TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/18 L526 2217251-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.06.2019
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Entscheidungsdatum

18.06.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §13 Abs2 Z1
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §18 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L526 2217251-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.2.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz: "BF" genannt), ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 10.11.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 11.11.2016 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er Mitglied der kurdischen HDP Partei sei. Er sei bei den letzten türkischen Wahlen als Verantwortlicher dabei gewesen. Er habe auch bei Demonstrationen in XXXX gegen den Staat teilgenommen. Drei Mal sei er deswegen von der türkischen Polizei festgenommen worden. Bei der letzten Festnahme sei er eine Woche lang in XXXX festgehalten worden. Jedes Mal sei er beschimpft und geschlagen worden. Die letzte Festnahme sei am 16.1.2016 gewesen. Am 21.1.2016 sei er wieder freigelassen worden. Am 23.1. 2016 sei er dann nach Istanbul gefahren und am 24.1.2016 ausgereist. Er habe Angst gehabt, dass er unschuldig verurteilt und getötet wird, weil der dies in seinem Freundeskreis oft erlebt hätte. In seiner Heimat habe er Marihuana geraucht. Nach seiner Einreise in Österreich habe er bei einem Freund gewohnt und habe dort Kokain, Heroin und Marihuana zu sich genommen. Er sei in Wien auch wegen des Konsums von Suchtmitteln festgenommen worden und sodann in die Justizanstalt XXXX überstellt worden. Dort sei er seit 9.6.2016 aufhältig. Das Strafverfahren sei noch nicht abgeschlossen.

2. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren auch kurz "BFA" oder "bB" genannt) am 22.3.2017 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er in der Türkei drei Mal operiert worden sei. Es sei ihm eine Platinplatte eingesetzt worden und er sollte nochmals operiert werden. Das habe er jedoch nicht in der Türkei machen lassen wollen. Er habe nach der dritten Operation nach Deutschland wollen, um sich operieren zu lassen, sei aber in Ungarn aufgegriffen worden. In Österreich sei er bei Bekannten zu Besuch gewesen und habe dort angefangen, seine Schmerzen mit Marihuana zu lindern. Mit der Zeit habe sich dann auch eine Abhängigkeit von anderen Drogen entwickelt. In Österreich warte er nun auf einen Operationstermin. Aufgrund eines Drogenersatzprogrammes in Österreich sei er nun von seiner Sucht befreit. Er nehme Schmerzmittel und benutze einen Asthmaspray. Zudem nehme er Magenschutztabletten ein. Das Delikt, wegen dem er im Gefängnis sei sei wegen Drogen gewesen; er habe aber nichts verbrochen, er sei nur dabei gewesen, als die anderen festgenommen worden sind und deshalb sei auch er festgenommen worden. Ein gerichtliches Urteil gebe es noch nicht.

Zu seiner Person gab der BF an, er trage den im Spruch ersichtlichen Namen und sei an dem ebendort ersichtlichen Tag in XXXX geboren. Drei Jahre sei er zur Volksschule gegangen und habe dann im Familienbetrieb in der Landwirtschaft gearbeitet. Er sei verheiratet und habe vier Kinder. Die Familie lebe in der Türkei. Sein Schwager sowie mehrere seiner Cousins lebten in Deutschland.

Er habe bereits im Februar 2016 einen Asylantrag in Ungarn gestellt. Von dem Verfahren wisse er nichts, er sei dort in einem geschlossenen Lager gewesen. Aufgrund der menschenunwürdigen Bedingungen im Lager wolle er dahin nicht zurück.

Im Zuge dieser Einvernahme legte der BF einen Ambulanzbrief eines Orthopädischen Spitals in Wien vor, aus welchem hervorgeht, dass für den Patienten aufgrund der starken Schmerzen ein Einweisungsschein zur operativen Sanierung ausgestellt wird. Es sei geplant, dass der Patient rechts eine Hüft-Totalendoprothese erhält, über welche auch eine Beinlängendifferenz ausgeglichen wird. Desweiteren werde auch ein Muskelrelease stattfinden und das osteosynthetische Material entfernt.

Am 19.10.2018 wurde die bB von einer "Anordnung von Rechtshilfemaßnahmen" der Staatsanwaltschaft Wien an das "SPK-Josefstadt" aufgrund eines Rechtshilfeersuchen der Generalanwaltschaft XXXX in Kenntnis gesetzt. Darin wird ersucht, den BF als Beschuldigten zu einem Drogendelikt, in welches eine Person namens XXXX und ein niederländischer Drogenkurier verwickelt sein sollten, zu vernehmen.

Aus einem im Akt erliegenden Patientenbrief des XXXX vom 27.4.2018 geht hervor, dass der BF von 12.4.2018 bis 30.4.2018 in einem Krankenahaus der Stadt Wien in Behandlung war. Am 13.4.2018 sei eine Materialentfernung sowie eine Implantation "Hüft TEP" erfolgt. Das postoperative Röntgenbild zeige eine "schöne Situation". Es sei eine Antibiotikatherapie für zwei Wochen sowie "Rifampicin" empfohlen worden. Kurz vor der Entlassung sei die Antibiotikatherapie umgestellt worden, das "Rifampicin" solle weiter genommen werden und als Biofilm- wirksame Therapie sei eine Antibiotikatherapie für drei Monate erforderlich. Am 30.4.2018 sei der Patient in häusliche Pflege entlassen worden. Einem ebenfalls im Akt erliegenden Medikamentenplan (AS 177) seien die dort aufgelisteten Medikamente ab dem Datum des Beginns der Einnahme bis zum Aufbrauchen der Packung zu nehmen. Aus dem Patientenbrief vom 27.4.2018 geht hervor, dass ein Medikament, nämlich PRADAXA, bis zur vollständigen Mobilisierung einzunehmen ist. Aus einem Entlassungbrief des Krankenhauses, in welchem der BF behandelt wurde, geht hervor, dass dem BF vom ersten Tag nach der Operation bis zur Entlassung eine Physiotherapie und Unterarmstützkrücken verordnet wurden. Dem ärztlichen Entlassungsbrief einer Rehabilitatiosklinik vom 16.7.2018 zufolge sei der Patient mit nur einer Krücke mobil und sei er mit dem bisherigen Therapieverlauf zufrieden. Stiegensteigen sei unter Verwendung des "HL" möglich gewesen, die Aktivitäten des täglichen Lebens hätten durch den Patienten selbständig bewältigt werden können.

