TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/28 L509 2131912-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.06.2019
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Entscheidungsdatum

28.06.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L509 2131912-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , alias XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.04.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57 und § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF), ein türkischer Staatsangehöriger, gab an, am 12.04.2015 schlepperunterstützt und per Flugzeug von Istanbul sein Heimatland verlassen zu haben und stellte nach Einreise in das Bundesgebiet von Österreich am 14.04.2015 unter dem Namen XXXX , XXXX geboren, den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der Erstbefragung vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 16.04.2015 brachte der BF vor, der Volksgruppe der Kurden anzugehören. Zum Fluchtgrund führte der BF aus, die Kurden würden von der türkischen Polizei unterdrückt werden. Er sei insgesamt drei Mal auf eine Polizeistation gebracht worden. Dort sei er verhört und beschimpft worden. Bei einer Protestaktion in XXXX im vergangenen Sommer sei er von der Polizei angeschossen worden und habe er Schussverletzungen an der rechten Hand und am rechten Unterschenkel erlitten. Die Polizei habe bei dieser Aktion mehrere Leute angeschossen und verletzt. Aus diesen Gründen habe er beschlossen, die Türkei zu verlassen. Sein Zielland sei Europa gewesen. Im Falle einer Rückkehr befürchte der BF, dass sein "Leben dort nicht in Sicherheit" sei. Zu den Reisedokumenten befragt, gab der BF an, den Reisepass hätte er dem Schlepper gegeben und befinde sich dieser in dessen Besitz.

2. Am 13.05.2016 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Auf den Hinweis, bei der Befragung die Wahrheit anzugeben, stellte der BF seine Identitätsdaten richtig und legte dazu einen türkischen Personalausweis ("Nüfus") im Original vor. Er begründete die falschen Angaben damit, dass ihm der Schlepper geraten hätte, nicht seinen richtigen Namen anzugeben, da er sonst sofort wieder in die Heimat zurückgeschickt werden würde. Zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz führte der BF aus, er sei dreimal - in den Jahren 2010, 2013 und 2014 - festgenommen worden. Man habe ihn jedes Mal 24 Stunden festgehalten. Dabei sei er misshandelt, geschlagen, gedemütigt und beleidigt worden. Nachgefragt, wie er misshandelt worden sei, erwiderte der BF, er sei 2010 und 2014 von der Polizei angeschossen worden. Er sei als eingetragenes Mitglied der HDP politisch tätig gewesen.

Aufgefordert, seine Flucht- und Asylgründe zu schildern, führte der BF aus, dass im Jahr 2010 in der gesamten Türkei im Namen der Partei Zelte aufgestellt worden seien. Man habe die Aktion "demokratische Zelte" genannt und es sei eine polizeilich genehmigte Aktion gewesen. Der BF sei im Zelt in XXXX ständig anwesend gewesen. Nach 20 Tagen seien Razzien durchgeführt worden. Die Polizisten hätten die Zelte zerstört. Nach Intervention von leitenden Parteimitgliedern habe man die Zelte jedoch wiederaufbauen dürfen. Die Polizei hätte sie allerdings nach kurzer Zeit wieder zerstört und abgebrannt. Dabei seien von der Polizei auch Tränengas und Schusswaffen eingesetzt worden. Der BF sei von einem Geschoss am Bein getroffen worden. Es sei ein Streifschuss gewesen und er hätte die Wunde nicht in einem Krankenhaus, sondern zuhause behandelt. Fünf Tage später sei er von zuhause aus festgenommen und in die Sicherheitszentrale in XXXX gebracht worden. Dort sei er schlimm beschimpft worden und habe er zuerst keinen Anwalt anrufen dürfen. Man habe ihn bei Gericht vorgeführt, wo er gestehen hätte sollen, dass er bei den Vorfällen dabei war. Dies hätten er und die anderen Vorgeführten geleugnet. Daraufhin seien sie entlassen worden.

Nach diesen Ereignissen sei Druck auf ihn ausgeübt worden. Die Polizei sei immer wieder in den Laden des BF gekommen und hätte ihn vor Kundschaften beleidigt, gedemütigt und beschimpft. Seit 2011 sei der BF dann noch aktiver für die Partei tätig gewesen und hätte er Zeitschriften verteilt. Im Sommer 2013 sei er von der Polizei aus dem Bett heraus verhaftet worden. Man habe ihn beschuldigt, die PKK zu unterstützen und deren Mitgliedern Unterschlupf zu gewähren. Es sei eine Niederschrift vorbereitet gewesen, die er unterschreiben hätte sollen. Dies hätte er jedoch verweigert. Man habe ihn einem Richter vorgeführt. Der Richter hätte erkannt, dass es keine Beweise gegen den BF gibt, worauf er wieder freigelassen worden sei. Die Polizei hätte ihn aber weiterhin unter Druck gesetzt, indem sie ständig in sein Geschäft gekommen wären, worauf auch die Kundschaft ausgeblieben sei. Anfang 2014 hätte er sein Geschäft schließen müssen.

