Entscheidungsdatum
19.03.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W209 2174233-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Reinhard SEITZ als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Clemens Lahner, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2017, Zl. 1080682904 - 150985298, betreffend Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz, Erlassung einer Rückkehrentscheidung, Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen und Feststellung, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig ist, sowie Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.02.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.
Gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" in der Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Bei seiner Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Oberösterreich am 01.08.2015 gab der BF an, er sei am XXXX geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Er sei muslimischen Glaubens und spreche Dari. Beruflich sei er Schafhirte gewesen. Zu seinem Fluchtgrund führte der BF aus, dass er nichts gekonnt und nichts gelernt habe. Er sei nur Schafhirte gewesen. Er sei vom Onkel misshandelt worden und schwer unter Druck gestanden. Da hab er den Entschluss gefasst, wegzugehen, um ein neues Leben zu beginnen.
3. Mit Schreiben vom 04.08.2016 und vom 09.05.2017 legte der BF dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Graz (in der Folge: BFA) Deutschkursteilnahmebestätigungen vor.
4. Mit Schreiben vom 03.08.2016 teilte der BF dem BFA mit, dass er um Richtigstellung seines Geburtsdatums ersuche. Er sei erst 16 Jahre alt und nicht 18, wie irrtümlicherweise in seinen Asylunterlagen vermerkt worden sei. Dem Schreiben wurde eine Tazkira in Kopie angehängt.
5. Mit Verfahrensanordnung vom 05.01.2017 wurde vom BFA nach vorangegangener fachmedizinischer Untersuchung des BF der XXXX als Geburtsdatum des BF festgelegt.
6. Am 20.06.2017 wurde der BF vom BFA im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Vom BF wurden Kursteilnahmebestätigungen, Empfehlungsschreiben sowie ein Nachweis über ehrenamtliches Engagement bei der Caritas vorgelegt. Der BF gab an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Daikundi. Er sei Hazara schiitischen Glaubens und habe keine Krankheiten. Er habe im Haus seines Onkels väterlicherseits gelebt. Seine Familie (Vater, Mutter, fünf Geschwister) habe im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , rund drei Autostunden entfernt gelebt. Vor fünf Monaten habe er das letzte Mal Kontakt zu seinen Eltern gehabt. Sein Vater habe nicht mit ihm in XXXX gewohnt, seine Mutter und Geschwister schon. Sein Vater sei verschwunden und sie wüssten nicht, wo er sei. Der Onkel väterlicherseits sei zuerst Familienoberhaupt gewesen, jetzt sei es ein Onkel mütterlicherseits. Er könne in seiner Muttersprache nicht lesen oder schreiben. Er habe ein bis zwei Jahre die Koranschule besucht und vier bis fünf Jahre als Schäfer gearbeitet. Das Geld habe sein Onkel erhalten. Seine Mutter habe ebenfalls als Schäferin gearbeitet und wohne jetzt beim Onkel mütterlicherseits, der eine Landwirtschaft habe. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Onkel für ihn hätte sorgen müssen, nachdem sein Vater verschwunden sei. Der Onkel habe ihn benutzt und ständig geschlagen. Der Onkel habe mit seiner Frau geredet und weil der BF der älteste Sohn seines Vaters sei, hätte alles was sein Vater besessen habe, ihm gehört. Der Onkel habe mit seiner Frau geredet und den BF umbringen wollen. Das habe die Mutter des BF mitgehört, dann habe die Mutter dem BF gesagt, dass er gehen solle. Als der BF nach Österreich gekommen sei, habe der Onkel weiter seine Mutter und seine Geschwister geschlagen, bis sein anderer Onkel seine Mutter und seine Geschwister zu sich geholt habe. Er sei geflüchtet, weil der Onkel ihn habe töten wollen. Seine Mutter sei nicht zur Polizei gegangen, weil sie nichts beweisen habe können und es in Afghanistan nicht üblich sei, zur Polizei zu gehen. Das Erbe des Vaters habe der Onkel väterlicherseits genommen. Er würde ihn jetzt auch noch umbringen, wenn er zurückkehre. In Österreich habe er viele Freunde. Er besuche Deutschkurse und habe bei der Caritas ehrenamtlich gearbeitet. Er sei in keinem Verein oder einer sonstigen Organisation Mitglied. Er gehe spazieren, bergsteigen, schwimmen und Fahrrad fahren.
7. Mit beschwerdegegenständlichem Bescheid vom 05.07.2017, Zl. 1080682904 - 150985298, wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF nicht erteilt und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise des BF binnen 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt IV.).
In der Begründung des Bescheides traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Zu Spruchpunkt I. führte die Behörde aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der BF in seinem Heimatland Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werde. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass er durch seinen Onkel verfolgt werde. Daikundi sei eine relativ friedliche Provinz und dem BF sei die Rückkehr zumutbar. Er habe Kontakt zu seinen Verwandten und familiären Anschluss in Daikundi. Der BF habe keine Familienangehörigen oder nahe Angehörige im Bundesgebiet. Er habe erst Schritte der Integration unternommen. Eine Ausweisung würde nicht auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in sein Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingreifen.
8. Gegen den Bescheid vom 05.07.2017 erhob der BF, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, mit Schreiben vom 21.07.2017 in vollem Umfang Beschwerde. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass nach dem Verschwinden seines Vaters der BF bei seinem Onkel als Schafhirte habe arbeiten müssen. Der Onkel habe den Lohn kassiert und den BF geschlagen. Von den Misshandlungen habe der BF eine Verletzung am Auge davongetragen. Weiters habe der Onkel das Erbe des BF eingezogen. Der BF sei älter geworden und habe den Onkel schließlich darauf hingewiesen, dass er so nicht leben wolle und die Grundstücke, die ihm rechtmäßig zustünden, zurückhaben wolle. Daraufhin habe der Onkel beschlossen, den BF zu töten. Die Mutter habe von diesem Mordplan erfahren und die Flucht des BF organisiert. Der BF werde aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie vom eigenen Onkel verfolgt. Der afghanische Staat sei aufgrund der guten Kontakte des Onkels zu den afghanischen Behörden nicht willens den BF vor dieser Verfolgung zu schützen. Auch sei eine Rückkehr nach Daikundi für den BF ausgeschlossen. Insbesondere durch den großen Einfluss des Onkels auf die afghanischen Behörden verfüge der BF über kein entsprechendes soziales Netzwerk in Daikundi. Zudem sei er durch seine Augenverletzung in seiner Berufswahl stark eingeschränkt, was ebenfalls dazu führen könne, dass er in der Provinz Daikundi, wo die Versorgungslage ohnehin bereits sehr eingeschränkt sei, in eine ausweglose Lage gerate. Der BF sei sehr bemüht sich in Österreich zu integrieren. Er habe bereits Deutschkurse besucht und versuche auch, Anschluss an die österreichische Gesellschaft zu bekommen. Er sei auch ehrenamtlich tätig, strafrechtlich unbescholten und respektiere die österreichische Rechts- und Werteordnung.
9. Mit Schreiben vom 22.03.2018 teilte der BF mit, Rechtsanwalt Mag. Clemens LAHNER mit seiner Vertretung beauftragt zu haben.
10. Mit Stellungnahme vom 18.06.2018 legte der BF ein Konvolut an Unterstützungsschreiben, einer Anmeldung zur Pflichtschul-Abschlusseinstufung, sowie diverse Fotografien vor. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass die Unterlagen deutlich zeigen würden, dass der BF laufend darum bemüht sei, sich in Österreich bestmöglich zu integrieren und ein neues Leben aufzubauen. Derzeit verbessere er seine Deutschkenntnisse und bemühe sich um seinen Pflichtschulabschluss. Unterstützt werde er dabei von zahlreichen engen Freunden. Zusätzlich werde darauf hingewiesen, dass der BF in regelmäßigen Kontakt und Austausch mit gläubigen Christinnen stehe und auch teilweise den christlichen Gottesdienst bzw. weitere christliche Veranstaltungen besuche. Dies zeige die große Akzeptanz gegenüber anderen Religionen, welche der BF seit seiner Flucht nach Österreich entwickeln habe können., sowie seine allgemein liberale Grundhaltung.
11. Mit Schreiben vom 02.01.2020 wurde die Vollmacht seitens der ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe zurückgelegt.
