Entscheidungsdatum
06.03.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W159 2183266-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.12.2017, Zahl 16-1103101708 / 160112801, nach Durchführung einer Verhandlung am 10.01.2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gem. §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 und 9, 46 und 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich, stellte am 22.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde dazu am Tag der Antragstellung vor der Landespolizeidirektion (LPD) Tirol, Polizeiinspektion (PI) Kaiserjägerstraße, einer niederschriftlichen Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, er habe Angst gehabt, weil er von den Taliban bedroht werde.
Am 29.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion (RD) Tirol, niederschriftlich einvernommen.
Zu den Gründen, Afghanistan verlassen zu haben, brachte der Beschwerdeführer vor, sein Vater habe bei der Nationalen Armee in Kabul gearbeitet. Der Vater habe jedoch in XXXX gelebt. Alle ein bis zwei Monate sei sein Vater nach Hause gekommen. Die Taliban hätten den Vater des Beschwerdeführers aufgefordert, dass er Informationen der Regierung an die Taliban weitergeben solle. Die Taliban hätten ihm zwei Drohbriefe geschickt, jedoch habe sein Vater diese nicht beachtet. Sie hätten ihn dann ein drittes Mal bedroht. Bei dieser Drohung wurde er mit dem Tod bedroht. Als sein Vater diesen letzten Drohbrief der Taliban gelesen habe und habe er große Angst gehabt. In dieser Nacht hätten die Taliban ihr Haus überfallen. Es sei gegen 10.00 oder 12.00 Uhr in der Nacht gewesen. Die Taliban hätten seinen Vater getötet und sie hätten auch ihr Haus angezündet. Seine Schwester und der Beschwerdeführer hätten auch Verbrennungen erlitten. Sie seien ins Krankenhaus gebracht worden. Seine Schwester sei dann noch zwei Wochen am Leben gewesen und sei dann verstorben. Der Beschwerdeführer sei für seine Behandlung nach Pakistan gebracht worden. Er sei damals ca. neun Jahre alt gewesen.
Später hätten die Taliban dem Beschwerdeführer dann mitnehmen wollen. Seine Mutter habe große Angst davor gehabt, denn sie hätte den Beschwerdeführer nicht verlieren wollen. Die Taliban seien zweimal zu seiner Mutter nachhause gekommen und hätten seiner Mutter gesagt, dass sich der Beschwerdeführer den Taliban anschließen solle. Es habe zwei Optionen gegeben. Entweder hätte er zu den Taliban gehen müssen oder er wäre von den Taliban getötet worden. Seine Mutter habe gewusst, dass viele Jugendlichen vom Dorf, welche mit den Taliban mitgegangen seien, getötet worden seien und sie habe sich deswegen dazu entschieden, dass der Beschwerdeführer zu seinem Bruder nach Österreich gehe.
Der Beschwerdeführer habe erst Monate nach dem zweiten Besuch durch die Taliban Afghanistan verlassen, weil die Organisation des Schleppers so lange gedauert habe.
Wie viele von den Taliban zum Beschwerdeführer nachhause gekommen seien, wisse er nicht. Es seien aber viele gewesen. Der Beschwerdeführer sei nie direkt von den Taliban bedroht worden, er habe sich versteckt, wenn sie gekommen seien.
Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer getötet werden. Er sei seit zwei Jahren in Österreich, wenn er zurückkehre sei es jetzt schlimmer für ihn. Die Taliban würden davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer kein Moslem mehr sei, weil man in Europa in die Kirche gehen müsse. Deshalb würden sie den Beschwerdeführer hundertprozentig töten, weil sie ihn für einen Ungläubigen halten würden.
Mit Schreiben vom 05.10.2017 nahm der Beschwerdeführer, vertreten durch das Land Tirol, Abteilung für Kinder- und Jugendhilfe, zum Verfahren Stellung. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass beim Beschwerdeführer als Minderjährigem ein anderer Maßstab als bei Volljährigen anzulegen sei. Eine Rückkehr in die Heimatprovinz XXXX sei dem Beschwerdeführer aufgrund der prekären Sicherheitslage nicht zumutbar, ebensowenig die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Kinder und Jugendliche würden durch die Taliban zwangsweise rekrutiert, die Sicherheitslage in Kabul sei ebenfalls äußerst prekär. Minderjährige Rückkehrer wären physischer, psychischer und sexueller Misshandlung ausgesetzt.
Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 27.12.2017 wies das BFA, RD Tirol, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG 2005 nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.), stellte gem. § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise gem. § 55 Abs. 1-3 mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
In der Begründung des Bescheides gab das BFA den bisherigen Verfahrensgang, einschließlich der oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebene Einvernahmen wieder und traf Feststellungen zu Afghanistan. Beweiswürdigend führte es insbesondere aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei vage und widersprüchlich und somit nicht glaubhaft.
Rechtlich begründend führte das BFA zu Spruchpunkt I. insbesondere aus, er sei keiner Verfolgung iSd GFK ausgesetzt. Zu Spruchpunkt II. legte das BFA insbesondere dar, der Beschwerdeführer habe keine Gefährdung iSd § 8 AsylG 2005 geltend gemacht. Es bestehe kein Hinweis auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die eine Abschiebung iSv Art. 3 EMRK und § 50 FPG unzulässig machen könnten. Der Beschwerdeführer habe in Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Spruchpunkte III., IV. und V. begründete das BFA damit, dass er erst seit kurzem in Österreich sei. Er sei illegal eingereist und sein Aufenthalt sei nur aufgrund seines Asylantrages legitimiert. Mit seinem in Österreich aufhältigen Bruder führe er kein Familienleben und es habe keine Verbindung zu Österreich oder eine fortgeschrittene Integration festgestellt werden können. Daher sei kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen und dies sei mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Es ergebe sich im vorliegenden Fall keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG und einer Abschiebung stünde auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegen, sodass diese zulässig sei. Zu Spruchpunkt VI. führte das BFA aus, es hätten sich keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise ergeben.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch XXXX fristgerecht gegenständliche Beschwerde. Neben einer Wiedergabe des behaupteten Sachverhaltes und Zitierungen von Länderberichten bringt diese soweit wesentlich vor, das BFA habe unter Verletzung von Verfahrensvorschriften einen inhaltlich rechtswidrigen Bescheid erlassen. Dem Beschwerdeführer drohe in Afghanistan Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der jungen Männer im ehrfähigen Alter. Im Falle einer Rückkehr würde der Beschwerdeführer darüber hinaus in eine ausweglose Lage iSd Art. 2 f. oder des 6. Oder 13. ZPMRK geraten. Das schützenswerte Familienleben des Beschwerdeführers sei darüber hinaus nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Die Beschwerde stellt die Anträge, eine Verhandlung durchzuführen, alle Rechtswidrigkeiten amtswegig aufzugreifen, dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu, dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, Spruchpunkt III. zu beheben und die Rückkehrentscheidung für auf Dauer für unzulässig zu erklären sowie dem Bescheid zu beheben und das Verfahren zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den 10.01.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an, zu der der Beschwerdeführer mit einem Rechtsberater des Vereins Menschenrechte Österreich (VMÖ) erschien. Das BFA hatte mit Schreiben vom 28.11.2019 die Abstandnahme von der Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung erklärt. Der Beschwerdeführer hielt sein bisheriges Vorbringen aufrecht.
Zu seinen Fluchtgründen gab er zunächst an, die Taliban hätten seinen Vater wegen seiner Arbeit getötet, welcher für die afghanische Nationalarmee gearbeitet habe. Die Taliban hätten verlangt, dass der Vater des Beschwerdeführers für die Taliban spioniere. Sie seien zweimal zur Familie des Beschwerdeführers nachhause gekommen und hätten ihre Forderungen gestellt, dass sie genaue Informationen über den Staat haben wollten. Der Vater des Beschwerdeführers habe in Kabul gearbeitet, er sei alle zwei bis drei Monate zur Familie nachhause gekommen. Die Taliban hätten dann ihr Haus überfallen, angezündet, geschossen, weil der Vater des Beschwerdeführers nicht gehorsam gewesen sei. Bei diesem Angriff sei der Vater des Beschwerdeführers getötet worden. Eine Schwester und der Beschwerdeführer seien bei diesem Angriff verletzt worden. Die Schwester sei schwer verletzt worden und nach zwei bis drei Wochen ihren Verletzungen erlegen. Auch der Beschwerdeführer habe Verbrennungen mit heftigen Schmerzen gehabt. In der Heimat habe man ihn nicht weiterbehandeln könne. Dann sei er fünf Monate in Pakistan stationär aufgenommen worden. Nach dieser Zeit sei er nach XXXX zurückgekehrt und dann in der Klinik weiterbehandelt worden.
