Entscheidungsdatum
10.03.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W175 2195624-1/17E
W175 2196903-1/13E
W175 2195622-1/13E
W175 2195618-1/13E
W175 2195621-1/13E
W175 2195616-1/13E
W175 2195619-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerden 1.) der XXXX , geboren am XXXX , 2.) des XXXX , geboren am XXXX , 3.) der XXXX , geboren am XXXX , 4.) des XXXX , geboren am XXXX , 5.) des XXXX , geboren am XXXX , 6.) des XXXX , geboren am XXXX , sowie 7.) der XXXX , geboren am XXXX , afghanische Staatsangehörige, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.04.2018, Zahlen: 1.) 1101049402/160020460, 2.) 1084509101/151198090, 3.) 1101049903/160020494, 4.) 1101049707/160020508, 5.) 1101049609/160020516, 6.) 1101049500/160020532 sowie 7.) 1129670804-161255885, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.12.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden werden hinsichtlich der Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 10.03.2021 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Mutter der Zweit- bis Siebtbeschwerdeführer (BF2 bis BF7).
1. Der BF2 reiste gemeinsam mit seinem Onkel väterlicherseits unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 27.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Zuge seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 27.08.2015 gab er an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und Schiit. Er stamme aus der Provinz Kunduz. Seine Eltern und Geschwister würden sich in der Türkei aufhalten. Er sei vor längerer Zeit mit der BF1, der BF3 und seinem Vater in den Iran gereist. Im Iran seien die BF4 bis BF6 geboren worden. Danach seien sie in die Türkei gereist. Er sei mit seinem Onkel von der Türkei nach Österreich gekommen. Zu seinem Fluchtgrund konnte er keine Angaben machen.
Mit Beschluss des BG vom 20.10.2015 wurde der Kinder- und Jugendhilfeträger, Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie (MA11) mit der Obsorge des BF2 betraut.
2. Die BF1 und die BF3 bis BF6 stellten gemeinsam mit dem Ehemann der BF1 beziehungsweise dem Vater der BF2 bis BF7 am 21.11.2015 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet Anträge auf internationalen Schutz.
Das Verfahren des Ehemanns der BF1 beziehungsweise Vaters der BF2 bis BF7 ist beim Bundesverwaltungsgericht zu W175 2195608-1 anhängig. Mit heutigem Tag ergeht eine gesonderte Entscheidung.
Am 06.01.2016 fanden die Erstbefragungen der BF1 und deren Ehemann statt.
Hierbei gab die BF1 an, sie sei afghanische Staatsangehörige, stamme aus der Provinz Kunduz, sei verheiratet, volljährig, Hazara und Schiitin. Ein Reisedokument habe sie nie besessen.
Sie sei Analphabetin und bisher Hausfrau gewesen. Ihre Eltern, zwei Brüder und acht Schwestern lebten in Afghanistan. Sie habe Afghanistan erstmals vor drei Jahren gemeinsam mit ihrer Familie verlassen und sich für zwei Jahre im Iran aufgehalten. Dann sei ihr Mann nach Afghanistan abgeschoben worden und sie sei ihm nachgefolgt. Vor rund sechs Monaten seien sie erneut aus Afghanistan in den Iran und später die Türkei gereist. Dort seien sie vom BF2 getrennt worden. Dieser sei vor rund vier Monaten nach Österreich gekommen. Kurz zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die BF1 an, die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich verschlechtert. Ihre Kinder und sie hätten keine Sicherheit. In den Dörfern hätten sich die Taliban verbreitet.
Der Ehemann der BF1 gab an, afghanischer Staatsangehöriger, volljährig, Hazara und Schiit zu sein. Er stamme aus der Provinz Kunduz. Er sei mit der BF1 verheiratet und Vater der minderjährigen BF. Ein Reisedokument habe er nie besessen.
Er sei Analphabet und habe als Landarbeiter gearbeitet. In Afghanistan habe er keine Familienangehörigen mehr, diese würden im Iran, in Deutschland und Österreich leben. Die Angaben betreffend die Fluchtroute und die erstmalige Ausreise aus Afghanistan deckten sich mit den diesbezüglichen Angaben der BF1. Kurz zu seinen Fluchtgründen befragt, gab er an, die Sicherheitslage in seiner Heimatregion habe sich verschlechtert. Die Taliban und die Daesh hätten sich verbreitet. Er sei Hazara und habe Angst, enthauptet zu werden.
3. Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen vom 30.03.2016 wurden gegen den Ehemann der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF7 wegen des Verdachtes des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB die Untersuchungshaft verhängt.
4. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 03.05.2016 wurde dem Ehemann der BF1 der Verlust seines Aufenthaltsrechtes gemäß § 13 Abs. 2 AsylG mitgeteilt.
5. Am 06.09.2016 wurde die BF7 in Österreich geboren. Die BF7 stellte durch ihre gesetzlichen Vertreter am 15.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
6. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen vom 25.07.2016 wurde der Ehemann der BF1 wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Der Ehemann der BF1 habe dem BF5 eine schwere Körperverletzung zugefügt, indem er auf den auf dem Boden liegenden Buben getreten habe, ihn anschließend bis auf Schulterhöhe hochgehoben und zu Boden geworfen und ihm weitere Fußtritte versetzte habe, wodurch der BF5 einen Schädelbasisbruch mit Beteiligung der linken Felsenbeinpyramide und Blutung im Mittelohr sowie eine Blutung zwischen den weichen Hirnhäuten und ein geringes Hirnödem erlitten habe. Mildernd sei sein bisher ordentlicher Lebenswandel und als erschwerend die massiv angewendete Gewalt gegen das eigene, seinem Schutz unterworfene Kind, die auch nach einem heftigen Aufprall mit dem Kopf am Boden fortgesetzt wurde sowie das Nachtatverhalten durch Einschüchterung des schwer verletzten unmündigen Opfers zu werten.
7. Dem Aktenvermerk des BFA vom 28.11.2016 ist zu entnehmen, dass der Obsorgebeschluss betreffend den BF2 aufgrund familiärer Probleme nach wie vor aufrecht bleibe.
8. Mit Beschluss des Landesgerichtes vom 03.05.2017 wurde dem Ehemann der BF1 der Rest der Strafe von acht Monaten bedingt nachgesehen und dieser am 28.07.2017 bedingt entlassen.
9. Im Zuge der Einvernahme vor dem BFA am 21.02.2018 gab die BF1 an, sie sei afghanische Staatsangehörige und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Schiitin. Sie habe diesbezüglich nie Probleme gehabt. Sie komme aus der Provinz Kunduz und habe dort bis zur ersten Ausreise aus Afghanistan vor rund vier Jahren gelebt. Danach habe sie rund zwei bis drei Jahre im Iran gelebt, dann wiederrum zwei Wochen in Afghanistan und danach rund ein Jahr im Iran. Dann sei sie in die Türkei gereist und habe dort rund fünf Monate gelebt. Ihr Mann, der BF2 und der BF4 seien zwei Jahre in der Türkei aufhältig gewesen. Sie habe nie eine Schule besucht und habe nie gearbeitet. Ihre Eltern seien im Iran aufhältig. Eine Tante und ein Onkel väterlicherseits würden in Afghanistan leben; letzterer in Mazar-e Sharif. Zwei weitere Tanten väterlicherseits seien in Australien und im Iran. Die Onkel und Tanten mütterlicherseits seien im Iran und der Türkei aufhältig. Die BF1 habe zehn Geschwister. Davon seien sieben im Iran, zwei in Deutschland und eine Schwester in Afghanistan aufhältig. Ihre Schwester lebe in Kunduz Stadt; sie hätten manchmal Kontakt.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt, gab die BF1 an, dass die Nachbarn ihren Onkel mütterlicherseits vor rund zehn Jahren erschossen hätten. Fünf Jahre später sei der BF4 von der Nachbarin geblendet worden. Ein Jahr später hätten die Cousins der BF1 den Vater und Sohn der Nachbarsfamilie getötet. Daraufhin sei die gesamte Familie von den Nachbarn mit dem Tod bedroht worden, sodass diese geflüchtet seien. Die minderjährigen BF hätten keine eigenen Fluchtgründe.
In Österreich gehe sie keiner beruflichen Tätigkeit nach. Sie führe den Haushalt, bringe die Kinder zum Bus beziehungsweise Kindergarten und besuche einmal wöchentlich einen Deutschkurs. Könne sie in Österreich bleiben, würde sie gerne in einem Kindergarten arbeiten.
