TE Vwgh Beschluss 2020/7/6 Ra 2017/22/0021

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Veröffentlicht am 06.07.2020
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Index

E1P
E3L E19103000
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §38
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §20 Abs1
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 idF 2013/I/068
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litb
VwGG §62
12007P/TXT Grundrechte Charta Art47
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art18
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art4 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des Landeshauptmanns von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 1. Juli 2016, VGW-151/070/6947/2015-6 u.a., betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: M Ö, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währingerstraße 3/14), den Beschluss gefasst:

Spruch

Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den verbundenen Rechtssachen C-133/19, C-136/19 und C-137/19 über die Ersuchen des Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) ausgesetzt.

Begründung

1.1. Der - im Mai 1997 geborene und ledige - Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 1. April 2014 im Wege der Österreichischen Botschaft Ankara beim nunmehrigen Revisionswerber einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in der fallbezogen maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 68/2013.

1.2. Der Revisionswerber wies den Antrag mit Bescheid vom 25. März 2015 ab, weil der Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

2.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 1. Juli 2016 gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den abweisenden Bescheid Folge und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b iVm. § 20 Abs. 1 NAG für die Dauer von zwölf Monaten. Es führte zusammengefasst im Wesentlichen aus, der Aufenthalt des Mitbeteiligten führe zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft. Der Mitbeteiligte sei trotz des zwischenzeitigen Erreichens der Volljährigkeit als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu erachten.

Das Verwaltungsgericht sprach weiters aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2.2. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision. Er führte zu deren Zulässigkeit - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - aus, der Mitbeteiligte sei im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits volljährig gewesen, sodass er kein Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG mehr sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei im Fall einer Familienzusammenführung nach den §§ 46 f NAG für die Frage der Minderjährigkeit im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen.

3. Wie die Revision zutreffend aufzeigt, vertritt der Verwaltungsgerichtshof - auch in Bezug auf die Familienzusammenführung von türkischen Staatsangehörigen (vgl. etwa VwGH 22.2.2018, Ra 2018/22/0018; 20.10.2011, 2009/21/0206) - in ständiger Rechtsprechung, dass die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG im Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde bzw. des Verwaltungsgerichts vorliegen müsse. Bestehe sie zwar im Zeitpunkt der Antragstellung, gehe sie jedoch vor der Entscheidung (etwa) durch Eintritt der Volljährigkeit verloren, so sei die besondere Erteilungsvoraussetzung der Eigenschaft als Familienangehöriger nicht mehr gegeben (vgl. etwa VwGH 9.8.2018, Ra 2017/22/0071; ausführlich 14.12.2010, 2008/22/0882).

4. Zu dieser Thematik sind derzeit Vorabentscheidungsersuchen des (belgischen) Conseil d’État beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den verbundenen Rechtssachen C-133/19, C-136/19 und C-137/19 anhängig.

Die Rechtssache C-137/19 betrifft dabei im Wesentlichen die Auslegung des Begriffs „Minderjähriger“ in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG und die Frage, ob der Begriff dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger - um als Minderjähriger im Sinn der Richtlinie zu gelten - nicht nur in dem Zeitpunkt ein Minderjähriger sein muss, in dem er den Antrag auf Einreise und Aufenthalt in einem Mitgliedstaat stellt, sondern auch in dem Zeitpunkt, in dem die Verwaltung des Mitgliedstaats schließlich über seinen Antrag entscheidet.

Die Rechtssachen C-133/19 und C-136/19 betreffen die Frage, ob Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 18 der Richtlinie 2003/86/EG dahin auszulegen sind, dass eine Nichtigkeitsklage (nach belgischem Recht) gegen eine Verwaltungsentscheidung, mit der einem minderjährigen Kind das Recht auf Familienzusammenführung versagt wird, nicht deswegen als unzulässig abgewiesen werden darf, weil das Kind während des Verfahrens volljährig geworden ist, da dem Kind damit die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, genommen würde, was sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf beeinträchtigte.

5. Die an den EuGH - insbesondere im Verfahren zu C-137/19 - herangetragenen Fragen sind auch für das gegenständliche Verfahren von entscheidender Bedeutung. Sie sind - infolge des Auslegungsmonopols des EuGH in Angelegenheiten des (primären oder sekundären) Unionsrechts - durch diesen zu beantworten.

Der Verwaltungsgerichtshof setzt daher das Verfahren gemäß § 62 VwGG iVm. § 38 AVG bis zur Vorabentscheidung des EuGH aus.

Wien, am 6. Juli 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220021.L00

Im RIS seit

29.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

29.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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