Im Sommer 2014 sei es zu einem weiteren Vorfall gekommen. In der Provinz Diyarbakir (Bezirk Lice) sei über Anordnung der Behörde ein kurdischer Friedhof zerstört worden. Daraufhin hätten sie ([der BF und die Parteimitglieder]) bei einem Friedhof außerhalb von Leylek Koyü (Provinz Mus), demonstriert, wobei es zwischen der Polizei und den Demonstranten zu Auseinandersetzungen gekommen sei. Die Polizei habe Tränengas und Waffen eingesetzt - die Demonstranten hätten sich versteckt und Steine geworfen. Bei dieser Auseinandersetzung sei der BF erneut angeschossen worden. Ein Geschoß sei durch seine rechte Hand gegangen. Diese Verletzung sei in einem Krankenhaus behandelt worden. Nach diesem Vorfall hätte der BF ständig Angst gehabt und nachts nicht mehr schlafen können.

Die Frage, ob die Familie des BF aufgrund seiner Aktivitäten Probleme hätte, beantwortete der BF damit, dass kein Kurde in der Türkei mehr sicher sei und dass, nachdem der BF in Österreich gewesen sei, eine Frau in XXXX von der Polizei getötet worden sei. Diese sei eine Guerilla-Kämpferin gewesen. Seine Schwester, die hier in Österreich auf Urlaub sei, sei gewähltes Mitglied der HDP und vertrete die Partei im Magistrat. Im Parlament sei die Immunität aufgehoben worden und die Parteimitglieder hätten nun Angst, verhaftet zu werden. Auf Nachfrage nach der Verfolgung seiner Familie erwiderte der BF wiederum, in XXXX gäbe es ein Ausgangsverbot. Dies betreffe jedoch nicht exakt nur seine Familie, er mache sich aber Sorgen um seine Familie. Seinem zuhause lebenden Bruder gehe es gesundheitlich nicht gut, er sei aufgrund einer Kinderkrankheit geistig zurückgeblieben. Die Eltern würden noch zuhause und von ihrer Pension leben.

3. Mit Bescheid vom 18.07.2016 wurde der Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.) Dem BF wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt III.). Mit Spruchpunkt IV. wurde dem BF eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung erteilt.

Begründend legte die belangte Behörde dar, der BF habe eine aktuelle, konkrete und gegen ihn gerichtete Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht glaubhaft machen können. Im Übrigen seien die allgemein herrschenden politischen wie sozialen Verhältnisse nicht geeignet, eine Asylgewährung zu tragen, da diesen allgemeinen Gegebenheiten grundsätzlich alle Einwohner der betreffenden Region gleichermaßen ausgesetzt seien. Bloß subjektiv empfundene Furcht genüge nicht. Maßnahmen des Staates, die nur zur Ausforschung von gesuchten Personen dienen, ohne dass diese Maßnahmen in Wahrheit auf die Verfolgung des Betroffenen aus asylrechtlich relevanten Gründen abzielen, seien kein Asylgrund.

Die belangte Behörde ging auch davon aus, dass dem BF im Herkunftsstaat keine Gefahren drohen, die die Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Es seien keine Umstände ersichtlich, dass der BF nach der Rückkehr nicht wieder ein gewohntes, existenzgesichertes Leben aufnehmen könne. Die notwendigen Rahmenbedingungen für sein wirtschaftliches Überleben (Arbeitsmöglichkeiten - Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes; Betätigungsfeld) sowie allenfalls familiäre Unterstützung seien vorhanden. Dem BF könne auch finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens im Heimatland gewährt werden.