Sie legte Bestätigungen über den Besuch von Deutsch-Alphabetisierungskursen, Teilnahmebestätigungen diverserer Info-Module für Flüchtlinge, die Geburtsurkunde der BF7 und Zeugnisse beziehungsweise Kindergartenbestätigungen der minderjährigen BF vor.
Der BF2 gab am 21.02.2018 an, er könne nicht bei seiner Mutter wohnen, da diese nicht genug Platz hätte. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Schiit. Er stamme aus der Provinz Kunduz. Als er klein gewesen sei, habe die Familie ein paar Jahre im Iran gelebt und sei anschließend in die Türkei gereist. Von dort seien sie zurück nach Afghanistan geschickt worden, wo er rund vier Monate in die Schule gegangen sei. Im Iran sei er nicht in die Schule gegangen. In Österreich besuche er die Volksschule. Zum Fluchtgrund befragt, gab er an, seine Eltern hätten gesagt, es wäre wegen des Krieges gewesen. In Österreich spiele er in einem Verein Fußball, treffe sich mit Freunden, besuche an den Wochenenden seine Eltern. Mittwochs habe er eine Gesprächs- und Spieltherapie und gehe danach in eine Jungschargruppe.
Er legte einen psychologischen Befund, einen Entwicklungsbericht, Schulzeugnisse, eine Bewilligung für eine Psychotherapie und Fotos seiner Fußballmannschaft vor.
Der Ehemann der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF7 gab im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA am 22.02.2018 an, afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und Schiit zu sein. Er sei in der Provinz Kunduz geboren und aufgewachsen und habe in der Landwirtschaft gearbeitet. Das erste Mal sei er vor rund vier Jahren in den Iran gereist. Dort habe er sich mit seiner Familie rund zwei Jahre aufgehalten und seien dann nach Afghanistan abgeschoben worden. Danach seien sie wieder in den Iran gereist. Seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder, seine Frau und seine Kinder seien nach Afghanistan geschickt worden. Er sei mit dem BF2 und dem BF4 in die Türkei gereist. Dort hätten sie sich zehn Monate aufgehalten. Dann seien sein Bruder, die BF1 und die übrigen Kinder in die Türkei gekommen. Dort hätten sie sich gemeinsam noch acht Monate aufgehalten. Insgesamt habe er sich rund eineinhalb Jahre in der Türkei aufgehalten. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter und zwei Geschwister seien in Deutschland aufhältig. Seine weiteren Geschwister würden im Iran, der Türkei und ein Bruder in Österreich leben. Er habe Onkel und Tanten im Iran. Die Tante und die beiden Onkel mütterlicherseits seien noch im Heimatort in Kunduz. Zu diesen habe er aber keinen Kontakt. Er habe Kontakt zu seinem Bruder in Deutschland, dieser habe Kontakt nach Afghanistan.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er an Probleme mit den Nachbarn gehabt zu haben. Diese hätten vor zehn oder elf Jahren seinen Onkel getötet. Fünf oder sechs Jahre später sei der BF4 von der Nachbarin geblendet worden. Ein Jahr danach hätten seine Cousins den Nachbarn und dessen Sohn getötet. Sie seien in den Iran geflüchtet. Zwei Jahre später seien sie nach Afghanistan abgeschoben worden und rund einen Monat danach wieder in den Iran gereist. Die minderjährigen BF hätten keine eigenen Fluchtgründe.
In Österreich besuche er einen Deutschkurs. Er sehe seine Frau und seine Kinder fast jeden Tag. Wenn er in Österreich bleiben könne, würde er gerne putzen oder sich um Blumen kümmern.
Er legte eine Psychotherapiebestätigung, die Entlassungsbestätigung der JA, die bedingte Entlassung aus dem Vollzug des Landesgerichtes, den Beschluss über die Aufhebung der Bewährungshilfe wegen mangelnder Sprachkenntnisse, die Kopie seiner Tazkira sowie türkische Ausweise der Familie vor.
10. Am 11.03.2018 brachte der BF2 eine Stellungnahme zu den Länderinformationen zu Afghanistan ein. Zusammengefasst wurde ausgeführt, dass der Minderjährigkeit des BF2 besondere Bedeutung zukomme. Es müsse das Kindeswohl berücksichtigt werden. Der BF2 sei Hazara und würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan als verwestlicht angesehen werden. Er gehöre zur sozialen Gruppe der wegen Grundstückstreitigkeiten von Blutrache bedrohten Personen. Verwiesen wurde unter anderem auf die UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, die ACCORD Anfragebeantwortung betreffend die Situation für Afghanen (insbesondere Hazara), die ihre ganzen Leben im Iran verbracht haben vom 12.06.2015, das Gutachten von Friederike Stahlmann aus 2017 sowie den EASO Bericht betreffend die Sicherheitslage in Afghanistan.