Ferner wurden folgende Dokumente zum Akt genommen:

- Zertifikat über die Teilnahme am Kurs "Deutsch A1"

- Fünf Bestätigungen eine Ärztin für Allgemeinmedizin, Integrative Suchtberatung XXXX , die zwischen 17.5.2017 und 16.11.2018 ausgestellt wurden; aus diesen geht hervor, dass der BF zu den in den Schreiben genannten Terminen in der zuvor genannten Einrichtung anwesend war. Mit Schreiben vom 17.5.2017 wurde Folgendes diagnostiziert: Pottraumatische Koxarthrose, Reaktion auf schwere Belastung und Anpassungsstörung, generalisierte Angststörung, mittelgradige depressive Episode. Am 16.11.2018 wurden zudem eine Gastritis Duodenitis und Asthma bronchiale diagnostiziert. Zudem wurde festgehalten, dass eine Langzeittherapie als dringend notwendig erachtet werde. Seit dem Beginn der Therapie in der Einrichtung habe eine Stabilisierung der Situation des Patienten erreicht werden können. Der Patient nehme alle Termine regelmäßig wahr.

Anlässlich einer Einvernahme des BF am 28.11.2018 durch die bB gab der BF Folgendes an (Auszugsweise Wiedergabe, Fehler im Original):

"LA: Wie geht es Ihren Angehörigen, worüber sprechen Sie?

VP: Meine Mutter und Frau erzählen mir, dass Soldaten zu uns kommen und sagen, dass Sie wissen, dass ich in Österreich bin. Ich habe in Österreich an einer Demonstration teilgenommen und habe es live auf Facebook geteilt. Meine Mutter war böse und hatte Angst, dass sie Schwierigkeiten bekommen. Ich habe es dann gelöscht.

LA: Machen Sie konkrete Angaben, was hat Ihnen Ihre Familie über die Soldaten erzählt, wann waren Sie zuletzt bei Ihnen, was konkret wollten Sie etc.?

VP: Sie sagen, dass Sie in XXXX Probleme mit den Nachbarn haben. In dieser Stadt gibt es viele AKP Sympathisanten. Sie bezeichnen meine Familie als Terroristen. Sie wollen, dass meine Familie für AKP stimmt. Ich habe meinen Kindern geraten, so zu tun, als ob sie die Stimme der AKP geben wurden, damit sie keine Probleme bekommen. Aber dann können Sie wählen was sie wollen. Es wird großer Druck ausgeübt.

LA: Wiederholung der Frage, was meinen Sie mit großen Druck, erklären Sie das?

VP: Psychischer Druck wird ausgeübt.

LA: Was konkret meinen Sie damit, gab es Vorfälle etc.?

VP: Meine Kinder haben Angst in die Schule zu gehen.

LA: Gehen Ihre Kinder nun in die Schule?

VP: Ja.

LA: Wann, mit wem und wie haben Sie die Türkei nun konkret verlassen

VP: Ich habe gemeinsam mit meinem Cousin Mehmet, er ist jetzt in Deutschland, am 23.1.2016 die Türkei verlassen.

LA: Sind Sie nun legal oder illegal ausgereist?

VP: Illegal

LA: Erklären Sie mir, wenn Sie mit Ihren Reisepass ausgereist sind, illegal ausgereist sind?

VP: Wir wussten, dass man uns festnehmen würde, deswegen konnten wir nicht legal ausreisen. Ich bin mit einem fremden türkischen Reisepass, der einem türkischen Lehrer gehörte, ausgereist.

LA: Wie lange waren Sie im Kosovo aufhältig?

VP: Ich war einen Tag im Kosovo aufhältig. Wir sind dann am nächsten Tag mit einem PKW nach Serbien gebracht worden, dort waren wir 4 Tage. Dann sind wir nach Ungarn. In Ungarn wurden wir aufgegriffen, dort waren wir 2 Monate. Nach den zwei Monaten bin ich am 1. April 2016 mit einem PKW nach Österreich.

LA: Haben Sie in Ungarn einen Asylantrag gestellt?

VP: Ja.

LA: Wie ist Ihr Verfahren ausgegangen?

VP: Es gab keine Entscheidung.

LA: Warum haben Sie Ihr Verfahren nicht abgewartet?

VP: Es wurde uns geraten zu flüchten. Es wurde uns gesagt, dass man in Ungarn vorhat uns in die Türkei abzuschieben. Es gab auch mehrere Beispiele dafür. Wir sind dann aus Ungarn geflüchtet, sind untergetaucht und nach Österreich weitergereist.

LA: Wann und wie sind Sie hier in Österreich eingereist?

VP: Ich bin am 1. April 2016 illegal eingereist. Ich habe erst 6 Monate später einen Asylantrag gestellt. Weil meine Verwandten gesagt haben, dass ich sonst nach Ungarn zurück müsste. Meine Cousins haben das mir erzählt.

LA: Haben Sie Österreich seither je verlassen?

VP: Nein. Ich bin durchgehend hier in Österreich aufhältig.

LA: Wo wohnen Sie hier in Österreich?

VP: XXXX .

LA: Haben Sie Angehörige bzw. Bekannte hier in Österreich, bzw. besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu hier in Österreich lebenden Personen? Besteht hier in Österreich ein gemeinsames Familienleben, führen Sie eine Lebensgemeinschaft?

