TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/17 W159 2184200-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.03.2020
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Entscheidungsdatum

17.03.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W159 2184200-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , alias: XXXX , StA. von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.12.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.02.2020 zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Absatz 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

2. Hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Absatz 1 Asylgesetz 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

3. Gemäß § 8 Absatz 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 17.03.2021 erteilt.

4. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkte III. bis VI. stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, gelangte (spätestens) am 16.12.2015 irregulär und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 17.12.2015 stattgefundenen Erstbefragung durch die Polizeiinspektion XXXX gab er als Geburtsdatum den XXXX an und als Fluchtgründe, dass er im Iran gelebt habe und seine Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr verlängert worden sei und daher die Gefahr bestanden habe, dass er nach Afghanistan abgeschoben werde. Er habe in Afghanistan nichts und niemanden. Er sei sogar im Iran geboren und hätte er nicht gewusst, was er in Afghanistan machen solle. Außerdem sei Afghanistan kein sicheres Land und bestünde eine Gefahr durch die Taliban. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ließ eine medizinische Altersdiagnose vornehmen, aus der sich als spätestmöglichstes Geburtsdatum der XXXX ergibt.

Am 19.12.2017 erfolgte eine Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland. Zu seinem Geburtsdatum gab er an, dass ihm seine Mutter gesagt habe, dass er 17 Jahre alt sei und daraus das Geburtsdatum XXXX errechnet worden sei. Er habe wohl keine Schule besucht, könne aber lesen und schreiben. Afghanische Dokumente habe er nie besessen, er habe allerdings im Iran eine Flüchtlingskarte besessen. Diese sei gegen Bezahlung immer wieder verlängert worden, zuletzt aber nicht mehr, zuletzt im Jahre sei er illegal im Iran aufhältig gewesen. Er sei in XXXX im Iran geboren und habe auch dort bis zur Ausreise gelebt und zwar mit seinen Eltern und seiner Schwester. Am Anfang habe sein Vater für ihn gesorgt, später habe er dann als Schneidergehilfe gearbeitet. Sein Vater sei Hilfsarbeiter auf Baustellen gewesen. Wann seine Eltern Afghanistan verlassen hätten, wisse er nicht, er glaube, dass sie damals noch ledig gewesen seien und im Iran geheiratet hätten und Afghanistan, genauer gesagt XXXX , vor ca. 25 Jahren verlassen hätten. Er habe eine Tante und einen Onkel mütterlicherseits im Iran. Weitere Verwandte habe er nicht. Sein Onkel väterlicherseits sei nach Afghanistan zurückgekehrt und habe er gehört, dass dieser in Afghanistan getötet worden sei. Zu seinen Familienangehörigen im Iran habe er Kontakt. In Österreich habe er keine familiäre Beziehung und befinde sich in Grundversorgung. Er habe Deutschkurse, A1 und A2 besucht. Zum Ausreisegrund befragt gab er an, dass er im Iran geboren worden sei und dort aufgewachsen sei. Die letzte Zeit sei er illegal im Iran aufhältig gewesen und habe er Angst gehabt, dass ihn die Behörde nach Afghanistan abschieben würden. Er sei im Iran einmal eine Nacht auf einer Polizeistation vor ca. 3 Jahren angehalten worden, warum er dann wieder frei gelassen worden sei, wisse er nicht. Gefragt, warum seine Eltern und seine Schwester den Iran nicht verlassen hätten, gab er an, dass sein Vater legal aufhältig sei und die Frauen nicht so viele Probleme hätten. Sein Vater habe nicht das Geld gehabt seine Aufenthaltsberechtigung verlängern zu lassen, da er krank gewesen sei. In Afghanistan habe er niemanden mehr und würden die Rückkehrer aus dem Iran dort wegen ihres Dialektes gehänselt. Sein Onkel sei nach langjährigem Aufenthalt im Iran in Afghanistan getötet worden. Er sei auch einmal von Iranern verprügelt und habe er einen Zahn verloren.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland vom 20.12.2017, Zahl: XXXX , wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationaler Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchteil II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen nicht erteilt, unter Spruchteil IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt V. die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt und unter Spruchpunkt VI. die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgelegt.