11. Nach Durchführung der Ermittlungsverfahren wies das BFA mit den gegenständlichen Bescheiden vom 18.04.2018 die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1
Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.). Den BF wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise der BF betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In den Bescheidbegründungen traf die Erstbehörde Feststellungen zur Person der BF und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Sie hätten keine Verfolgung im Sinne der GFK glaubhaft gemacht.
Betreffend den Ehemann der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF7 wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und gemäß § 12 Abs. 2 Z 1, 2 und 3 AsylG ausgesprochen, dass dieser sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 30.03.2016 verloren habe.
12. Mit Schreiben vom 12.05.2018 brachten die BF1 und die BF3 bis BF7 das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem die jeweiligen Bescheide vollinhaltlich angefochten wurden. Die BF würden Verfolgung aufgrund von Verfolgungshandlungen infolge einer Blutfehde, Verfolgung durch islamistische Terroristen und Verfolgung aufgrund der entwickelten westlichen Lebenseinstellung befürchten. Betreffend die BF1 wurde eine westliche Orientierung vorgebracht. Betreffend den Ehemann der BF1 wurde ausgeführt, dass die Begründung, dieser würde wegen seiner strafrechtlichen Verurteilung eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, nicht alleine aus der Verurteilung zu schließen sei, sondern sei auch eine auf die persönliche Situation bezogene Zukunftsprognose zu erstellen. Ihm sei durch die Haftstrafe seine Schuld vor Augen geführt worden, was ein Umdenken zu einem künftigen rechtstreuen Verhalten bewirken habe können und sei daher von einer günstigen Zukunftsprognose auszugehen. Für die Erlassung eines Einreiseverbotes bestehe daher kein dringender Anlass.
Mit Schreiben vom 24.05.2018 brachte der BF2 das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde. Dem BF2 drohe Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der wegen Ehrverletzung von Blutrache bedrohten Personen. Aufgrund des langen Aufenthaltes im Iran und in Österreich im Zusammenspiel mit seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara würde der BF2 als "unafghanisch" und "zu westlich" wahrgenommen werden. Eine von der Behörde angenommene innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul liege nicht vor.
13. Mit Beschluss des BG vom 19.10.2018 wurde die Obsorge betreffend den BF2 an die BF1 und seinen Vater übertragen.
14. Mit der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme brachte das Bundesverwaltungsgericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - Afghanistan, Gesamtaktualisierung 29.06.2018 (incl. die dazu erstellten Updates), die UNHCR Guidelines - Afghanistan, 30.08.2018 und den Bericht - EASO - European Asylum Support Office - Sozioökonomische Kennzahlen, vom 20.04.2019 in das Verfahren ein.
15. Am 26.11.2019 legten die BF eine Teilnahmebestätigung der BF1 und deren Ehemann an einem A1-Deutschkurs, eine Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeiten der BF1, Teilnahmebestätigungen betreffend diverser Workshops durch den Ehemann der BF1, einen psychotherapeutischen Kurzbericht betreffend die BF4 und BF5 sowie Schulzeugnisse und Kindergartenbestätigungen betreffend die minderjährigen BF vor.
16. Am 04.12.2019 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) durchgeführt, zu der die BF in Begleitung ihrer gewillkürten Vertreterin erschienen, sowie Mitarbeiter der MA11 als Zeugen geladen waren.
Die BF1 gab an, traditionell verheiratet zu sein. Die minderjährigen BF seien die gemeinsamen ehelichen Kinder. Diese würden die Fluchtgründe von ihren Eltern ableiten.
Die BF1 wiederholte ihr Fluchtvorbringen. Betreffend die Verurteilung ihres Mannes führte sie aus, dass dieser den BF5 nicht absichtlich verletzt habe. Der BF5 sei aus dessen Armen zu Boden gefallen. Sie besuche derzeit einen Deutschkurs, führe den Haushalt und kümmere sich um die Kinder. In Österreich könne sie sich frei bewegen, einkaufen gehen und müsse keine Kopfbedeckung tragen. Bei einem Verbleib in Österreich würde sie gerne in einem Kindergarten arbeiten. Die minderjährigen BF könnten hier zur Schule gehen.