VP: Nein. Ich habe einige Cousins hier. Ich bin zwar in der Grundversorgung, ab und zu bekomme ich von Ihnen Geld. Ein Abhängigkeitsverhältnis besteht nicht. Meine Verwandten leben in XXXX .

LA: Haben Sie in der Türkei Straftaten begangen, gibt es einen Haftbefehl, gerichtliche Verurteilungen?

VP: Ich habe keine Straftaten begangen. Die Türkei weiß, dass ich in Österreich bin. Es wurde dort ein Verfahren gegen mich eröffnet. Ich war hier bei der Polizei im XXXX und habe Unterlagen abgeholt. Ich war in Österreich in Haft.

LA: Weswegen waren Sie in Österreich in Haft?

VP: Ich habe bei Verwandten gewohnt. Sie wurden wegen Drogen festgenommen. Ich war 6 Monate illegal hier aufhältig, bin in Österreich untergetaucht. Jetzt gibt es hier in Österreich eine Gerichtsverhandlung deswegen. Ich warte noch darauf. Mein Betreuer von der Diakonie hat mir gesagt, dass am 12. Dezember 2018 eine Gerichtsverhandlung ist.

LA: Gibt es einen Haftbefehl gegen Sie?

VP: Es gibt keinen offiziellen Haftbefehl gegen mich. Aber die Polizei in der Türkei fragt nach mir und meinem Cousin.

LA: Können Sie sich auf die gestellten Fragen konzentrieren und verstehen Sie die Dolmetscher?

VP: Ja

FLUCHTGRUND:

LA: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Nennen Sie ihre konkreten und ihre individuellen Fluchtgründe dafür? Schildern Sie bitte Ihre Fluchtgründe in freier Erzählung. Nehmen Sie sich ruhig Zeit dafür. Erzählen Sie so viele Details wie möglich. Sprechen Sie bitte auch über Ihre Emotionen Gefühle usw.?

VP: Es besteht keine Sicherheit auf mein Leben in der Türkei. Ich würde in der Türkei sofort festgenommen werden. Ich bin Mitglied bei der HDP-Partei. Ich war bei den Wahlen am 7.6.2015, hatte ich Dienst im Wahllokal für die Partei HDP. Die Polizei hat uns bedroht. Viele meiner Kollegen mussten das Wahllokal verlassen, weil Sie Angst um Ihr Leben hatten. Ich blieb aber bei der Urne und wollte verhindern, dass unrechtmäßig Stimmen in die Urne geworfen werden. Am Ende der Wahl haben wir gemeinsam die Urne zum Gouverneur gebracht. Man hat aber nicht zugelassen, dass wir die Urne bei diesem Amt abgeben. Wir mussten die Urne dort lassen. Wir wurden wieder zurück geschickt. Zu diesem Zeitpunkt war noch der Friedensprozess zwischen Staat und Kurden noch gültig. Deswegen ist uns nicht mehr passiert als Drohungen. Weil die kurdische Partei die Stimmgrenze überschritten hat und ins Parlament durfte, hat die Regierung Neuwahlen angesetzt. Weil die kurdischen Abgeordneten ins Parlament durften hat Erdogan begonnen die Kurden zu verfolgen. Drei Tage vor den Wahlen am 1.11.2015 wurde mein Cousin und ich festgenommen und bedroht. Wir wurden am Abend wieder freigelassen. Ich habe eine Ohrfeige bekommen. Es wurde uns geraten, sich nicht mehr für die kurdische Partei zu engagieren. Wir wurden mit dem Umbringen bedroht.

Am 1. November 2015 wurden die Wahlen abgehalten. Ich war wieder in einem Wahllokal bei der Urne. Mehrere meiner Kollegen konnten aus Angst nicht zum Wahldienst kommen. Die Polizei sagt zu uns, dass wir, wenn die Urnen aufgemacht werden, nichts sagen dürfen. Ich habe gesagt, dass ich die Stimmen ordentlich zählen werde und die abgegebenen Stimmen protokollieren würde. Danach ist nicht mehr viel passiert. Einen Monat später, im Dezember bin ich in mein Heimatdorf gefahren. Mein Onkel mütterlicherseits ist nach wie vor Dorfvorsteher von der Partei AKP. Er warnte mich, dass ich umgebracht werden würde. Er sagte auch, dass der Kommandant kommt und meinen Onkel auffordert ein ernstes Wort mit mir zu sprechen. Weil ich aber trotzdem weitergemacht habe, hat mein Onkel mit mir abgebrochen. Die Soldaten waren immer wieder im Dorf und haben immer gesagt, dass XXXX es bereuen wird, dass er weitermacht. Dann bin ich nach XXXX zurück. Am 16. Jänner 2016 hat mich die Polizei von zu Hause abgeholt. Genauso wurde mein Cousin Mehmet abgeholt. Sie brachten uns zur Polizeidienststelle und haben uns Terroristen genannt und erniedrigt. Sie haben uns bedroht. Sie haben gesagt, dass Sie unsere Frauen zur Polizeidienststelle bringen und vergewaltigen würden. Sie haben uns beschimpft. Ich wurde geschlagen. Bis zum 21. Jänner 2016 haben Sie uns dort festgehalten. Sie haben uns gefragt, was wir gemacht haben, als die PKK-Kämpfer ins Dorf gekommen sind. Was wir mit ihnen besprochen haben und mit Lebensmittel versorgt hätten. Sie haben mich beschuldigt, dass ich bei mir zu Hause Lebensmittel gelagert hätte und die Kämpfer versorgt hätte. Ich lehnte diese Anschuldigungen ab. Diese Fragen haben doch der Wahrheit entsprochen. Wir und andere auch haben immer wieder die Kämpfer unterstützt. Am 21. Jänner 2016 in der Früh hat uns die Polizei gehen lassen. Wir sind kurz zu Hause gewesen und haben uns von unseren Familien verabschiedet. Wir fuhren mit dem Bus am Abend nach Istanbul. Mein Cousin hat in Istanbul den Schlepper organisiert. Am 23. Jänner 2016 sind wir wie ich vorhin erzählt habe in den Kosovo geflogen. Als wir in Ungarn waren, haben wir von unseren Familien erfahren, dass die Polizei bzw. Soldaten sowohl im Dorf als auch in XXXX , bei uns zu Hause waren und nach uns gefragt haben.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Nein, ich habe alles erzählt.