In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zu Afghanistan getroffen. Beweiswürdigend wurde zunächst ausgeführt, dass die Behörde dem medizinischen Gutachten hinsichtlich der Altersbestimmung folge und sei es glaubhaft, dass der Antragsteller im Iran geboren sei und aufgewachsen wäre. Auf die Probleme, die er im Iran gehabt habe, sei aus rechtlicher Sicht nicht näher einzugehen und sei festzuhalten, dass dem Vorbringen keine besonderen Umstände hätte entnehmen werden können, aus denen hervorgehe, dass der Antragsteller in Afghanistan unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Verfolgungen im Sinne der GFK ausgesetzt gewesen sei oder bei einer Rückkehr zu erwarten hätten.

Zu Spruchpunkt I. wurde nochmals darauf hingewiesen, dass der Antragsteller kein konkretes auf den Herkunftsstaat bezogenes Fluchtvorbringen erstattet habe und von einer Gruppenverfolgung der Minderheit der Hazara aktuell nicht gesprochen werden könne. Probleme, die er als Afghane im Iran gehabt habe, seien rechtlich nicht relevant, weil sich die begründete Furcht vor Verfolgung auf jenes Land beziehen müsse, dessen Staatsangehörigkeit der Asylwerber besitze.

Zu Spruchpunkt II. wurde zunächst darauf hingewiesen, dass aus der allgemeinen Situation in Afghanistan kein Anspruch auf subsidiären Schutz abgeleitet werden könnte. Aus dem Vorbringen habe sich keine aktuelle auf den Herkunftsstaat bezogene Bedrohung ableiten lassen. Es seien auch keine außergewöhnlichen exzeptionellen Umstände hervorgekommen, die im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ein Abschiebungshindernis im Sinne des Artikel 3 EMRK darstellen könnten. Der Antragsteller sei ein junger Mann im erwerbsfähigen Alter und könne auch eine Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und sei ihm jedenfalls eine Rückkehr in die Städte Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif unter Hinweis auf die diesbezüglichen Länderfeststellungen zuzumuten.

Ein Grund für eine Aufenthaltsberechtigung nach § 57 Asylgesetz sei nicht hervorgekommen (Spruchpunkt III.). Zu Spruchpunkt IV. wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller in Österreich keine Verwandten habe und auch keine familienähnliche Beziehung führe, sodass kein schützenswertes Familienleben vorliege. Er sei im Dezember 2005 illegal in das Bundesgebiet eingereist und sei daher erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig, habe durch seine illegale Einreise gegen die Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, verstoßen und wären auch keine Aspekte außergewöhnlichen, besonders schützenswerten Integration hervorgekommen, sodass letztlich ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen nicht habe erteilt werden können und eine Rückkehrentscheidung als zulässig zu bezeichnen gewesen sei. Da auch keine Bedrohung im Sinne des § 50 FPG hervorgekommen wäre und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehen würde, sei eine solche als zulässig zu bezeichnen gewesen (Spruchpunkt V.) und wären auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise hervorgekommen (Spruchpunkt VI.).

Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller (fristgerecht in vollem Umfang), vertreten durch die XXXX , Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In dieser wurde zunächst ausgeführt, dass der Antragsteller einen westlichen Lebensstil pflege, liberaler eingestellt und westliche Kleidung und einen westlichen Haarschnitt trage, was zur Verfolgung durch Extremisten in Afghanistan führen könne. Die Behörde habe den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt und wurden in der Folge Ausführungen zur Sicherheitslage in Kabul und zur allgemeinen Situation der Hazara in Afghanistan getätigt. Nochmals wurde vorgebracht, dass die belangte Behörde sich mit dem westlichen Lebensstil des Beschwerdeführers nicht ausreichend auseinandergesetzt habe. Weiters wurde nochmals ein Vorbringen in Richtung einer Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur Minderheit der Ethnie der Hazara erstattet und vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer als westlich orientiertem Mann, der viele Jahre im Iran gelebt habe, unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Afghanistan drohe, sodass ihm subsidiärer Schutz hätte gewährt werden müssen. Außerdem habe er soziale Kontakte geknüpft und sich bereits in die österreichische Gesellschaft eingelebt. Schließlich wurde auch die Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung ausdrücklich beantragt.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 20.02.2020 zu der sich die belangte Behörde wegen Nichtteilnahme entschuldigen ließ und der Beschwerdeführer in Begleitung einer Mitarbeiterin der XXXX erschien. Diese legte folgende Unterlagen vor:

* Deutschzertifikat A1

* Deutschzertifikat A2

* Teilnahmebestätigung am Werte und Orientierungskurs

* Zeugnis über Pflichtschulabschluss

* Kompetenzprofil der XXXX Volkshochschulen

* Befund der Notfallambulanz der Dermatologie der XXXX

* Physiotherapievorschreibung für Knie und Wirbelsäule

Der Beschwerdeführer hielt die Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht und wollte dieses weder korrigieren, noch ergänzen. Er sei afghanischer Staatsbürger, seine Eltern seien ebenfalls afghanische Staatsbürger und sei ihnen niemals die iranische Staatsbürgerschaft verliehen worden, ihm ebenso nicht. Er sei Hazara und gehöre dem schiitischen Islam an. Sein Vater sei streng religiös gewesen, seine Mutter wohl religiös, habe ihn aber niemals gezwungen. Sein Vater habe ihn aber immer gezwungen, an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen. In Österreich übe er die schiitische Religion nicht aus. Er sei wohl formal Moslem, vollziehe aber keine Rituale.

Er sei XXXX in der Stadt XXXX im Iran geboren. Über Vorhalt, dass nach der wissenschaftlichen Altersfeststellung er spätestens am XXXX geboren sei, gab er an, dass er sich das nicht erklären könne. Seine Mutter habe ihm gesagt, dass er XXXX ) geboren sei. Sie habe dies aber nicht notiert, da sie Analphabetin sei. Er habe immer in XXXX im Iran gelebt und sei niemals in seinem Leben in Afghanistan gewesen. 8 Jahre lang habe er die Schule besucht, sein Vater habe auf Baustellen gearbeitet und ihn erhalten. Das letzte Jahr vor der Ausreise habe er selbst als Lehrling in einer Schneiderei gearbeitet.

Seine Eltern würden noch leben, ebenso seine Schwester. Sie würden alle sich in XXXX nach wie vor aufhalten. Mit afghanischen Behördenorganen, bewaffneten Gruppierungen wie den Taliban oder afghanischen Privatpersonen habe er keine Probleme gehabt, im Iran gebe es keine Taliban. Sie hätten aber im Iran kein ruhiges Leben gehabt, sondern wären immer im Stress gewesen, da man sie immer diskriminiert hätte und Afghanen dort über keine Rechte verfügen würden. Sie seien benachteiligt worden. Die Schneiderlehre sei bloß eine Schwarzarbeit gewesen. Sein Vater habe wohl eine Aufenthaltsberechtigung gehabt, er selbst jedoch die letzten drei Jahre nicht. Die Zahlungen für die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung seien immer höher geworden, sein Vater habe sich das für ihn nicht leisten können. Gefragt nach den Gründen der Ausreise aus dem Iran, gab er an, dass die Gefahr bestanden habe, dass er von der Behörde erwischt und nach Afghanistan abgeschoben werde. Außerdem habe er im Iran keine weitere Ausbildung machen können und auch keine Zukunftsaussichten gehabt. Je älter er geworden sei, umso öfter sei er von der Polizei aufgehalten und befragt worden. Er habe auch einmal eine Nacht im Gefängnis verbringen müssen. Er glaube, dass ihn sein Vater dann freigekauft habe. Im November 2015 sei er aus dem Iran ausgereist. In Afghanistan habe er niemanden. Der Bruder seines Vaters sei nach Afghanistan zurückgekehrt und dort getötet worden. Die Schwester seiner Mutter befinde sich im Iran und ihr Bruder in der Türkei. Mit seinen Eltern und seiner Schwester im Iran habe er gelegentlichen Kontakt, er habe sie allerdings das letzte Mal vor drei Monaten gesprochen.

Er sei mit der afghanischen Lebensweise und den Gegebenheiten in Afghanistan nicht vertraut, sondern lediglich mit den iranischen. Nachgefragt gab er an, dass seine Eltern schon in jungen Jahren in den Iran gezogen seien und sein Vater die Meinung vertreten habe, dass sich seine Familie der Gesellschaft im Iran anpassen solle. Gefragt, ob er aktuell unter organischen oder psychischen Problemen leide, gab er an, dass er unter Schlafstörungen leide und Schlaftabletten nehme. Er habe auch Knieprobleme und Probleme mit der Wirbelsäule. Deswegen sei er auch in Physiotherapie. Seine Schmerzen im Rücken hätten schon während der Arbeit im Iran begonnen. Er habe dort aber sich keinen speziellen Arzt leisten können. In Österreich sei er zum Arzt gegangen und sei ihm Physiotherapie verschrieben worden. Wegen der Schlafstörungen sei er bei einem Allgemeinmediziner in Behandlung gewesen und dieser habe ihm Schlaftabletten verschrieben.