Weiters folgerte die belangte Behörde, dass die Rückkehrentscheidung und die Abschiebung in die Türkei - unter Berücksichtigung des Rechts auf ein Privat- und Familienleben iSd Art. 8 Abs. 2 EMRK - zulässig seien. In der Begründung legte die belangte Behörde dar, der BF sei legal in das Bundesgebiet von Österreich eingereist. Er könne sich selbst nicht versorgen und lebe von der Grundversorgung. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu Familienangehörigen sei nicht geltend gemacht worden. Er beherrsche die deutsche Sprache nicht, besuche weder einen Deutschkurs noch sei er Mitglied in einem Verein. Der Großteil seiner Familie lebe im Heimatland. Der BF besitze ein Lebensmittelgeschäft. Er sei in Österreich strafrechtlich unbescholten, ledig, jung, gesund und arbeitsfähig. Er habe keine über das Asylverfahren hinausgehende Aufenthaltsberechtigung hier in Österreich. Er habe auch keine Möglichkeit, seinen Aufenthalt hier in Österreich nach dem NAG legalisieren zu lassen. Es überwiege jedenfalls das öffentliche Interesse an der Außerlandesschaffung des BF. Der Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben könne im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig angesehen werden. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei nicht zu erteilen. Die Abschiebung in die Türkei sei mangels Hinweise auf eine Gefährdung des BF in seinen Rechten nach Art. 2 oder 3 EMRK zulässig. Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gesetzlich begründet.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 20.07.2016 wurde dem BF der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt und er außerdem verpflichtet, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die nunmehr gegenständliche Beschwerde vom 04.08.2016. Die Beschwerde ist rechtzeitig.

Mit der Beschwerde wird Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht. Mit Unterstützung der Rechtsberatung wurden die Anträge gestellt, Asyl - in eventu - subsidiären Schutz zu gewähren - in eventu - die Rückkehrentscheidung oder die Abschiebung zu beheben, einen Aufenthaltstitel gemäß § 57 und 55 AsylG zu erteilen - in eventu - den Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

Der Beschwerde ist ein vom BF selbst in der türkischen Sprache verfasstes Schreiben angeschlossen. Das Schreiben wurde einer Übersetzung zugeführt. In dem Schreiben wiederholt der BF mit eigenen Worten sein bisher in den Vernehmungen erstattetes Vorbringen, soweit es sich auf den letzten Vorfall (Aktion beim kurdischen Friedhof) bezieht.

6. Das Beschwerdeverfahren wurde zunächst der Gerichtsabteilung (GA) L504 zugewiesen und dieser am 09.02.2017 aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses (GVA) abgenommen und der GA L514 neu zugewiesen. Mit neuerlichem Beschluss des GVA vom 27.06.2018 wurde die Beschwerdesache der GA L514 abgenommen und schließlich der GA L509 zugewiesen.

7. Am 21.03.2018 bzw. am 26.03.2018 wurden Dokumente in Vorlage gebracht (OZ 9 ident mit OZ 10: Bestätigung Deutschkurs A1.1 vom 07.09.2017; Bestätigung Deutschkurs A1.2 vom 27.10.2017; Bestätigung vom 06.03.2018 über die Vereinsmitgliedschaft bei " XXXX " - Demokratisches Zentrum der KurdInnen in XXXX , wonach sich der BF aktiv an den Veranstaltungen des Vereins beteilige und diesen unterstütze).

8. Am 30. bzw. 31.10.2018 wurden für den BF weitere Beweismittel in türkischer Sprache vorgelegt (OZ 15 ident mit OZ 16). Die Beweismittel wurden einer Übersetzung zugeführt (OZ 19). Daraus ergibt sich, dass gegen den BF aufgrund von Facebook-Aktivitäten, die dem BF zugeschrieben werden, polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und vom Amts-Strafgericht XXXX ein Haftbefehl erlassen wurde. Nach dem Inhalt der Beweismittel wird dem BF "Propagieren für eine Terrororganisation" (PKK/KCK) zur Last gelegt.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat für den 03.04.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt und dazu den BF und seinen rechtsfreundlichen Vertreter, einen Vertreter des BFA und einen Dolmetscher für die Sprache Türkisch geladen. Die Beschwerdeverhandlung wurde in Anwesenheit der Geladenen, seines rechtsfreundlichen Vertreters und des geladenen Dolmetschers durchgeführt. Die belangte Behörde verzichtete mit Schreiben vom 22.02.2019 auf die Teilnahme eines informierten Vertreters und beantragte die Abweisung der Beschwerde. Vom BF werden weitere Dokumente in Vorlage gebracht (Online-Ausgabe der A XXXX [ XXXX ]; Medienberichte aus der Türkei betreffend die Zeltveranstaltung im Jahr 2011; bereits aufliegende Deutschkursbestätigungen).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den hier in Rede stehenden erstinstanzlichen Verwaltungsakt unter besonderer Berücksichtigung der Angaben des BF vor dem BFA und den Beschwerdeausführungen bzw. den vorgelegten Unterlagen, durch Durchführung einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung am 03.04.2019 sowie durch Erhebung der aktuellen Lage in der Herkunftsregion des BF anhand des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 02.11.2018 (auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 18.10.2018 und des Berichtes des Auswärtigen Amtes vom 03.08.2018 zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei). Die Länderinformationen wurden dem BF bzw. seinem rechtsfreundlichen Vertreter zur Kenntnis gebracht und Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Dazu gab der BF im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Stellungnahme ab.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF und seinen Fluchtgründen:

Der BF trägt den Namen XXXX , ist am im Spruch angeführten Datum geboren und Staatsangehöriger der Türkei. Er ist ledig und hat keine Kinder. Der BF ist Moslem und gibt an, der Volksgruppe der Kurden anzugehören. Er stammt aus der Stadt XXXX in der Provinz Mus, wo er gemeinsam mit seiner Familie gelebt und zu der er telefonischen Kontakt hat. Der BF gibt weiters an, die Sprachen Kurdisch auf muttersprachlichem Niveau und Türkisch in Wort und Schrift zu beherrschen. Er besuchte die Grundschule von 1995 bis 2000 und das Gymnasium von 2000 bis 2006 in XXXX . Im Heimatland bestritt der BF seinen Lebensunterhalt als Verkäufer im eigenen Lebensmittelladen.

Der BF befindet sich nach schlepperunterstützter, illegaler Einreise seit April 2015 in Österreich. Er ist gesund und lebt von der Grundversorgung. Der BF gibt an, einen Bruder und eine Schwester in Österreich zu haben, mit ihnen im gemeinsamen Haushalt zu wohnen und von diesen unterstützt zu werden. Der BF ist Mitglied im Verein " XXXX " (Demokratisches Zentrum der KurdInnen in XXXX ), beteiligt sich aktiv am Vereinsleben und unterstützt den Verein, hat jedoch im Verein keine exponierte Funktion.

Der BF hat Deutschkurse A1 besucht und ist dabei, den Deutschkurs A2 zu absolvieren und verfügt er über geringfügige Deutschkenntnisse. Der BF ist unbescholten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF in der Türkei einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wäre.

Weiters kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und Beweismittel nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde. Es gibt keine Anhaltspunkte oder Hinweise darauf, dass der BF um sein Leben zu fürchten hat.

1.2. Zum Herkunftsland Türkei:

Zur allgemeinen Lage in der Türkei vom 02.11.2018 werden (auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 18.10.2018 und des Berichtes des Auswärtigen Amtes vom 03.08.2018 zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei) folgende länderkundliche Feststellungen getroffen: Zur politischen Lage; zur Sicherheitslage; zu terroristischen Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan; zu terroristischen Gruppierungen: MLKP - Marksist Leninist Komünist Parti; zum Rechtsschutz/Justizwesen; zu den Sicherheitsbehörden; zur Folter und unmenschlicher Behandlung, zur Meinungs- und Pressefreiheit/Internet; zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; zur Opposition; zu expolitischen Tätigkeiten; zu den Haftbedingungen; zur Todesstrafe; zu ethnischen Minderheiten; zu Kurden und zur Behandlung nach Rückkehr.

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt.

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle. Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben. Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure. Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen.

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wiedereingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret. Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle. Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten. Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert.

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet. Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen. Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden.

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen.

Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen.

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes.

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört. Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000.

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt.

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag. Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus. Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod. Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei. In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat. Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer.

Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert". Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren. In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran.

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen.

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP. Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen. Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5]. Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u.a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet.

Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf. Sie wuchs im Laufe der Jahre von einer Rebellengruppe in den Bergen zur wichtigsten politischen Vertretung aller Kurden. Heute teilen mindestens 80 Prozent der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen. Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel.

Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge). 1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes. Öcalan bezeichnete nach einem im September 1998 verkündeten einseitigen Waffenstillstand in einem am 3.8.1999 veröffentlichten Appell die Atmosphäre des bewaffneten Konflikts und der Gewalt als Hindernis für die Entwicklung der Menschenrechte und der Demokratie, weshalb es notwendig sei, diese auch im Sinne der Lösung des Kurdenproblems zu überwinden. Öcalan rief die PKK auf den bewaffneten Kampf zu beenden und ihre Kämpfer des Friedens willen aus der Türkei abzuziehen.

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend die Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei.

Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen. Die PKK-Guerillaeinheiten forderten, sich gegen den "Genozid" der türkischen Regierung zu wehren und die ausgerufenen Selbstverwaltungsgebiete zu verteidigen.

Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben. Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich. Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab. Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde.

Eine nicht unwesentliche Rolle im Konflikt mit dem türkischen Staat kommt der Jugendorganisation der PKK zu. Die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) wurde im Februar 2013 gegründet, am Vorabend der Verkündung der Waffenruhe durch PKK-Führer Öcalan. Bereits im selben Jahr kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit kurdischen Islamisten in der Region (Posch 2015). Seit Sommer 2015 zeichnete sich die YDG-H insbesondere durch einen Guerilla-Krieg gegen die türkischen Sicherheitskräfte in den Städten des Südostens aus. Die PKK selbst verneinte die Kontrolle über die YDG-H zu haben, obschon sie deren Aktionen guthieß.

Terroristische Gruppierungen: MLKP - Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)

Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Ideologisch bekennt sie sich zum revolutionären Marxismus-Leninismus und strebt unter der Errichtung der "Diktatur des Proletariats" die Zerschlagung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer sozialistischen (kommunistischen) Gesellschaftsordnung in der Türkei an. Die MLKP sieht nach eigener Aussage: "Aktionen von revolutionärer Gruppen- und Massengewalt gegen die konterrevolutionäre Gewalt [als] gerechtfertigte und wirkungsvolle Mittel des politischen Kampfes".

In jüngster Zeit lagen keine Meldungen über bewaffnete Aktionen der MLKP in der Türkei vor. Die MLKP schickt angeblich seit 2012 Freiwillige nach Syrien, um in den kurdisch dominierten Volksschutzeinheiten (YPG) zu kämpfen. MLKP-Kämpfer haben sich auch den Formationen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angeschlossen, die im Nordirak zur Verteidigung der jesidischen Minderheit von Sinjar [Shingal] kämpften. Mitglieder der MLKP haben sich auf Seiten der kurdischen YPG an den Kämpfen gegen den sog. Islamischen Staat in Syrien beteiligt.

Fallweise kommt es zu Verhaftungen von regierungskritischen Journalisten, denen eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der MLKP vorgeworfen wird. So wurde im April 2018 der deutsch-türkische Journalist Adil Demirci wegen Mitgliedschaft in der MLKP verhaftet, begründet mit der Teilnahme Demircis an den Beerdigungen von drei Mitgliedern der MLKP in den Jahren 2013, 2014 und 2015. Die MLKP-Mitglieder waren Soldaten, die aufseiten der kurdischen Miliz YPG in Syrien gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft hatten. Dem 2017 verhafteten und mittlerweile freigekommenen deutsch-türkischen Journalisten, Deniz Yücel, wurde ebenfalls die Mitgliedschaft in der MLKP vorgeworfen ebenso wie der deutsch-türkischen Journalisten, Me§ale Tolu, die 2017 zunächst festgenommen, und über die infolge ein Ausreiseverbot verhängt wurde, das im August 2018 aufgehoben wurde.

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte "im Namen der türkischen Nation". Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führen zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 03.08.2018).

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen.

Oberste Instanz der Verwaltungsgerichte ist der Verwaltungsgerichtshof/Staatsrat (Danistay), die der Straf- und Zivilgerichte der Kassationsgerichtshof (Yargitay). Für alle Rechtswege war seit Jahren die effektive Einführung einer Zwischeninstanz vorgesehen, jedoch in der Praxis nicht umgesetzt worden. Aufgrund der großen Überlastung der obersten Instanzen wurde unmittelbar vor dem Putschversuch Ende Juni 2016 die seit mehreren Jahren geplante Zwischeninstanz in Form von Regionalgerichten eingeführt und die mittlere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde durch eine Gesetzesänderung vom 01.07.2016 entschieden, die Mitgliederzahl der beiden obersten Gerichtshöfe zu reduzieren. Die Frist zur Umsetzung wurde mit Notstandsdekret 696 vom 20.11.2017 bis 2022 verlängert. Am 25.07.2016 wurden anstelle der entlassenen Richter (mit Ausnahme der jeweiligen Gerichtspräsidenten) 267 neue Mitglieder für den Kassationsgerichtshof und 75 für den Verwaltungsgerichtshof gewählt. Mit Dekret Nr. 696 vom 20.11.2017 wurde jedoch der Kassationsgerichtshof mit 100 neuen Posten aufgestockt und der Verwaltungsgerichtshof mit 16. Diese müssen innerhalb von 6 Monaten nach Inkrafttreten des Notstandsdekretes besetzt werden. Vorwürfe, dass diese personellen Veränderungen zu einer Verschiebung der parteipolitischen Orientierung an den Gerichten genutzt wurden, erscheinen plausibel.