LA: Möchten Sie noch etwas zu Ihren Fluchtgründen ergänzend vorbringen?

VP: Nein.

LA: Seit wann sind Sie Mitglied der HDP?

VP: Seit 2008 bin ich Mitglied bei der HDP, damals hat die Partei anders geheißen?

LA: Wie hat die Partei geheißen?

VP: BDP.

LA: Haben Sie entsprechende Beweismittel, wie z.B. Mitgliedsausweis, etc.?

VP: Genannter legt einen Ausweis im Original aus dem Jahr 2008 als Wahlbeobachter vor

Genannter legt einen Ausweis im Original aus dem Jahr 2015 als Wahlbeobachter vor.

LA: Was konkret waren Ihre Aufgaben nun in der Partei?

VP: Ich hatte die Funktion bei jeglicher Veranstaltung die Bevölkerung zu benachrichtigen. Als die Freiheitskämpfer ins Dorf gekommen sind, habe ich als Verbindungsmann zwischen Ihnen und Partei gespielt. Ich habe Brief hin und hergebracht. Ich habe Botendienste verrichtet. Die Kämpfer haben über mich die Partei verständigt, dass die politischen Häftlinge in den Gefängnissen keine Bücher haben. Die Partei hat es dann erledigt.

LA: Gibt es sonst noch Familienmitglieder bzw. Angehörige die in der Partei HDP Mitglied sind?

VP: Gibt es. Sie sind aber nicht offizielles Mitglied, deswegen sind Sie weniger gefährdet. Es geht ihnen aber nicht gut.

LA: Warum, machen Sie konkrete Angaben?

VP: Es kommen die Wahlen.

LA: Wiederholung der Fragen?

VP: Sie werden von der Polizei wegen der Kämpfer, die ins Dorf kommen, verhört.

LA: Hatten Sie eine spezielle Funktion in der Partei, eine Führungsfunktion?

VP: Nein, dazu fehlt mir die Gabe und Ausbildung für höhere Funktionen.

LA: Was konkret waren Ihre Aufgaben als Wahlbeobachter?

VP: Ich habe beobachtet, dass unsere Stimmen nicht veruntreut werden. Es waren von jeder Partei Wahlbeobachter dabei.

LA: Wie viele Wahlbeobachter gab es von der HDP?

VP: Es gibt sehr viele Wahlbeobachter bei meiner Partei.

LA: Schildern Sie mir konkret die Situation als die Polizei Sie mitgenommen und eingesperrt hat?

VP: Am 1. Tag waren wir in einzelnen Räumen. Am zweiten Tag sind wir in einem Raum gewesen.

LA: Machen Sie konkrete Angaben dazu, wie war der Ablauf, beschreiben Sie den Raum, Personen, etc.?

VP: Im Raum gab es ein schmales Fenster. Es war ein Bett, äh zwei Betten. Wir hatten eine Decke. Sonst gab es nicht. Es gab einen Knopf, wenn wir auf die Toilette mussten, haben wir geläutet. Ich wurde am 1,2 und 3 Tag geschlagen. Dann wurden wir nicht mehr geschlagen. Sie sind immer zu zweit oder dritt gekommen. Selten vier Personen. Wir konnten Ihre Gesichter nicht sehen.

LA: Wie und warum wurden Sie freigelassen?

VP: Am Letzen Tag wurden wir freigelassen. Der Polizist hat gesagt, wir sollen an unsere Kinder denken.

LA: Haben Sie Ihre Partei darüber informiert?

VP: Unsere Freunde haben die Partei informiert.

LA: Wie ging es weiter?

VP: Die Partei hat gesagt, so ist es eben. Das sind Sachen die normal sind.

LA: Haben Sie eine Erklärung, wenn Sie so verfolgt werden, warum Ihre Familie und Verwandten noch in der Türkei aufhältig sind, warum ist Ihre Familie nicht geflohen?

VP: Es wäre schwer sie mitzunehmen. Sowohl finanziell als auch anders. Ich habe oft gehört, dass Leute sterben. Sie sind nicht so gefährdet wie ich, ich bin Mitglied der HDP.

LA: Wie finanzieren Sie sich Ihr Leben hier in Österreich, gehen Sie einer Beschäftigung nach?

VP: Ich bekomme staatliche Unterstützung.

LA: Sind Sie in einer Organisation oder in einem Verein tätig oder Mitglied, welche Integrationsschritte haben Sie seit ihrem Aufenthalt gesetzt?

VP: Ich habe die A1 Deutschprüfung absolviert. Derzeit mache ich den A2-Deutschkurs. Ich war im Krankenhaus, deswegen habe ich eine Pause gemacht. Ich bin kein Mitglied in einem Verein. Ich besuche den kurdischen Verein.

LA: Was machen Sie in Ihrer Freizeit, wie schaut Ihr Tagesablauf bzw. Alltag hier in Österreich aus, haben Sie Freunde, Bekannte etc.? Welche Integrationsschritte haben Sie bisher gesetzt?

VP: Ich habe einen Kulturpass bekommen. Ich war im Schloss Schönbrunn.

LA: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft hier in Österreich vor?

