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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des Z H, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juli 2019, W134 2189734-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 2. April 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass sein Onkel, ein Mitglied der Taliban, mit seiner Familie verfeindet sei. Sein Bruder arbeite für die Regierung und die Taliban hätten die Familie aufgefordert, dass dieser seine Arbeit aufgeben müsse, ansonsten würden sie getötet werden. Nachdem er einen Drohbrief von den Taliban erhalten habe, sei er geflohen. Sein jüngerer Bruder sei danach auf dem Heimweg von der Schule getötet worden. Zwischenzeitlich habe es auch einen Angriff der Taliban auf das Haus seiner Familie gegeben, bei dem mehrere seiner Angehörigen getötet worden seien. Aufgrund dieser Erlebnisse sei er psychisch erkrankt.
2 Mit Bescheid vom 16. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 In seiner Begründung führte das BVwG - zusammengefasst und soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Interesse - betreffend die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten aus, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft machen können, aus asylrelevanten Gründen verfolgt zu werden. Es sei weder nachvollziehbar, weshalb der Revisionswerber bedroht worden sein soll und nicht sein Vater oder sein Bruder, die als LKW-Fahrer für die NATO bzw. als Mitglied der afghanischen Armee tätig seien, noch dass die Verfolgung erst nach 15 bzw. zehn Jahren nach Beginn ihrer Tätigkeiten begonnen habe. Die Explosion im Haus der Familie des Revisionswerbers sei erst nach dessen Ausreise erfolgt. Daher bestehe kein unmittelbarer Zusammenhang mit seiner Flucht. Darüber hinaus habe der Revisionswerber von der Explosion nur von seinem Bruder erfahren, der sich selten im Elternhaus aufhalte, weil er auf einer Basis der Armee untergebracht sei. Dass der Angriff gezielt auf das Elternhaus erfolgt wäre, sei daher lediglich eine Vermutung. Vor dem Hintergrund der Länderberichte, nach denen es in der Provinz Logar vermehrt zu Zusammenstößen zwischen der Regierung und aufständischen Gruppierungen komme, könne die Familie auch Opfer eines Gefechts bzw. eines Selbstmordattentäters geworden sein. Selbst wenn es der Onkel oder die Taliban auf den Revisionswerber abgesehen hätten, könne sich dieser durch einen Umzug in eine größere Stadt wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat deren Einflussbereich entziehen. Zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers hielt das BVwG fest, dass sein psychischer Zustand schwankend sei. Aus den medizinischen Unterlagen ergebe sich jedoch keine Arbeitsunfähigkeit.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung dieser Beschwerde mit Beschluss vom 27. September 2019, E 3412/2019-5, ab. Über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers trat er diese mit Beschluss vom 14. Oktober 2019, E 3412/2019-7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision unter anderem - auf das Wesentliche zusammengefasst und soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - vor, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen und die vom Revisionswerber vorgelegten medizinischen Unterlagen sowie die Aussage der einvernommenen Zeugin zur Frage des Gesundheitszustandes bzw. der Arbeitsfähigkeit des Revisionswerbers unberücksichtigt gelassen. Das BVwG habe in Bezug auf die vorgebrachte Verfolgung durch die Taliban ebenfalls vorgelegte Beweismittel ignoriert und in seine Erwägungen nicht einbezogen und habe insbesondere nicht festgestellt, dass der Revisionswerber persönlich bedroht worden sei, bereits mehrere Familienmitglieder ermordet worden seien und sein Bruder bei der afghanischen Armee arbeite. Dem Revisionswerber drohe auch als Familienangehöriger von Mitgliedern der afghanischen Armee eine asylrelevante Verfolgung. Außerdem sei das BVwG seinen amtswegigen Ermittlungspflichten nicht nachgekommen, weil es unter anderem trotz Angaben des Revisionswerbers, er habe den gegen ihn gerichteten Drohbrief der Taliban den ungarischen Behörden übergeben, diesen nicht beigeschafft habe. Weiters wendet sich der Revisionswerber gegen die Annahme, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative.
9 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
10 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt ist, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 28.1.2020, Ra 2020/20/0011, mwN).
11 Die Beweiswürdigung ist damit nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 27.6.2018, 2018/18/0311, mwN).
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0245 bis 0249, mwN).
13 Es entspricht weiters der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Begründungspflicht, dass das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/20/0187 bis 0189, mwN).
14 Eine solche umfassende Auseinandersetzung mit dem gesamten Vorbringen des Revisionswerbers ist im gegenständlichen Revisionsfall nicht erfolgt. Die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG greifen zu kurz, wenn es sich in erster Linie mit dem vom Revisionswerber behaupteten Angriff auf seine Familienangehörigen nach seiner Flucht auseinandersetzt und nicht auf die vorgebrachten, direkt gegen den Revisionswerber gerichteten Verfolgungshandlungen eingeht. In diesem Zusammenhang ignorierte das BVwG auch den mehrfachen Hinweis des Revisionswerbers, dass er den Drohbrief, den er von den Taliban erhalten habe, den ungarischen Behörden übergeben habe, und unternahm keinen Versuch, diesen beizuschaffen.
15 Hinsichtlich der als Alternativbegründung bei Wahrunterstellung angenommenen innerstaatlichen Fluchtalternative lässt das angefochtene Erkenntnis eine ausreichende Beschäftigung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül vermissen. Es bedürfte insbesondere konkreter Feststellungen zu den aus der psychischen Erkrankung des Revisionswerbers resultierenden Einschränkungen. Der Revisionswerber hat im Verfahren Urkunden vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass er mehrfach stationär nach dem Unterbringungsgesetz angehalten wurde. Die vor dem BVwG als Zeugin einvernommene sozialpädagogische Betreuerin des Revisionswerbers gab an, dass dieser nicht alleine wohnen und leben könne, weil dann die Gefahr der Verwahrlosung gegeben und die Kontrolle der Einnahme der Medikamente nicht sichergestellt wäre. Weiters wies die Zeugin darauf hin, dass der Revisionswerber aufgrund seiner psychischen Situation seine ehrenamtliche Tätigkeit in einem Sozialmarkt habe abbrechen müssen. Das BVwG setzte sich mit alldem nicht auseinander, sondern verwies lediglich darauf, dass der psychische Zustand des Revisionswerbers schwankend sei, sich aus den medizinischen Unterlagen jedoch nicht ergebe, dass dieser nicht arbeitsfähig wäre.
16 Zudem zeigt die Revision zutreffend auf, dass das BVwG zwar von der langjährigen Tätigkeit des Vaters des Revisionswerbers für die NATO und einer Mitgliedschaft des Bruders bei der afghanischen Armee ausgegangen ist, sich aber nicht näher mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, denen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Indizwirkung zukommt (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0686, mwN), auseinandergesetzt hat. Die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 führen in Zusammenhang mit dem einschlägigen Risikoprofil der Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, aus, dass Verwandte von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung durch regierungsfeindliche Kräfte geworden seien (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018, S 54). Das BVwG wird daher - sollte die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht in Betracht kommen - im fortgesetzten Verfahren Feststellungen zur Gefährdung von Familienangehörigen von Personen, die in Afghanistan mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, zu treffen und auf dieser Grundlage anhand der den Revisionswerber betreffenden Situation zu beurteilen haben, ob dem Revisionswerber in dieser Eigenschaft im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
17 Sohin war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
19 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 24. Juni 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200536.L00Im RIS seit
10.08.2020Zuletzt aktualisiert am
10.08.2020