Die früheren "Staatssicherheitsgerichte" (Devlet Güvenlik Mahkemesi - DGM) und die "Gerichte für schwere Straftaten mit Sonderbefugnis" sind aufgelöst. Ihre sachliche Zuständigkeit haben regionale "Gerichte für schwere Straftaten" (Agir Ceza Mahkemeleri) übernommen. Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden auch die Militärgerichte abgeschafft.

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen.

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden.

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert.

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert. YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet.

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen.

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Mit dem 3. Justizreformpaket wurde die Möglichkeit zu deutlichen Strafmilderungen und Haftaussetzung für Nichtmitglieder einer Terrororganisation geschaffen und mit dem 4. Justizreformpaket die Doppelbestrafung nach ATG und StGB abgeschafft.

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre. Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist zulässig, wenn er zumindest einmal vom Gericht angehört wurde. War das nicht möglich, kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen. Für Straftaten, die nicht von der Notstandsgesetzgebung berührt sind, gilt: Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden. In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage (jeweils um einen Tag) verlängert werden (Art. 91 Abs. 3 tStPO). Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden. Gemäß Änderungen im sog. Sicherheitspaket vom 27.03.2015 können die 24 Stunden bei Einzelpersonen beim Ertappen auf "frischer Tat" beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration bis auf 48 Stunden ausgeweitet werden. Spätestens nach Ablauf dieser Frist und bei Kollektivvergehen innerhalb von vier Tagen müssen sie dem Richter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 4 tStPO).

Die türkische Rechtsordnung garantiert die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein. Kritisch sind die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte. Nach offiziellen Angaben des türkischen Justizministeriums wurde 2016 über 12.199 Straftaten gemäß Artikel 7 Absatz 2 ATG (Propaganda für eine Terrororganisation) entschieden; davon erging 3.195-mal eine Freiheitsstrafe und 4.492 Freisprüche. Hinsichtlich des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation gemäß Artikel 7 Absatz 1 ATG beläuft sich die Zahl auf 155 Straftaten, wovon bis heute vier mit Freiheitsstrafe und elf mit Freispruch entschieden wurden. Neuere Zahlen stehen nicht zur Verfügung. Dem türkischen Parlament liegen derzeit Vorschläge zur Neufassung von Teilen der Anti-Terror-Gesetzgebung vor, die Teile der Bestimmungen des am 19.07.2018 aufgehobenen Notstands in türkisches Recht überführen würden. Ebenso problematisch wie die Frage nach der Definition des Terrorismusbegriffs ist jedoch die bereits jetzt sehr weite Auslegung des Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die "Beleidigung des Türkentums" ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Offiziellen Zahlen zufolge wurden 2016 insgesamt 482 Verfahren wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB eingeleitet.

Das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden ist grundsätzlich gewährleistet. Für Personen, denen seit dem Putschversuch der Vorwurf einer Nähe zur Gülen-Bewegung und/oder der Beteiligung an dem Putschversuch gemacht wird, besteht das praktische Problem, dass sich - aus Angst selbst in Verdacht zu geraten oder wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile als vermeintliche "Gülenisten" zu erleiden - kaum Anwälte bereit erklären, diese zu verteidigen. Die Zustellung von Gerichtsurteilen an Rechtsanwälte ist möglich.

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes.

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen.

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen.

Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden.

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen. Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden. Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten.

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetzes vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können. Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste. Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge.

288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen. So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere.

Per Dekret wurde Staatspräsident Erdogan im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen. Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen.

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden.

Sicherheitsbehörden

Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, die AKP-Regierung konnte seit Sommer 2011 bei einer Reihe von Entscheidungen das Primat der Politik unterstreichen. Von den "Säuberungen" seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist das Militär besonders stark betroffen. Erstmals wurde das Militär unter zivile Aufsicht (des Verteidigungsministeriums) gestellt, seine Autonomie in personellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Fragen aufgehoben. Unmittelbar mit Annahme des Verfassungsreferendums vom April 2017 wurde die Militärgerichtsbarkeit in die zivile Gerichtbarkeit überführt. Auch das traditionelle Selbstverständnis des türkischen Militärs als Hüter der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätz

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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