VP: Ich möchte noch besser Deutsch lernen. Ich möchte unbedingt selbst eine Firma gründen und einer Arbeit nachgehen.

LA: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr in die Türkei, was würde passieren?

VP: Ich würde sofort festgenommen werden. Was dann passiert, weiß ich nicht."

Ferner brachte der BF anlässlich dieser Einvernahme zusammengefasst vor, die Familie habe eine Landwirtschaft gehabt, wo er geholfen habe. Er sei verheiratet, seine Frau sei Hausfrau und lebe mit den Kindern noch in ihrer Eigentumswohnung in der Türkei. Er habe zwei Söhne und zwei Töchter. Er habe fast täglich telefonischen Kontakt zu seiner Familie. Das Leben seiner Familie werde durch die Schwiegereltern sowie durch Geschwister finanziert. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter lebe bei seiner Familie. Er habe auch vier Schwestern und einen Bruder und auch noch Onkel und Tanten mit ihren Familien. Alle lebten sie in XXXX .

Auf eine Ausfolgung der länderkundlichen Informationen der bB zur Türkei sowie eine Stellungnahme dazu verzichtete der BF.

Kopien folgender Dokumente wurden zum Akt genommen:

- einen Auszug aus dem Familienregister

- Nüfus für verschiedene Familienmitglieder und Auszüge aus einem Nüfüs Register

- Behandlungskarten eines Ambulatoriums zur "Mobilisation re. Hüftgelenk Gangschulung"; wonach der letzte Termin am 24.1.2019 anberaumt wurde

- eine Bestätigung des Fonds Soziales Wien über die Teilnahme des BF an einem Deutschkurs

Zum Akt wurden ferner eine Verständigung des Landesgerichtes für Strafsachen Wien über ein rechtskräftig ergangenes Urteil sowie ein Protokollsvermerk und eine gekürzte Urteilsausfertigung zum Verfahren, Zl. XXXX , genommen.

Diesem Urteil zufolge hat der BF in XXXX vorschriftswidrig Suchtgift

1. in einer die Grenzmenge (§ 28 b SMG) übersteigenden Menge anderen, im Urteil näher bezeichneten Personen, überlassen, indem er von Anfang 2016 bis 18.6.2016 in XXXX eine nicht mehr feststellbare Menge von mehr als 58 Gramm Heroin um zumindest 30 Euro pro Gramm verkaufte.

2. mit dem Vorsatz, dass es in Verkehr gesetzt werde, und zwar in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) mit einer anderen im Urteil näher bezeichneten Person am 18.6.2016 in XXXX von einer ebendort näher bezeichneten Person insgesamt 495,8 Gramm Heroin, enthaltend eine Reinsubstanz von 228,9 Gramm Heroin, 13,57 Gramm Acetylcodein und 8,19 Gramm Monoacetylmorphin und 3,6 Kilogramm Cannabisblüten zu erwerben versucht, was nur durch das Einschreiten der Kriminalpolizei scheiterte.

Hierdurch hat der BF das Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und das Verbrechen der Vorbereitung des Suchtgifthandels nach den §§ 15 StGB 28 Abs. 1 erster und zweiter Fall Abs. 2 SMG sowie das Verbrechen des Suchtgifthandels nach den §§ 12 dritter Fall StGB und 28a Abs. 1 erster und dritter Fall, Abs. 2 Z 2 und Abs. 4 Z 3 SMG begangen und wurde hierzu zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Die Vorhaft vom XXXX bis XXXX wurde auf die verhängte Strafe angerechnet.

Als mildernd wurde das teilweise Geständnis, die bisherige Unbescholtenheit, der Umstand dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, das lange Zurückliegen der Taten und die lange Verfahrensdauer gewertet. Als erschwerend wurde das Zusammentreffen verschiedener strafbarer Handlungen gewertet.

Freigesprochen wurde der BF jedoch von dem Vorwurf, er habe

A.) vorschriftswidrig Suchtgift als Mitglied einer türkisch-kurdischen kriminellen Vereinigung rund um die in dem Urteil näher bezeichneten Personen in einer die die Grenzmenge übersteigenden Menge anderen überlassen, indem er insgesamt eine das fünfzehnfache der Grenzmenge übersteigende Menge

a. in bewussten und gewolltem Zusammenwirken als Mittäter im Jahr 2016 bis 13.6.2016 in XXXX an die im Urteil näher bezeichneten Personen, je zumindest 30 Gramm und weitere 50 Gramm,

b. von Anfang 2016 bis 18.6.2016 in XXXX an eine im Urteil näher bezeichnete Person

verkaufte

B.) mit einer im Urteil näher genannten Person in den Tagen vor dem 18.6.2016 dadurch, dass sie das Suchtgift bei XXXX in Holland bestellten, dazu beigetragen, dass XXXX am 17. und 18.6.2016 das fünfundzwanzigfache der Grenzmenge vermutlich in Salzburg aus den Niederlanden über Deutschland nach Österreich eingeführt hat, indem er insgesamt 495,8 Gramm Heroin in dem im Auftrag eines unbekannten Kurden in seinem Ford mit einem bulgarischen Kennzeichen nach Österreich transportierte.

Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid der bB wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 18 Abs. 1 Z 2 BFA-VG wurde einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt (Spruchpunkt VII.). Ferner wurde festgestellt, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 18.6.2016 verloren habe (Spruchpunkt VIII.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IX).