Ihr Ehemann gab an, dass die Geburtsdaten der minderjährigen BF nicht korrekt protokolliert seien. Die Schwester der BF1 hätte ihnen zwischenzeitlich ein Foto geschickt, auf welchem die richtigen Geburtsdaten der Kinder vermerkt seien. Er könne jedoch kein Beweismittel vorlegen, da die Kinder das Foto auf dem Handy der BF1 gelöscht hätten. Die BF1 gab hingegen an, die Nachricht ihrer Schwester nicht vorlegen zu können, da ihr Handy kaputt geworden sei. Der Ehemann wiederholte das Fluchtvorbringen. Betreffend seine Verurteilung in Österreich führte er aus, dass ihm der BF5 aus den Armen gefallen sei.
Die Mitarbeiter der MA11 gaben an, dass die Obsorge betreffend den BF2 nunmehr wieder an die Kindeseltern übergegangen sei. Die BF würden mit dem Ehemann beziehungsweise Vater zusammenleben. Die Familie bedürfe auch in Zukunft die Unterstützung durch die MA11. Bei Gesprächen zum Thema Gewalt zeige sich der Vater ernst, reflektierend und problemeinsichtig.
Weiters wurde eine Freundin der Familie als Zeugin einvernommen. Ihre Tochter und die BF3 hätten gemeinsam die Schule besucht. Sie könne nur Positives über die Familie berichten.
Die rechtliche Vertretung der BF gab in der Verhandlung folgende mündliche Stellungnahme zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der BF ab: "Zum Spruchpunkt 1 der angefochtenen Bescheide wird zunächst auf die Beschwerde verwiesen. Die BF haben auch heute detailliert vorgebracht, dass sie in Afghanistan eine Verfolgung aufgrund der Blutfehde mit ihren Nachbarn fürchten. Die BF1 befürchtet außerdem eine Verfolgung aufgrund der Lebensweise, die sie in Österreich angenommen hat. Sie lernt Deutsch, bestimmt selbst über ihren Alltag und hat konkrete Berufswünsche. Und das, obwohl sie sich gleichzeitig um sechs Minderjährige kümmert. Zum Spruchpunkt 2 der angefochtenen Bescheide wird zunächst auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen. Der bereits wiederholt ausgesprochen hat, das die spezifische Vulnerabilität der Kinder besonders zu berücksichtigen ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern und somit um eine besonders schutzbedürftige Personengruppe. Die BF1 und ihr Ehemann können auch Dari weder schreiben noch lesen und verfügen über keine besondere Berufserfahrung. Dazu kommt die schlechte Versorgungslage und ihre Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara. Sie gehören somit zu einer ethnischen Minderheit, die ständigen Diskriminierungen ausgesetzt ist. Aufgrund dieser Faktoren hätten sie im Falle einer Rückkehr besondere Schwierigkeiten, sich um eine Arbeit und Wohnraum zu kümmern. Daher würde die Rückkehr eine Verletzung ihrer Rechte nach Artikel 2 und 3 EMRK darstellen."
Die BF legten diverse Integrationsunterlagen, einen fachärztlichen Befund betreffend die BF1 mit der Diagnose innere Unruhe und Insomnie, ein persönliches Empfehlungsschreiben, und psychotherapeutische Befunde betreffend den BF4, den BF5 und den Vater der Kinder vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in:
- die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend vor allem die Niederschriften der Erstbefragungen am 27.08.2015 und 06.01.2019, die Niederschriften der Einvernahmen vor dem BFA am 21.02.2018 und 22.02.2018 sowie die Beschwerden vom 12.05.2019 und 24.05.2019
- den Verwaltungsakt des Ehemannes der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF7 zu W175 2195608-1
- die Länderinformationen des BFA zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung 29.06.2018) inkl. des Updates von 04.06.2019, die UNHCR Guidelines zu Afghanistan von 30.08.2018, den "EASO - Country Guidance Afghanistan, Juni 2018" und den Bericht - EASO - European Asylum Support Office - Sozioökonomische Kennzahlen, vom 20.04.2019.