Er habe in Österreich schon zahlreiche Deutschkurse besucht und Deutschdiplome A1 und A2 abgelegt. Außerdem habe er den Pflichtschulabschluss und habe er nunmehr einen Sprachniveautest gemacht, wo entschieden werden solle, ob er bei B1 oder bei B2 weitermachen solle. Er lebe in keiner Ehe oder Lebensgemeinschaft. In Österreich gearbeitet habe er noch nicht. Er habe sich bei der Gemeinde XXXX um eine Freiwilligenarbeit bemüht, aber er sei nur auf eine Warteliste gesetzt worden und beim Roten Kreuz sei er wegen seines unsicheren Aufenthaltsstatus abgelehnt worden. Früher habe er mit Freunden Fußball gespielt, nunmehr habe er sich eine Knieverletzung zugezogen und könne er nicht mehr spielen. Auch die Anmeldung in einem Fitnesscenter sei abgelehnt worden. Dadurch, dass er Kurse immer mit "Ausländern" besucht habe, habe er kaum die Möglichkeit gehabt, Kontakte zu Österreichern zu knüpfen.

Gefragt, ob sich sein Leben bzw. seine Lebenseinstellung durch seinen Aufenthalt in Österreich verändert habe, gab er an, dass er hier in Frieden und Ruhe lebe, er habe lediglich deshalb etwas Stress, da er noch keinen Asylstatus oder ein Bleiberecht habe. Aber er werde in Österreich als Mensch behandelt und nicht als Afghane ausgestoßen, er habe hier Rechte und Freiheiten, die er auch zum Beispiel hinsichtlich der Schulbildung ausnütze. Er möchte gerne auf eigenen Beinen stehen und etwas erreichen. Er werde auch nicht gezwungen, seine Religion auszuüben. Der traditionellen afghanischen Lebensweise fühle er sich nicht verbunden. Er habe diese auch im Iran nicht gepflegt, noch weniger in Österreich. Die Gleichberechtigung der Frau finde er zu 100% richtig. Befragt, was er über Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten denke, gab er an, dass jeder sein Leben so gestalten können solle, wie er möchte und dass dies respektiert werden sollte. Gesetze und Regelungen sollten unabhängig von religiösen Einflüssen sein. Die Religion sei eine innere und private Sache.

Seine Familie könnte ihn bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan vom Iran aus nicht unterstützen, denn sie sei selbst in einer finanziellen Notlage.

Gefragt, was mit ihm geschehen würde, wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, gab er an, dass er dort niemanden habe, zu dem er gehen könnte und wohnen könnte. Auch würde er als Hazara und Schiit verfolgt. Auch sein Onkel väterlicherseits sei während seines Aufenthaltes in Afghanistan getötet worden und habe er auch Angst, dort getötet zu werden. Er könnte auch die Freiheiten, die er hier in Österreich genieße, in Afghanistan nicht haben und müsste er dort wieder gezwungenermaßen seine Religion verrichten. Gefragt, ob er sich nicht etwa in Herat oder Mazar-e Sharif niederlassen könne, da er jung, gesund und arbeitsfähig sei, sowie Schulausbildung und Berufserfahrung habe, gab er nochmal an, dass er dort auf sich alleine gestellt wäre und dass die Menschen, die im Westen gelebt hätten, dort als Ungläubige bezeichnet würden und würde sich dadurch bestätigen, dass er nicht bete und habe er Angst, dass ihm das Gleiche passiere, wie seinem Onkel. Über Nachfrage bei dem Dolmetscher gab dieser an, dass der Beschwerdeführer Farsi und nicht Dari spreche. Er habe die Hoffnung, in Österreich ein Bleiberecht zu erhalten, um eine Lehrstelle anzutreten, letztlich möchte er eine Ausbildung als Physiotherapeut machen.

Den Verfahrensparteien wurde das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme von 2 Wochen zur Kenntnis gebracht. Verlesen wurde auch der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, indem keine Verurteilung aufscheint.

Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme machte der Beschwerdeführer durch seine ausgewiesene Vertretung Gebrauch. Darin wurde zunächst darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer über Einstellungen und Verhaltensweisen verfüge, die in Afghanistan als westlich "wahrgenommen" würden und auch schon im Iran "westlich" eingestellt gewesen sei. Er habe eine weltoffene Lebenseinstellung und stünden die konservativen afghanischen Traditionen ganz offensichtlich dazu in Widerspruch und wäre er daher deswegen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Außerdem habe er sich vom Islam abgekehrt und bestünde auch diesbezüglich die Gefahr einer Verfolgung von asylrelevanter Intensität.

Zu dem Länderinformationsblatt wurde darauf hingewiesen, dass sich die Situation der Hazara in Afghanistan verschlechtert habe und auch der Zugang zum Arbeitsmarkt und die Ernährungssituation prekär seien.

Dem Beschwerdeführer stünde auch keine inländische Fluchtalternative offen, da er auf kein unterstützungsfähiges und -williges Netzwerk bauen könne und Zeit seines Lebens im Iran aufgewachsen sei.

Vorgelegt wurde weiters eine Verordnung der Physiotherapie durch das Krankenhaus XXXX .

Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem, übt diese Religion aber in Österreich nicht aus, ist aber auch nicht formell vom Islam abgefallen. Er wurde laut wissenschaftlicher Altersfeststellung am XXXX geboren und zwar in XXXX im Iran, wo er auch bis zur Ausreise lebte. Der Beschwerdeführer hat sich niemals in Afghanistan aufgehalten und hat er auch niemals mit afghanischen Behördenorganen, bewaffneten Gruppierungen wie den Taliban oder afghanischen Privatpersonen Probleme gehabt, hat aber auch keinerlei Kontakte nach Afghanistan, zumal seine Eltern und seine Schwester im Iran leben, ebenso eine Tante mütterlicherseits und sein Onkel mütterlicherseits in der Türkei aufhältig ist. Über weitere Verwandte verfügt er nicht. Er hat im Iran 8 Jahre lang die Schule besucht und zuletzt keine Aufenthaltsberechtigung mehr gehabt. 1 Jahr lernte er in Form von Schwarzarbeit das Schneiderhandwerk. Er wurde auch schon einmal von der iranischen Polizei verhaftet und über eine Nacht lang angehalten und ist wegen der Angst nach Afghanistan abgeschoben zu werden und wegen der mangelnden Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten im Iran aus diesem im November 2015 ausgereist.

Der Beschwerdeführer gelangte (spätestens) am 16.12.2015 nach Österreich und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer ist mit der afghanischen Lebensweise nicht vertraut und lehnt den konservativen traditionellen afghanischen Lebensstil ab. Er hat in Österreich mehrere Deutschkurse (samt Werte- und Orientierungskursen) besucht, Deutschzertifikate A1 und A2 erworben und ein Zeugnis, auch den Pflichtschulabschluss nachgeholt. Er hat in Österreich jedoch noch nicht gearbeitet, ist auch nicht Mitglied bei Vereinen und verfügt auch nicht über österreichische Freunde. Er spricht auf Grund seiner Sozialisierung im Iran Farsi und nicht Dari.

Der Beschwerdeführer leidet unter Rückenproblemen (die schon auf Grund seiner früheren Arbeit im Iran offenbar entstanden sind), unter Schlafstörungen, er hat sich überdies beim Fußballspielen am Knie verletzt und hat einen positiven Skabies-Befund. Er ist daher kein vollständig gesunder junger Mann, ist aber unbescholten und führt in Österreich kein Familienleben.

Zu Afghanistan wird folgendes verfahrensbezogen festgestellt:

1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.). Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Quellen:

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2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))

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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))

 

2016

2017

2018

2019

Jänner

2111

2203

2588

2118

Februar

2225

2062

2377

1809

März

2157

2533

2626

2168

April

2310

2441

2894

2326

Mai

2734

2508

2802

2394

Juni

2345

2245

2164

2386

Juli

2398

2804

2554

2794

August

2829

2850

2234

2443

September

2493

2548

2389

-

Oktober

2607

2725

2682

-

November

2348

2488

2086

-

Dezember

2281

2459

2097

-

insgesamt

28.838

29.866

29.493

18.438

Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monat

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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