In der Begründung werden zunächst die Angaben des BF zu seinem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA wörtlich wiedergegeben und wird anschließend festgehalten, dass es sich beim BF um einen türkischen Staatsangehörigen und Zugehörigen zur Volksgruppe der Kurden handle. Die Kernfamilie des BF halte sich noch in der Türkei auf und lebe in deren Eigentumswohnung. Er habe regelmäßigen Kontakt mit diesen. Auch weitere Verwandte lebten in der Türkei. Zum Gesundheitszustand des BF wurde festgehalten, dass dieser an einer posttraumatischen Hüftkopfnekrose mit Coxarthrose und Teilankylosierung des rechten Hüftgelenks laboriere. Der BF laboriere daran bereits seit seinem zehnten Lebensjahr und sei deshalb auch in der Türkei schon behandelt worden. Der BF leide an keinen chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstünden und in den Nahebereich des Art. 2 bzw. 3 EMRK kommen würden. Er sei ein arbeitsfähiger Mann, dessen Teilnahme am Erwerbsleben so wie bisher - in der Türkei habe er seinen Lebensunterhalt durch eine Tätigkeit in der Landwirtschaft seiner Familie finanziert - möglich ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu hier in Österreich lebenden Personen bestehe nicht.

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates wurde zusammengefasst ausgeführt, dass nicht festgestellt habe werden können, dass der BF einer asylrelevanten Verfolgung oder Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt war oder hinkünftig sein werde. Im Herkunftsstaat drohe dem BF auch keine EMRK relevante Gefährdung und sei auch nicht zu befürchten, dass der BF im Falle einer Rückkehr in eine Notlage geraten würde.

In Österreich lebten einige Cousins und ergebe sich aus dem Aktenstand, dass der BF sich erst seit April 2016 in Österreich aufhalte. Er führe in Österreich auch keine Lebensgemeinschaft und gehöre keinem Verein oder einer sonstigen Organisation an, weshalb von einem schützenswerten Privat- oder Familienleben nicht ausgegangen werden könne. Der BF sei nur aufgrund seiner Asylantragstellung zum Aufenthalt berechtigt und verfüge über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Festgestellt wurde weiters, dass der BF im Bundesgebiet straffällig und dafür rechtskräftig verurteilt wurde.

Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage in der Türkei.

Beweiswürdigend führte das BFA aus:

"Unter Zugrundelegung Ihrer Angaben im Verfahren lässt sich keinerlei individuelle Verfolgungssituation durch oder in Ihrem Herkunftsstaat erkennen. Ihre Angaben enthalten keinen Hinweis auf eine Verfolgung oder Bedrohung, die unter den Bestimmungen der GFK zu subsummieren wäre.

Im Zentrum Ihres Asylbegehens, stellten Sie die angebliche Verhaftung und Verfolgung seitens des türkischen Staates, die Sie aufgrund Ihrer Mitgliedschaft der HDP-Partei und der Tätigkeit als Wahlhelfer bzw. Wahlbeobachter zu ertragen hätten.

Bei Ihrer eigenen Darstellung der Fluchtgründe haben Sie sich beim BFA auf das Aufstellen von bloß abstrakten und allgemeinen Behauptungen beschränkt. Aufgrund der nachstehenden Ausführungen ist Ihr Vorbringen nicht glaubhaft und auch in sich nicht schlüssig. Ihr Vorbringen ist nicht durch Tatsachen belegt. Während der gesamten Einvernahme beschränkten Sie sich auf Gemeinplätzen. Sie waren nicht in der Lage, konkrete und detaillierte Angaben über Ihre Erlebnisse zu machen.

Sie führten in der niederschriftlichen Einvernahme an, dass Ihre Familie als Terroristen bezeichnet werden und psychischer Druck ausgeübt werden würde. Auf Nachfragen konnten Sie jedoch keine entsprechenden Angaben darüber tätigen. Im Gegenteil, Sie führten lapidar aus, dass Soldaten zu Ihnen kommen würden. Für die Behörde ist es nicht schlüssig nachvollziehbar, dass, falls so großer Druck, wie von Ihnen behauptet, auf Ihre Familie ausgeübt werden würde, Ihre Familie an ihrer ursprünglichen Adresse noch aufhältig ist. Sie relativierten Ihre Aussage auch dann wieder, indem Sie anführten, dass die Kinder Angst hätten in die Schule zu gehen, jedoch diese aber besuchen würden. Auch zu ihrer angeblichen Festnahmen und Bedrohung durch die Polizei konnten Sie kein glaubhaftes Vorbringen schildern. Sie führten an, dass Sie eine Ohrfeige bekommen hätten und danach freigelassen worden wären. Sie konnten auch keine konkreten Angaben zu Ihrer scheinbaren Festnahme bzw. Anhaltung durch die Polizei vom 16. Jänner 2016 bis

21. Jänner 2016 schildern. Sie führten völlig unglaubwürdig aus, dass Sie am ersten Tag in einzelnen Räumen und am zweiten Tag in einem Raum gewesen wären. Auf Nachfragen gaben Sie an, dass Sie geschlagen worden wären und machten eine rudimentäre Beschreibung des Raumes und Ablaufes in diesem Zeitraum. Auch die Umstände Ihrer Freilassung konnten Sie nicht erklären, auch diesbezügliche Beweismittel konnten Sie nicht vorlegen. Von der ho. Behörde kann zwar durchaus als glaubhaft betrachtet werden, dass Sie als Wahlbeobachter tätig waren, jedoch wird bloß aufgrund dessen keinesfalls von asylrelevanter Verfolgung ausgegangen. Die Behörde zweifelt in diesem konkreten Punkt an der Glaubwürdigkeit des Vorbringens. Sie wären von der Polizei festgehalten und befragt worden. Eine grundlose Entlassung ohne weitere daraus erwachsende Folgen erscheint unglaubwürdig. Selbst bei angenommener Glaubwürdigkeit Ihrer Festnahme bzw. Anhaltung ist anzumerken, dass eine Anhaltung nicht die für die Annahme einer Verfolgung erforderliche erhebliche Intensität aufweist.