Weiters herangezogen wurden die Angaben der BF1, deren Ehemann, der Mitarbeiter der MA11 sowie einer weiteren Zeugin in der Verhandlung vor dem BVwG am 04.12.2019.
2. Feststellungen (Sachverhalt):
Zur Person der BF:
Die BF sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und sind der schiitischen Glaubensrichtung des Islam zuzurechnen. Die BF1 ist traditionell verheiratet. Die BF2 bis BF7 sind die leiblichen Kinder der BF1 und ihres Ehemannes.
Der BF2 stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 27.08.2015, die BF1, BF3 bis BF6 sowie der Ehemann der BF1 beziehungsweise Vater der BF2 bis BF7 am 21.11.2015, und die in Österreich geborene BF7 am 15.09.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Das Asylverfahren des Ehemannes der Mutter beziehungsweise des Vaters der BF2 bis BF7 ist zu ZI. W175 2195608-1 ebenfalls am BVwG anhängig und wird unter einem mit Erkenntnis vom heutigen Tag entschieden.
Die BF1 wurde in Afghanistan, Provinz Kunduz geboren. Der Geburtsort der BF2 bis BF6 kann nicht festgestellt werden. Die BF7 wurde in Österreich geboren. Die BF haben in der Provinz Kunduz gelebt. Der Zeitpunkt der erstmaligen Ausreise aus Afghanistan und die Dauer der Aufenthalte im Iran sowie in der Türkei sind nicht belegbar.
Die BF verfügen über Familienangehörige in Afghanistan: eine Schwester der BF1 und deren Mann in Kunduz Stadt, eine Tante mütterlicherseits, ein Onkel väterlicherseits in Mazar-e Sharif, Tanten und Onkel des Ehemannes der BF1 in Kunduz. Darüber hinaus haben sie mehrere Familienangehörige im Iran (Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten der BF1, Geschwister des Ehemannes der BF1), der Türkei und Deutschland. Ein Bruder des Ehemannes der BF1 lebt in Österreich; dieser reiste gemeinsam mit dem BF2 in das Bundesgebiet ein. Die BF haben Kontakt zu ihren Familienangehörigen. Die BF1 hält Kontakt zu ihrer in Afghanistan lebenden Schwester und der Ehemann der BF1 hat Kontakt zu seinem in Deutschland aufhältigen Bruder, welcher wiederrum Kontakt nach Afghanistan hat.
Die BF sind in Afghanistan weder vorbestraft, noch wurden sie jemals inhaftiert oder hatten mit den dortigen Behörden sonstige Probleme.
Die BF1 verfügt über keine Schulbildung und ist Analphabetin. Sie war in Afghanistan Hausfrau. In Österreich hat die BF1 einen Deutschkurs absolviert, Prüfungsbestätigungen wurden nicht vorgelegt. Die BF1 hat gemeinnützige Tätigkeiten absolviert. Der BF2 besucht das Gymnasium. Die BF3 bis BF5 besuchen die Volksschule, die BF7 den Kindergarten; sie weisen entsprechende Deutschkenntnisse auf.
Die BF sind gesund. Die BF1 legte in der mündlichen Verhandlung einen ärztlichen Befund mit der Diagnose innere Unruhe und Insomnie vor. In der Einvernahme vor dem BFA am 21.02.2018 sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab die BF1 an, gesund zu sein. Der BF4 ist auf einem Auge erblindet. Außergewöhnliche Gründe, die diesbezüglich eine Rückkehr der BF ausschließen könnten, konnten nicht festgestellt werden.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Zu den Fluchtgründen:
Die BF begründeten ihre Anträge auf internationalen Schutz im Wesentlichen damit, dass sie aufgrund von Nachbarschaftsstreitigkeiten beziehungsweise der daraus resultierenden Blutfehde Verfolgung durch die Nachbarn fürchten.
Das von den BF dargelegte Fluchtvorbringen kann nicht festgestellt werden.
Die BF1, die BF3 und die BF7 sind in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.
Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die BF1 spricht zum Entscheidungszeitpunkt relativ wenig Deutsch und hat auch bisher keine Deutschprüfung abgelegt. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder. Die BF1 trug während der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ein Kopftuch, gab jedoch an, manchmal auch kein Kopftuch zu tragen. Die BF1 kümmerte sich auch in Afghanistan um den Haushalt und die Kinder. Ihre aktuelle Lebensführung in Österreich unterscheidet sich insgesamt nicht fallwesentlich von jener, welche sie über Jahre in Afghanistan führte.
