr zu verhindern, unterdrückte

3. durch die unter 1. genannte Handlung Urkunden, über die er nicht oder nicht allein verfügen durfte, nämlich die E-Card und den Personalausweis der beraubten Person, die sich in der Geldtasche befanden, mit dem Vorsatz unterdrückte, zu verhindern, dass diese im Rechtverkehr zum Beweis eines Rechtes, eines Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache, nämlich der Sozialversicherung bzw. des Identitätsnachweises der beraubten Person gebraucht wird.

Der BF hat bislang keine professionelle Hilfe zur Gewaltprävention in Anspruch genommen.

Der BF hat keine Verwandten in Österreich. Cousins des BF leben in Deutschland und Frankreich. In Belgien lebt ein Jugendfreund. Der BF hat mit diesen Kontakt über das Internet. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen oder zu in Österreich lebenden Personen besteht nicht.

Der BF führt zurzeit keine Beziehung und lebt alleine.

In der Türkei leben die Eltern und Geschwister des BF. Vor seine Ausreise aus der Türkei lebte der BF, wenn er nicht in einer anderen Stadt arbeitete, mit seiner Familie zusammen. Der Vater arbeitet für die Stadtgemeinde, ebenso arbeiten die vier Brüder des BF.

Im Inland verfügt der BF über die üblichen sozialen Anbindungen. Der BF kann sich auf einfachem Niveau auf Deutsch ausdrücken. Der BF ist im Inland kranken- und unfallversichert.

Im Jahr 2018 wurde der BF anlässlich seines Haftaufenthaltes durch den Schlag eines Mithäftlings verletzt. Ein entsprechendes Verfahren wurde im Juli 2018 eingestellt.

Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände konnte nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Es kamen auch keine in der Person des Beschwerdeführers liegende Gründe, die einer Abschiebung entgegenstehen würden, wie beispielsweise eine lebensbedrohliche Erkrankung, zum Vorschein.

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet dessen persönliches Interessen am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.

Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer umfassenden und fortgeschrittenen Integration des BF in Österreich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden, welche die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine seine Existenz gefährdende Notlage geraten würde.

Es liegen im gegenständlichen Fall auch keine Anhaltspunkte zum Bestehen eines aktuellen Familienlebens des BF im Bundesgebiet vor, welches die Stellung eines begünstigten Drittstaatsangehörigen im Sinne der Stillhalteklausel ermöglichen würde bzw. dass die Bestimmungen des FRG 1997 für begünstigte Drittstaatsangehörige bzw. des ARB 1/80 zur Anwendung gelangen würden.

Es konnten auch keine Umstände festgestellt werden, die die Abschiebung des BF in die Türkei unzulässig erscheinen ließen.

1.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Auszugsweise werden aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt (die Quellen wurden dem BF von der bB offengelegt):

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP 10.9.2015).

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).

1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes (PW 21.1.2015).

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend der Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei (ÖB 10.2017).

Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen (BMI-D 6.2016).

Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben (bpb 10.4.2018).

Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich (BMIBH 7.2018). Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab (BBC 4.11.2016). Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde (HDN 9.6.2016).

Terroristische Gruppierungen: TAK - Teyrêbazên Azadiya Kurdistan - (Freiheitsfalken Kurdistans)

Die Einschätzungen hinsichtlich der Eigenständigkeit der TAK divergieren beträchtlich. Während außerhalb der Türkei die TAK mitunter als eigenständige Organisation angesehen wird oder zumindest deren Stellung als unklar gilt, betrachten die türkischen Behörden die TAK als Teil der PKK. So es der PKK opportun scheint, werden laut türkischer Polizei Anschläge unter dem Namen TAK verübt (TNP o.D.; TRAC 2018). Sicherheitskreise sagen, die TAK agiere auf eigene Faust, dennoch habe die PKK die Gruppierung nie verstoßen. Es fällt auf, dass die TAK sich mit Angriffen zurückhielt, als PKK-Anführer Abdullah Öcalan 2013 einen Waffenstillstand im Konflikt mit den türkischen Sicherheitskräften verkündete. Außerdem bekennt sich die TAK noch heute zu Öcalan. Sicherheitsexperten halten es für denkbar, PKK und TAK hätten eine Arbeitsteilung vereinbart: Die TAK verübt schwere Anschläge, die PKK bleibt im Hintergrund und kann sich weiter als politischer Ansprechpartner präsentieren. Als der von Öcalan ausgerufene Waffenstillstand 2015 zusammenbrach, wurde auch die TAK wieder aktiv (Tagesspiegel 13.12.2016).

Die TAK gilt als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operiert die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Im Zuge der Eskalation des Kurdenkonflikts seit Sommer 2015 kam es am 23.12.2015 zu einem Anschlag der TAK auf den Istanbuler Flughafen "Sabiha Gökcen", bei dem eine Person ums Leben kam (TS 26.12.2015). In einer Erklärung kündigte die TAK den Beginn einer neuen Kampfinitiative an. Bislang hätte man aus Verantwortung und Loyalität gegenüber Öcalan auf Aktionen verzichtet. Aufgrund des totalen Krieges des AKP-Regimes gegen das kurdische Volk werde die TAK den Krieg auf die ganze Türkei ausweiten. Hierbei betonte die TAK ihre Unabhängigkeit von der PKK und anderen Organisationen, die sie angesichts der Vorgangsweise des türkischen Staates als zu humanistisch betrachtet (ANF 31.12.2015, vgl. AM 4.1.2016).

Am 17.2.2016 bekannte sich die TAK zu dem Anschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara in unmittelbarer Nähe zum Hauptquartier der türkischen Streitkräfte, bei dem 29 Personen starben, dem weitere Anschläge am 13.3.2016 in Ankara am zentralen Kizilay-Platz mit 38 Toten sowie am 7.6.2016 auf einen Polizeibus in Istanbul mit zwölf Opfern folgten (SD 29.6.2016). Bei zwei Bombenexplosionen vor dem Besiktas-Fußballstadion und im nahen Maçka-Park wurden am 10.12.2016 über 40 Menschen getötet, die meisten von ihnen Polizisten (HDN 12.12.2016, vgl. Anadolu 12.12.2016). Mit den Anschlägen hat die TAK nach eigenen Angaben auf die Gefangenschaft des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die türkischen Militäroperationen vor allem im Südosten des Landes aufmerksam machen wollen (TS 11.12.2016; vgl. Rudaw 11.12.2016).

Die TAK übernahm die Verantwortung für einen Anschlag am 5.1.2017 in Izmir, der auf ein Gerichtsgebäude abzielte. Ein Polizist und ein Mitarbeiter des Gerichtsgebäudes wurden bei einer Schießerei getötet. Die Terroristen wurden von Polizisten bei einem Schusswechsel nach der Detonation einer Autobombe am Eingang des Gerichtsgebäudes getötet (DS 11.1.2017). [Ansonsten gab es seit Ende 2016 keine nennenswerten Anschläge.]

Die TAK, welche seit 2006 auf der EU-Liste der terroristischen Organisationen verzeichnet ist, kündigte am 6.6.2017 an, ihren Kampf in der Türkei zu intensivieren. So erklärte die TAK, alle Metropolen und Tourismusgebiete in der Türkei zu potenziellen Anschlagsgebieten (BMIBH 7.2018, vgl. TAK 21.1.2018).

Terroristische Gruppierungen: MLKP - Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)

Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Ideologisch bekennt sie sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus und strebt unter der Errichtung der "Diktatur des Proletariats" die Zerschlagung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer sozialistischen (kommunistischen) Gesellschaftsordnung in der Türkei an. Die MLKP sieht nach eigener Aussage: "Aktionen von revolutionärer Gruppen- und Massengewalt gegen die konterrevolutionäre Gewalt [als] gerechtfertigte und wirkungsvolle Mittel des politischen Kampfes" (BMIBH 7.2018, vgl. MLKP o.D.).

In jüngster Zeit lagen keine Meldungen über bewaffnete Aktionen der MLKP in der Türkei vor. Die MLKP schickt angeblich seit 2012 Freiwillige nach Syrien, um in den kurdisch dominierten Volksschutzeinheiten (YPG) zu kämpfen. MLKP-Kämpfer haben sich auch den Formationen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angeschlossen, die im Nordirak zur Verteidigung der jesidischen Minderheit von Sinjar [Shingal] kämpften. Mitglieder der MLKP haben sich auf Seiten der kurdischen YPG an den Kämpfen gegen den sog. Islamischen Staat in Syrien beteiligt (revolvy o.D., vgl. ANF 26.6.2016).

Fallweise kommt es zu Verhaftungen von regierungskritischen Journalisten, denen eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der MLKP vorgeworfen wird. So wurde im April 2018 der deutsch-türkische Journalist Adil Demirci wegen Mitgliedschaft in der MLKP verhaftet, begründet mit der Teilnahme Demircis an den Beerdigungen von drei Mitgliedern der MLKP in den Jahren 2013, 2014 und 2015. Die MLKP-Mitglieder waren Soldaten, die aufseiten der kurdischen Miliz YPG in Syrien gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft hatten (FR 20.4.2018). Dem 2017 verhafteten und mittlerweile freigekommenen deutsch-türkischen Journalisten, Deniz Yücel, wurde ebenfalls die Mitgliedschaft in der MLKP vorgeworfen (DerWesten 27.6.2018) ebenso wie der deutsch-türkischen Journalisten, Mesale Tolu, die 2017 zunächst festgenommen, und über die infolge ein Ausreiseverbot verhängt wurde, das im August 2018 aufgehoben wurde (SCF 20.8.2018).

Terroristische Gruppierungen: DHKP-C - Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) spricht sich für eine revolutionäre Zerschlagung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung in der Türkei aus. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und den "US-Imperialismus", der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Ihr Ziel, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in der Türkei, ist laut Parteiprogramm der DHKP-C nicht durch Wahlen zu erreichen, sondern ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der "Revolutionären Volksbefreiungsfront" (DHKC). Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 7.2018).

Die DHKP-C hat ihre terroristischen Aktivitäten in der Türkei im Jahr 2017 zwar fortgesetzt, jedoch ging das Ausmaß im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Die seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiterhin verschärfte Sicherheitslage in der Türkei und die damit verbundenen umfangreichen staatlichen Maßnahmen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die DHKP-C, etwa durch die Festnahme von Mitgliedern (BMIBH 7.2018). So wurden im Jänner 2018 sieben mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C in Istanbul verhaftet (Anadolu 9.1.2018). Zudem wurde Anfang 2017 bekannt, dass Mitglieder der DHKP-C bei einem Luftangriff des türkischen Militärs getötet wurden (BMIBH 7.2018).

3. Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (Agir Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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