12. Am 12.02.2020 legte der BF eine weitere Stellungnahme vor. Der Stellungnahme wurden ein Befundbericht Dris. XXXX , ein Zeugnis über den absolvierten Pflichtschulabschluss der Neuen Mittelschule (NMS) XXXX vom 03.07.2019, ein deutscher Aufsatz des BF, ein Zertifikat über die Qualifizierung zur Gastronomiehilfskraft, eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs, eine Bestätigung über die Teilnahme am Deutschkurs A1 der Universität Salzburg, eine Bestätigung über die Teilnahme am selbstorganisierten Religionskurs von Mag.a XXXX und Frau XXXX eine Bestätigung über die Teilnahme am Kurs "Melete+ Basisbildung und digitale Kompetenz" vom 05.12.2019, eine Bestätigung über die Teilnahme am Deutschkurs B1 des "Deutschstudio Salzburg" vom 23.08.2019, eine Anmeldebestätigung des ÖIF für die Integrationsprüfung B1, ein Lebenslauf des BF, eine Musterbewerbung für eine Stelle in der Gastronomie sowie Empfehlungsschreiben und Fotografien angehängt. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass die Unterlagen deutlich die intensiven Integrationsbemühungen des BF zeigen würden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der BF als Analphabet nach Österreich gekommen sei und zudem unter Legasthenie und Dyskalkulie leide, seien der Spracherwerb, sowie der positive Pflichtschulabschluss als außergewöhnliche Integrationsleistungen zu bezeichnen. Weiters habe der BF mittlerweile wieder Kontakt mit seiner Mutter aufnehmen können und erfahren, dass die Mutter und die jüngeren Geschwister des BF mittlerweile in den Iran geflüchtet seien, nachdem sie in Afghanistan zunächst bei einem Onkel mütterlicherseits untergekommen seien. Nachdem es auch zwischen dem Onkel mütterlicherseits und dem Onkel väterlicherseits zu einem Konflikt gekommen sei, hätten die Mutter und die Geschwister des BF Afghanistan verlassen und seien nunmehr in XXXX im Iran aufhältig. Der BF habe erfahren, dass sein Onkel mütterlicherseits ermordet worden sei und der Onkel väterlicherseits der Tat verdächtigt werde. Die Bedrohung durch den Onkel väterlicherseits, aufgrund welcher der BF flüchten habe müssen, sei somit nach wie vor präsent. Die familiären Bindungen des BF in Afghanistan seien durch die Flucht seiner Mutter und seiner Geschwister sowie den Tod des bisherigen Familienoberhaupts noch deutlich schwächer als bisher und werde auch dieser Aspekt insbesondere bei der Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative zu berücksichtigen sein. Der BF sei durch seinen Onkel väterlicherseits misshandelt und dadurch unter anderem am Auge verletzt worden. Zum Beweis der Verletzung werde mit dem gegenständlichen Schriftsatz ein Befundbericht Dris. XXXX vorgelegt, aus welchem hervorgehe, dass der BF am linken Auge eine Bindehautnarbe habe, wodurch das diesbezügliche Vorbringen untermauert werde. Der BF habe stark zusammengefasst vorgebracht, er sei aufgrund eines innerfamiliären Konfliktes und somit aufgrund von Verfolgung von Privaten aus Afghanistan geflohen. Das Vorbringen des BF sei insofern asylrelevant, als der afghanische Staat nicht in der Lage sei, wirksamen Schutz vor Gewalt zu bieten. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA sei irrtümlich protokolliert worden, der BF und seine Mutter hätten gar nicht erst versucht, Hilfe durch die afghanischen Behörden in Anspruch zu nehmen. Bei der diesbezüglichen Formulierung handle es sich um ein Missverständnis. Der BF wolle dies dahingehend korrigieren, dass er zwar mit seiner Mutter beim Dorfältesten gewesen sei, ihnen dort aber nicht geglaubt bzw. nicht geholfen worden sei. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation ergebe sich, dass Korruption und Willkür nach wie vor weit verbreitet seien. Die Ausbildung des Justizpersonals sowie der Sicherheitskräfte sei mangelhaft und führe zu einer uneinheitlichen Rechtsanwendung, wobei häufig eine persönliche Interpretation der Sharia zur Anwendung gebracht werde. Generell seien informelle Streitschlichtungssysteme, insbesondere in ländlichen Gebieten, weit verbreitet, da ein Großteil der afghanischen Bevölkerung kein Vertrauen in die afghanischen Justiz- und Sicherheitsbehörden habe. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Onkel väterlicherseits des BF ein einflussreicher Mann sei, erscheine es nachvollziehbar, dass der BF keine Unterstützung durch die afghanischen Behörden erfahren habe. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der BF nach wie vor Verfolgung durch diesen Onkel ausgesetzt und könne er weiterhin nicht auf die Schutzfähigkeit der Sicherheitskräfte vertrauen.
Aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben von Mag. XXXX und Mag.a XXXX sowie den Bestätigungen über die Teilnahme an einem selbstorganisierten Religionskurs ergebe sich die liberale Haltung des BF zum Thema Religion, aufgrund derer er in Afghanistan als "verwestlicht" wahrgenommen werden würde und auch aus diesem Grund asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. dazu auch das zur Stellungnahme übermittelte LiB, S. 278). Diese liberale Einstellung bzw. "westliche" Orientierung zeige sich unter anderem darin, dass der BF sich auch für andere Religionen interessiere und diese respektiere. Er wünsche sich Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und betreibe religiöse Rituale wie Beten oder Fasten selbstbestimmt und nach eigenem Ermessen. Eine derartige Lebenseinstellung träfe in Afghanistan nicht nur auf Unverständnis, sondern würde den BF der Gefahr der Verfolgung aussetzen. Der BF sei als Minderjähriger nach Österreich gekommen und maßgeblich in einer europäischen Gesellschaft sozialisiert worden. Dem BF könne nicht zugemutet werden, sich bei einer Rückkehr wieder an die sozialen Normen in Afghanistan anzupassen. Dem BF drohe somit nicht nur Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu seiner Familie, sondern auch aufgrund der in seiner ausgeprägt liberalen Einstellung und Erscheinung manifestierten politischen bzw. religiösen Gesinnung, welche nach den in Afghanistan verbreiteten Ansichten der Apostasie bzw. der Blasphemie gleichkämen. Die Verfolgung würde dabei zunächst von privater Seite ausgehen - konkret: von besonders traditionellen, streng-muslimischen Personen - darüber hinaus jedoch auch von Seiten regierungsfeindlicher Gruppierungen - etwa den radikal-islamischen Taliban - sowie angesichts der (vermeintlichen bzw. unterstellten) Apostasie bzw. Blasphemie von Seiten des afghanischen Staates. Gerade angesichts der zu befürchtenden staatlichen Verfolgung stehe dem BF keine innerstaatliche Schutzalternative zur Verfügung. Als Rückkehrer aus Europa würde der BF zudem schon per se Verdacht erregen. Zum Beweis für die höchst prekäre Lage, in welche zwangsrückgeführte afghanische Staatsangehörige geraten, werde auf den beiliegenden Bericht von Friederike STAHLMANN hingewiesen.
Einerseits sei der BF dem Risikoprofil der "als verwestlicht wahrgenommenen Personen", sowie andererseits jenem der Personen, die (vermeintlich) gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen, zuzuordnen. Zwar sei der BF Moslem, angesichts der in Afghanistan vorherrschenden strengen Interpretation des Islam sowie insbesondere der fundamentalistischen Auffassungen der Taliban würde er bei einer Rückkehr notgedrungen auffallen, da sich sein Zugang zur Religion und die damit zusammenhängende Lebensweise in Österreich stark verändert habe. Zum Beweis dafür, dass sich der BF mit dem Christentum und dem Judentum auseinandersetze, einen "westlichen Lebensstil" pflege und sich von der strengen Glaubenspraxis, wie sie in Afghanistan vorherrsche, distanziert habe, wurde der Antrag auf zeugenschaftliche Einvernahme von Mag.a XXXX , Mag. XXXX , XXXX , Mag.a XXXX gestellt.
13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.02.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des BF, einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und seiner Rechtsvertretung durch, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Darüber hinaus wurde Mag.a XXXX als Zeugin einvernommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der BF ist am XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Daikundi, geboren und aufgewachsen. Der BF ist schiitisch muslimischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Identität des BF steht fest.
Er reiste im Juli 2015 in Österreich ein und stellte am 30.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er identifiziert sich auch in Österreich als Muslim, wenngleich er seine Religion hier nicht streng auslebt und beispielsweise auf das Fasten verzichtet. Der BF ist anderen Religionen gegenüber nicht ablehnend eingestellt, setzt sich mit den Inhalten des Christentums und des Judentums auseinander und wohnt auch den christlichen Gottesdiensten in seiner Pfarrgemeinde bei.
Im Alter von rund 10 Jahren zog der BF mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zu einem unwesentlich entfernt im Dorf XXXX wohnenden Onkel väterlicherseits. Grund dafür war, dass der Vater des BF unmittelbar zuvor auf dem Weg nach Kabul verschollen ist. Der BF hat Afghanistan im Sommer 2015 verlassen. Der Grund für die Ausreise des BF waren die schlechte Behandlung, Ausnutzung und Misshandlungen durch den Onkel väterlicherseits. Die Kernfamilie des BF - seine Mutter und Geschwister - leben mittlerweile in XXXX , Iran. Der BF hat Kontakt zu seiner Mutter.
Der BF hat in Afghanistan lediglich ein bis zwei Jahre die Koranschule besucht und musste als Schafhirte für seinen Onkel arbeiten. Darüber hinaus hat der BF keine Arbeitserfahrung.
Der BF spricht muttersprachlich Dari, kam jedoch als Analphabet nach Österreich.
Der BF lebt seit Juli 2015 durchgehend in Österreich.
Der BF leidet an Legasthenie und Dyskalkulie. Der BF hat eine Bindehautnarbe am linken Auge, welche seine Sehkraft mindert. Sonstige gesundheitliche Einschränkungen konnten nicht festgestellt werden.
Der BF hat am 03.07.2019 eine Pflichtschulabschluss-Prüfung an der NMS XXXX in Salzburg bestanden. Der BF spricht sehr gut Deutsch und hat eine Deutsch-Prüfung auf dem Niveau B1 abgelegt.
Der BF hat mit 21.09.2018 die 350 Ausbildungseinheiten umfassende Ausbildung "Qualifizierung zur Gastronomiehilfskraft" erfolgreich absolviert.
Der BF hat sich von Oktober 2016 bis Juni 2017 ehrenamtlich bei der Caritas engagiert und auch einen Monat als Straßenreinigungskraft für das Magistrat Salzburg gearbeitet.
Der BF hat von 24.09.2019 bis 05.12.2019 den Kurs "Melete+ Basisbildung und digitale Kompetenz" des Landes Salzburg besucht.
Der BF ist gut in seiner Heimatgemeinde XXXX in Salzburg integriert. Er möchte in Österreich eine Tischlerlehre machen. Insbesondere in die Pfarrgemeinschaft XXXX ist der BF gut integriert, wo er regelmäßig an Gottesdiensten und anderen Aktivitäten teilnimmt und bereits viele persönliche Kontakte knüpfen konnte.
Der BF hat mit dem Prüfungstermin 01.02.2020 die ÖSD Integrationsprüfung zur Sprachkompetenz B1 und zum Werte- und Orientierungswissen bestanden.
Der BF ist arbeitsfähig.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF ist in Afghanistan keiner persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)
2016 2017 2018 2019
Jänner 2111 2203 2588 2118
Februar 2225 2062 2377 1809
März 2157 2533 2626 2168
April 2310 2441 2894 2326
Mai 2734 2508 2802 2394
Juni 2345 2245 2164 2386
Juli 2398 2804 2554 2794
August 2829 2850 2234 2443
September 2493 2548 2389 -
Oktober 2607 2725 2682 -
November 2348 2488 2086 -
Dezember 2281 2459 2097 -
insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438
Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019)
Jahr Tote Verletzte Insgesamt
2009 2.412 3.557 5.969
2010 2.794 4.368 7.162
2011 3.133 4.709 7.842
2012 2.769 4.821 7.590
2013 2.969 5.669 8.638
2014 3.701 6.834 10.535
2015 3.565 7.470 11.035
2016 3.527 7.925 11.452
2017 3.440 7.019 10.459
2018 3.804 7.189 10.993
2019* 2.563* 5.676* 8.239*
Insgesamt 32114 59561 91675
* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Daikundi
Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat und grenzt an Ghor im Norden und Westen, Bamyan im Osten, Ghazni im Südosten, Uruzgan im Süden und Helmand im Südwesten (UNOCHA 4.2014). Daikundi gehörte früher zur Provinz Uruzgan und ist mittlerweile eine eigenständige Provinz (PAJ 1.2.2014; vgl. UNDP 5.2.2017). Neben der Provinzhauptstadt Nili besteht Daikundi aus den folgenden Distrikten: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht und Shahristan (CSO 2019; vgl. IEC 2018). Der Distrikt Gizab/Pato wechselte in der Vergangenheit zwischen Uruzgan und Daikundi (AAN 31.10.2011). Im Juni 2018 wurde Pato ein eigenständiger Distrikt (AAN 27.1.2019). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) führte Pato 2019 als "temporären" Distrikt von Daikundi (CSO 2019). "Temporäre" Distrikte sind Distrikte, die nach Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2004 vom Präsidenten aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, jedoch (noch) nicht vom Parlament bestätigt wurden (AAN 16.8.2018). Der von Hazara dominierte Distrikt Nawamish wurde auf Anordnung des Präsidenten im März 2016 vom mehrheitlich paschtunischen Distrikt Baghran in der Provinz Helmand abgespalten. Im Juni 2017 wurden die administrativen Angelegenheiten von Nawamish Daikundi zugeordnet (AAN 16.8.2018), bzw. beschloss die Regierung 2018, dass Nawamish Teil von Daiku