Bei der BF3 und BF7 ist aufgrund ihres jungen Alters von zwölf und drei Jahren keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung anzunehmen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann. Die BF3 und die BF7 wären in Afghanistan, insbesondere in Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund ihres Geschlechts auch nicht grundsätzlich von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten, dem Schulbesuch, ausgeschlossen oder darin maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Auch ist in Afghanistan, insbesondere in den Städten, ein Schulangebot für Mädchen und Buben vorhanden. Vor diesem Hintergrund ist auch keine asylrelevante Verfolgung der minderjährigen BF3 und BF7 für den Fall zu befürchten, dass die Eltern ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine grundlegende Bildung zukommen lassen wollten.
Spezifische sonstige Antragsgründe der BF2 bis BF7 konnten nicht festgestellt werden.
Die BF sind in Afghanistan nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt (worden).
Den BF droht nicht alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zur schiitischen Religion und der Volksgruppenzugehörigkeit der Hazara konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Angehörige der schiitischen Religion in Afghanistan alleine aufgrund dieses Merkmals zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
Eine darüberhinausgehende wie auch immer geartete Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung konnten die BF weder glaubhaft machen, noch geht sie aus dem Akt hervor.
Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat:
Die Herkunftsprovinz der BF zählt zu den unsicheren Provinzen Afghanistans, die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Eine Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Kunduz ist den BF daher nicht zumutbar.
Hinsichtlich einer Rückkehr ist festzuhalten, dass es sich bei den BF um eine Familie mit unmündig minderjährigen Kindern und damit um eine vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe handelt (vgl. VfGH 21.09.2017, E 2130-2132/2017-14; VfGH 11.10.2017, E 1734-1738/2017-8; VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479-9).
Bei den BF2 bis BF7 handelt es sich um unmündige Minderjährige im Alter von drei bis 13 Jahren. Die BF2 bis BF7 leben im Familienverband mit ihren Eltern, verfügen über kein eigenes Vermögen und nicht über eigene Möglichkeiten der Existenzsicherung. Vor allem Kinder sind in Afghanistan besonders von Unterernährung betroffen. Ungefähr zehn Prozent der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Weiters besteht in Afghanistan eine hohe Zahl an minderjährigen zivilen Opfern.
Es wird festgestellt, dass die BF2 bis BF7 bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.
Zur Lage im Herkunftsstaat:
Aufgrund der durch das BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung 29.06.2018) inkl. des Updates von 04.06.2019, die UNHCR Guidelines zu Afghanistan von 30.08.2018 sowie der ESAO Bericht zu Sozioökonomischen Kennzahlen vom 20.04.2019):
Sicherheitslage
KI vom 1.3.2019, Aktualisierung: Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2018
Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019).
Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).
Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independent Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).
Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).
Zivile Opfer
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer; 1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).
Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).
Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).
Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).
Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge beziehungsweise Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018). Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).
Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).
Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018)
Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).
Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
Zur Veranschaulichung werden im Folgenden auszugsweise einige Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten wiedergegeben (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit)
Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).
Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018).
Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Kart-e Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlichkeiten zu Nowruz dauern in Afghanistan mehrere Tage und erreichen ihren Höhepunkt am 21. März (NZZ 21.3.2018). Der IS bekannte sich auf seiner Propaganda Website Amaq zu dem Vorfall (RFE/RL 21.3.2018).
Zivilisten
KI vom 29.10.2018, UNAMA-Update zu zivilen Opfern
Insgesamt wurden im Berichtszeitraum Jänner bis September 2018 8.050 zivile Opfer (2.798 Tote und 5.252 Verletzte) verzeichnet. Die meisten zivilen Opfer wurden durch Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IED [Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen, Anm.] regierungsfeindlicher Gruppierungen verursacht. Zusammenstöße am Boden, gezielte Tötungen, Luftangriffe und explosive Kampfmittelrückstände waren weitere Ursachen für zivile Opfer (UNAMA 10.10.2018). Zivilisten in den Provinzen Nangarhar, Kabul, Helmand, Ghazni und Faryab waren am stärksten betroffen. In Nangarhar wurde bis 30.9.2018 die höchste Zahl an zivilen Opfern (1.494) registriert: davon 554 Tote und 940 Verletzte (UNAMA 10.10.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen verursachten 65% der zivilen Opfer (5.243): davon 1.743 Tote und 3.500 Verletze. 35% der Opfer wurden den Taliban, 25% dem Islamic State Khorasan Province (ISKP) und 5% unidentifizierten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben (darunter 1% selbsternannten Mitgliedern des ISKP) (UNAMA 10.10.2018).