Bei der von Ihnen behaupteten Anhaltungen handelt es sich zweifellos um einen Eingriff in die persönliche Freiheit. Die Tatsache, dass die Anhaltung nach eigenen Angaben ohne weitere Folgen im Sinne der Einleitung eines Strafverfahrens geblieben ist bzw. Sie nicht vorgeladen und nicht nach Ihnen gefahndet wird, lässt erkennen, dass diese Maßnahme nicht als gezielte Verfolgung von Ihnen wegen zumindest unterstellter ablehnender Einstellung gegen den türkischen Staat angesehen werden könnte. Dies zeigt sich insbesondere auch darin, dass Sie laut Ihren eigenen Aussagen nach der Anhaltung ohne Konsequenzen freigelassen wurden. Es existiert auch kein Haftbefehl gegen Sie und Sie wurden strafrechtlich nicht verurteilt.

Da Sie keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt haben und die Todesstrafe in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war im Folgenden zur Feststellung zu gelangen, dass Sie im Fall Ihrer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würden. Ebenso kann aus Ihrem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe abgeleitet werden, zumal keine polizeilichen Maßnahmen gegen Sie von Ihnen glaubhaft gemacht wurden und auch andere begangene Delikte nicht hervorgekommen sind.

Befragt zu Ihren konkreten Tätigkeiten und Aufgaben als Wahlbeobachter und Parteimitglied führten Sie an, dass Sie Botendienste verrichtet und auch keine spezielle Funktion in der Partei innegehabt hätten. Dass es der türkische Staat bzw. die türkischen Behörden alleine wegen dieser Tätigkeit auf Sie abgesehen hätten bzw. Ihnen lediglich aufgrund dessen maßgeblichen Verfolgung drohen würde, erscheint für die ho. Behörde keinesfalls als plausibel, zumal Ihre Schilderungen der Bedrohungsszenarien mit der Polizei völlig unglaubwürdig sind.

Die individuelle Betroffenheit ist ausschlaggebend für eine Asylgewährung, Sie konnten zu der einzigen, von Ihnen vorgebrachten persönlichen Bedrohung nur vage und allgemeine Angaben tätigen.

Es ist für die Behörde auch nicht plausibel und schlüssig nachvollziehbar, warum Sie erst Monate später nach Ihrer illegalen Einreise in Österreich während Ihrer Untersuchungshaft einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht haben. Geht die Behörde doch davon aus, dass ein Schutzsuchender jegliche Gelegenheit nützt um einen Antrag auf internationalen Schutz einzubringen."

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass die vom BF behauptete Furcht, in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, wie sich aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergebe habe, nicht begründet sei. Eine aktuelle oder zum "Fluchtzeitpunkt" bestehende asylrelevante Verfolgung sei im Ermittlungsverfahren nicht hervorgekommen.

Aus dem Vorbringen und der allgemeinen Situation sei auch im Falle der Rückkehr keine unmenschliche Behandlung oder extreme Gefährdungslage ersichtlich. Eine Interessenabwägung ergebe, dass die Rückkehrentscheidung zulässig sei.

4. Mit Verfahrensanordnungen der bB vom 18.02.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde, in welcher zu den Ausreisegründen dargelegt wurde, dass er Wahlbeobachter gewesen sei und auch an Demonstrationen gegen das türkische Regime teilgenommen habe. Er sei festgenommen und als PKK Terrorist beschimpft worden und ihm sei mit dem Tod und der Vergewaltigung seiner Frau gedroht. Der BF sei am 24.1.2016 aus seiner Heimat geflohen und nehme weiterhin an Demonstrationen teil.

Der in Beschwerde gezogene Bescheid erweise sich in mehreren Punkten als rechtswidrig. Grob zusammengefasst wurde dazu dargelegt, dass sich die bB mit der Mitgliedschaft bei der HDP hätte näher auseinandersetzen müssen oder mit den Haftbedingungen, insbesondere wenn es sich bei den Inhaftierten um mit der HDP in Verbindung gebrachte Personen handelt. In diesem Zusammenhang wurde aus einer Vielzahl von Berichten zitiert.

Der BF habe seine Fluchtgründe von sich aus über eine ganze A4 Seite dargelegt. Der BF habe auch angegeben, dass er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden sowie seiner politischen Aktivitäten und damit seiner politischen Gesinnung verfolgt worden sei. Der Ansicht der bB, dass die Ausführungen in Bezug auf die Festnahmen und Bedrohungen durch die Polizei nicht glaubhaft wären, sei entgegenzuhalten, dass sich die Ausführungen des BF mit den Informationen aus den von der bB herangezogenen Länderberichten decken würden und diese würden ein solches Vorgehen der Polizei bestätigen. Dies treffe auch auf die Ausführungen in Bezug auf die Tätigkeit als Wahlbeobachter zu. Nun habe sich der BF selbst kritisch gegenüber der Regierung geäußert und sei deshalb auch mehrfach bzw. dauerhaft in den Fokus der Sicherheitskräfte gekommen. Das staatliche Handeln ziele insgesamt darauf ab, dass sich der BF in seiner politischen Willensbetätigung einschränke bzw. diese aufgebe. Hätte die bB das gesamte Vorbringen des BF und die Länderberichte entsprechend gewürdigt, wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass die geschilderte Verfolgungsgefahr objektiv nachvollziehbar ist und insgesamt von einer systematischen Verfolgung der HDP und ihrer Mitglieder, insbesondere des BF, auszugehen sei. Auch müsse hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. a der Status-Richtlinie davon ausgegangen werden, dass der BF schon allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe in der Türkei Repressionen zu erwarten habe und dies sei jedenfalls als systematische Verfolgungshandlungen zu qualifizieren.

Wie aus den Aussagen des BF hervorgehe, drohe dem BF eine unmenschliche bzw. erniedrigende Strafe oder Behandlung, da er bereits mehrfach einvernommen, bedroht und auch misshandelt worden sei.

Der BF sei nach seinen Möglichkeiten um Integration bemüht und werde diesbezügliche Unterlagen noch vorlegen. Er bemühe sich nach Kräften um eine Betätigungsmöglichkeit für Asylsuchende. Zumindest wäre dem BF ein Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG zu erteilen gewesen.

Die Erlassung eines zehnjährigen Aufenthaltsverbotes stehe jedenfalls nicht in einem angemessenen Verhältnis zum persönlichen Verhalten des BF.

Der Beschwerde wurden folgende Dokumente angeschlossen:

- eine bereits vorgelegte Bestätigung eine Ärztin für Allgemeinmedizin für die Integrative Suchtberatung XXXX vom 16.11.2019

- ein ärztlicher Befundbericht vom 25.3.2019, wonach folgende medizinisch relevante Situation vorliege: "Status post. TEP re. Hüfte bei korrigierte Beinlängendifferenz, Bursitis und Hüftkopfreizung linke Hüfte, Postoperative Thrombophlebitis." Der Patient sei in laufender medizinischer Betreuung

6. Eine Einsichtnahme in des Zentrale Melderegister der Republik Österreich am 13.5.2019 ergab, dass der BF keinen aufrechten Wohnsitz im Inland hat. Eine Anfrage sowohl bei der bB als auch bei der Rechtsvertretung ergab, dass dort keine Informationen über den Verbleib des BF vorliegen.

7. Mit Schreiben vom 21.5.2019 legte die Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe die am 20.3.2019 vorgelegte Vertretungs- und Zustellvollmacht zurück.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist türkischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Er wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren. Er reiste zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt aus der Türkei aus und nach einem Aufenthalt in Ungarn, wo er im Februar 2016 einen Asylantrag stellte, zu einem ebenfalls nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt illegal in Österreich ein. Hier stellte er am 11. 11. 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Kernfamilie des BF, bestehend aus seiner Frau und vier Kindern, hält sich in der Türkei auf und lebt in einer Eigentumswohnung. Der BF hat regelmäßigen Kontakt mit diesen. Auch seine Mutter und weitere Verwandte leben in der Türkei.

Der BF litt seit seinem zehnten Lebensjahr an einer posttraumatischen Hüftkopfnekrose mit Coxarthrose und Teilankylosierung des rechten Hüftgelenks und wurde deshalb in der Türkei bereits zwei Mal operiert. In Österreich wurde der BF ein drittes Mal am rechten Hüftgelenk operiert und stand zuletzt wegen Bursitis und Hüftkopfreizung der linken Hüfte sowie postoperativer Thrombophlebitis in medizinischer Behandlung. Dies steht einer Abschiebung des BF jedoch nicht entgegen.

Der BF hat sich anlässlich seines Haftaufenthaltes einer Drogentherapie unterzogen und ist nunmehr suchtfrei.

Der BF hat drei Klassen Grundschule besucht und hat im familiären Landwirtschaftsbetrieb gearbeitet.

Der BF hat mehrere Cousins in Österreich. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen oder anderen in Österreich lebenden Personen besteht nicht.

Der BF gehört keinem Verein oder einer sonstigen Organisation an.

Der BF ist seit 18.4.2019 im Bundesgebiet nicht mehr aufrecht gemeldet und bezog bis zu diesem Tag Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF war lediglich aufgrund seiner Asylantragstellung zum Aufenthalt in Österreich berechtigt und verfügte über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der BF wurde im Bundesgebiet wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und das Verbrechen der Vorbereitung des Suchtgifthandels nach den §§ 15 StGB 28 Abs. 1 erster und zweiter Fall Abs. 2 SMG sowie das Verbrechen des Suchtgifthandels nach den §§ 12 dritter Fall StGB und 28a Abs. 1 erster und dritter Fall, Abs. 2 Z 2 und Abs. 4 Z 3 SMG verurteilt und wurde hierzu zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Die Vorhaft vom XXXX bis XXXX wurde auf die verhängte Strafe angerechnet. Als mildernd wurde das teilweise Geständnis, die bisherige Unbescholtenheit, der Umstand dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, das lange Zurückliegen der Taten und die lange Verfahrensdauer gewertet. Als erschwerend wurde das Zusammentreffen verschiedener strafbarer Handlungen gewertet.

Freigesprochen wurde der BF von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf, er habe Suchtgift als Mitglied einer türkisch-kurdischen kriminellen Vereinigung verkauft und zusammen mit einer anderen Person dadurch, dass sie das Suchtgift bei einem Verbindungsmann in Holland bestellten, dazu beigetragen, dass am 17. und 18.6.2016 eine das fünfundzwanzigfache der Grenzmenge übersteigende Menge vermutlich in Salzburg aus den Niederlanden über Deutschland nach Österreich eingeführt wurde.

Der BF war in Österreich nicht berufstätig und leistete auch keine gemeinnützige Arbeit. Der BF spricht Deutsch etwa auf dem Niveau A1.

1.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der BF verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte. Der BF wird wieder Aufnahme in der Eigentumswohnung seiner Familie finden. Die Verwandten, die in seiner Abwesenheit seine Familie unterstützten, werden auch den BF zumindest vorübergehend mit Nahrung und sonstigen Gütern des täglichen Lebens versorgen können. Der BF wurde sowohl in der Türkei als auch in Österreich an der rechten Hüfte operiert und ist nunmehr vollständig mobil. Dass der BF arbeitsunfähig wäre, ergibt sich aus den vorgelegten Attesten nicht. Beschwerden, derentwegen er noch in Behandlung eines Arztes für Allgemeinmedizin stand, sind auch in der Türkei behandelbar und ist dem BF - allenfalls nach vollständiger Genesung - die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens, beispielsweise die Mitarbeit im familiären Landwirtschaftsbetrieb, wie der BF dies auch vor seiner Ausreise getan hat, möglich und zumutbar.

1.3. Auszugsweise werden aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt (die Quellen wurden dem BF von der bB offengelegt):

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichn

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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