Hinsichtlich des Überfalls auf das Haus könne er kein Datum nennen. Es sei ungefähr vor acht Jahren gewesen. Der Beschwerdeführer habe Verbrennungen höheren Grades an den Beinen davongetragen, wobei das linke Bein mehr betroffen gewesen sei.
In der Folge hätte die Familie des Beschwerdeführers in einem von einem Dorfbewohner zur Verfügung gestellten Zimmer gewohnt, das Haus sei nicht mehr bewohnbar gewesen. Sie hätten sich dann ein Haus aus Lehm gebaut.
Nachdem es dem Beschwerdeführer bessergegangen sei, hätten ihn die Taliban aufgefordert, an ihrer Seite zu kämpfen. Sie seien einige Male zur Familie des Beschwerdeführers nachhause gekommen. Sie hätten sogar die Mutter des Beschwerdeführers ausgefragt, wo dieser sich aufhalte. Damals habe sich der Beschwerdeführer zuhause aufhalten müssen. Aus Angst habe seine Mutter dann angegeben, der Beschwerdeführer würde sich draußen aufhalten. Sie seien dann gegangen und nach einigen Tagen seien sie dann wieder dagewesen. Sie seien ein zweites Mal dagewesen. Seine Mutter habe ihnen mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer krank sei. Die Männer hätten gesagt, das nächste Mal, wenn sie kommen würden, würden sie den Beschwerdeführer mitnehmen.
Der Beschwerdeführer sei damals vermutlich 14 oder 15 Jahre alt gewesen, genau wisse er es nicht.
Zweimal seien die Taliban beim Beschwerdeführer zuhause gewesen. Persönlich habe der Beschwerdeführer nicht mit ihnen gesprochen. Er habe auch keine Briefe erhalten.
Nach dem letzten Besuch der Taliban sei er noch eine Zeitlang in der Heimat geblieben, er wisse es nicht mehr genau, ein oder zwei Monate. In der Zeit sei er nur zuhause gewesen und sei nicht hinausgegangen. In der Zeit seien auch Taliban gekommen und hätten sich nach dem Beschwerdeführer erkundigt. Sie hätten sie aber mit Ausreden hinhalten können. Seine Mutter sei in Panik geraten, daher habe der Onkel des Beschwerdeführers einen Schlepper organisiert.
Mit Schreiben vom 31.01.2020 nahm der Beschwerdeführer durch den VMÖ zum Verfahren sowie dem Fluchtvorbringen Stellung und verwies auf die UNHCR-Richtlinien.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, ist sunnitischer Moslem und wurde in der Provinz XXXX in Afghanistan geboren. Die im Spruch genannten Identitätsdaten dienen bloß der Individualisierung des Beschwerdeführers. Seine Muttersprache ist Farsi. In Afghanistan hatte er weder mit Behörden noch mit Privatpersonen Probleme.
In Afghanistan halten sich die Mutter und zwei Schwestern des Beschwerdeführers auf.
Der Beschwerdeführer hat Schmerzen in den Beinen, gleichzeitig auch ein Taubheitsgefühl. Ihm geht es psychisch nicht gut, einer psychologischen oder psychiatrischen Behandlung unterzieht er sich in Österreich nicht.
In Österreich hat der Beschwerdeführer am Projekt Flüchtlingsbildung an der XXXX im Gesamtausmaß von 110 Stunden teilgenommen und ebendort den Lehrgang "Übergangsstufe für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch" besucht, hat 2016 an zwei Deutschkurs von XXXX teilgenommen und ein Deutschzertifikat Niveau A2 erworben, den B2-Test hat er nicht bestanden, er hat an einem einjährigen Projekt " XXXX " im Ausmaß von 30 Wochenstunden teilgenommen und er hat am 24.01.2017 an einem Workshop zum Thema "Drogen, Substanzkonsum im Jugendalter" teilgenommen.
In Österreich hält sich ein älterer Bruder des Beschwerdeführers auf. Der Beschwerdeführer lebt mit ihm nicht in gemeinsamen Haushalt.
Zu Afghanistan wird folgendes Verfahrensbezogen festgestellt:
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Quellen:
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0. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590