Regierungsfreundliche Gruppierungen waren für 1.753 (761 Tote und 992 Verletzte) zivile Opfer verantwortlich: 16% wurden durch die afghanischen, 5% durch die internationalen Sicherheitskräfte und 1% durch regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen verursacht (UNAMA 10.10.2018).
KI vom 19.10.2018, Sicherheitslage in Afghanistan - Q3.2018
Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil (UNGASC 10.9.2018). Am 19.8.2018 kündigte der afghanische Präsident Ashraf Ghani einen dreimonatigen Waffenstillstand mit den Taliban vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 an, der von diesen jedoch nicht angenommen wurde (UNGASC 10.9.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018, TG 19.8.2018, AJ 19.8.2018). Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.5.2018 - 15.8.2018) 5.800 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 10% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 14% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (61%) aus. Selbstmordanschläge nahmen um 38% zu, Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Kräfte stiegen um 46%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten, wo insgesamt 67% der Vorfälle stattfanden. Es gibt weiterhin Bedenken bezüglich sich verschlechternder Sicherheitsbedingungen im Norden des Landes: Eine große Zahl von Kampfhandlungen am Boden wurde in den Provinzen Balkh, Faryab und Jawzjan registriert, und Vorfälle entlang der Ring Road beeinträchtigten die Bewegungsfreiheit zwischen den Hauptstädten der drei Provinzen (UNGASC 10.9.2018).
Zum ersten Mal seit 2016 wurden wieder Provinzhauptstädte von den Taliban angegriffen: Farah-Stadt im Mai, Ghazni-Stadt im August und Sar-e Pul im September (UNGASC 10.9.2018; vgl. Kapitel 1., KI 11.9.2018, SIGAR 30.7.2018, UNGASC 6.6.2018). Bei den Angriffen kam es zu heftigen Kämpfen, aber die afghanischen Sicherheitskräfte konnten u.a. durch Unterstützung der internationalen Kräfte die Oberhand gewinnen (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018, GT 12.9.2018). Auch verübten die Taliban Angriffe in den Provinzen Baghlan, Logar und Zabul (UNGASC 10.9.2018). Im Laufe verschiedener Kampfoperationen wurden sowohl Taliban- als auch ISKP-Kämpfer (ISKP, Islamic State Khorasan Province, Anm.) getötet (SIGAR 30.7.2018).
Sowohl die Aufständischen als auch die afghanischen Sicherheitskräfte verzeichneten hohe Verluste, wobei die Zahl der Opfer auf Seite der ANDSF im August und September 2018 deutlich gestiegen ist (Tolonews 23.9.2018; vgl. NYT 21.9.2018, ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Trotzdem gab es bei der Kontrolle des Territoriums durch Regierung oder Taliban keine signifikante Veränderung (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018). Die Regierung kontrollierte - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 15.5.2018 56,3% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 (57%) bedeutet. 30% der Distrikte waren umkämpft und 14% befanden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 67% der Bevölkerung lebten in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befanden, 12% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 23% lebten in umkämpften Gebieten (SIGAR 30.7.2018).
Der Islamische Staat - Provinz Khorasan (ISKP) ist weiterhin in den Provinzen Nangarhar, Kunar und Jawzjan aktiv (USGASC 6.6.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018). Auch war die terroristische Gruppierung im August und im September für öffentlichkeitswirksame Angriffe auf die schiitische Glaubensgemeinschaft in Kabul und Paktia verantwortlich (UNGASC 10.9.2018; vgl. KI vom 11.9.2018, KI vom 22.8.2018). Anfang August besiegten die Taliban den in den Distrikten Qush Tepa und Darzab (Provinz Jawzjan) aktiven "selbsternannten" ISKP (dessen Verbindung mit dem ISKP in Nangarhar nicht bewiesen sein soll) und wurden zur dominanten Macht in diesen beiden Distrikten (AAN 4.8.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018).
Global Incident Map zufolge wurden im Berichtszeitraum (1.5.2018 - 30.9.2018) 1.969 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.
Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).
Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).
Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u. a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).
Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).
Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte