Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Juli 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen Stoyan F***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 2013/116 und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 6. März 2020, GZ 115 Hv 107/19a-45, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung werden zurückgewiesen.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Stoyan F***** des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB idF BGBl I 2013/116 (A./) und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB (B./) schuldig erkannt.
Nachdem der Angeklagte nach Urteilsverkündung (und Rücksprache mit seinem Verteidiger) um Bedenkzeit ersucht hatte (ON „49“ S 19), meldete der Verteidiger mit Schriftsatz vom 9. März 2020 die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe an (ON 48). Mit eigenhändig unterschriebener „Beschwerde“ vom 8. April 2020 teilte der Angeklagte sodann mit, er habe auf das Recht der „Berufung“ verzichtet und warte auf seine Versetzung in eine Strafanstalt. Um verlegt werden zu können, bat er zugleich um die Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung (ON 50).
Die Zustellung des Urteils an den Verteidiger erfolgte am 17. April 2020 (ON 1 S 12).
Mit jeweils an den Vorsitzenden des Schöffengerichts gerichteten Eingaben (bei Gericht eingelangt am 12. bzw am 22. Mai 2020) ersuchte der Angeklagte neuerlich um „vorzeitige Übernahme in Strafhaft“, damit er in ein anderes Gefängnis verlegt werden könne, und um „Übernahme in Strafhaft bzw Angabe der Gründe, warum [das] Urteil vom 6. März 2020 noch nicht rechtskräftig“ sei.
Am 29. Mai 2020 langte eine Ausführung der Rechtsmittel durch den Verteidiger ein (ON 53). Ein Ersuchen des Gerichts vom 4. Juni 2020, der Verteidiger möge im Hinblick auf die Eingabe ON 50 bekanntgeben, ob die Rechtsmittel zurückgezogen werden, blieb (bislang) unbeantwortet.
Rechtliche Beurteilung
Nach § 57 Abs 2 zweiter Satz zweiter Halbsatz StPO gilt im Fall einander widersprechender Erklärungen eines Beschuldigten und seines Verteidigers jene des Beschuldigten. Als Ausnahme vom Grundsatz der Prävalenz von Prozesserklärungen eines Beschuldigten sollte mit BGBl I 2004/19 zum Schutz des Beschuldigten vor übereilten Handlungen, deren Konsequenzen er womöglich nicht abzuschätzen vermag, das in § 466 Abs 1 zweiter und dritter Satz StPO idF vor BGBl I 2007/93 enthaltene Prinzip verallgemeinert werden (EBRV 25 BlgNR 22. GP, 83). § 57 Abs 2 letzter Satz StPO in der seit 1. Jänner 2008 geltenden Fassung normiert deshalb, dass ein Verzicht auf Rechtsmittel gegen das Urteil, den der Beschuldigte (Angeklagte) „nicht im Beisein seines Verteidigers und nach Beratung mit diesem“ abgibt, ohne Wirkung ist. Aus dem Erfordernis der Anwesenheit eines Verteidigers und dem Gesetzeszweck (Übereilungsschutz iSd § 466 Abs 1 StPO aF in einer besonderen Belastungssituation vor Gericht) ergibt sich, dass § 57 Abs 2 letzter Satz StPO teleologisch auf unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung ohne Beisein und Beratung eines Verteidigers abgegebene Erklärungen des Beschuldigten (iSd § 48 Abs 1 Z 3 StPO: Angeklagten) zu reduzieren ist. Diese Bestimmung sollte aus dem Gesamtkontext erkennbar die Möglichkeit der Einholung individueller professioneller Beratung nach der Urteilsverkündung absichern und vor übereilten Rechtsmittelverzichten unmittelbar vor Gericht schützen. Schließlich misst das Gesetz selbst im Fall eines unvertretenen Angeklagten dem ungenützten Verstreichen der Anmelde- oder Ausführungsfrist die gleiche Wirkung bei (unwiderruflicher Verlust der Rechtsmittelbefugnis) wie einem sogleich unter den Kautelen des § 57 Abs 2 letzter Satz StPO unmittelbar nach Urteilsverkündung abgegebenen Rechtsmittelverzicht (vgl §§ 285a Z 1, 294 Abs 4 StPO). Dass ein Verstreichenlassen der Anmeldefrist ohne (dem Gericht nachzuweisende) anwaltliche Beratung möglich sein sollte, die wirksame Erklärung eines Rechtsmittelverzichts außerhalb der unmittelbar nach Urteilsverkündung vor Gericht bestehenden Belastungs- und Drucksituation hingegen nicht, wäre sachlich nicht zu begründen. Demnach prävaliert auch außerhalb der Situation vor Gericht im Fall widerstreitender Erklärungen ein schriftlich eingebrachter Rechtsmittelverzicht des Angeklagten (zur Frage anwaltlicher Beratung vor Abgabe einer schriftlichen Verzichtserklärung differenzierend noch 12 Os 97/13a = EvBl-LS 2014/7 [Ratz] = JSt-NL 2014/1 [Kier]; vgl weiters Fabrizy, StPO13 Rz 10, Soyer/Schumann, WK-StPO Rz 51, 53 – beide zu § 57).
Im Gesamtkontext sind die Eingaben des Angeklagten unzweifelhaft als rechtswirksamer (nach deren Anmeldung erfolgter) Verzicht auf die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung zu verstehen (RIS-Justiz RS0096679; vgl auch Ratz, WK-StPO § 284 Rz 8 f).
Die vom Verteidiger dennoch eingebrachten Rechtsmittel waren daher bereits nach nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 Z 1 StPO iVm § 285a Z 1 StPO; § 294 Abs 4 StPO iVm §296 Abs 1 und Abs 2 StPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Textnummer
E128781European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0110OS00059.20S.0707.000Im RIS seit
07.08.2020Zuletzt aktualisiert am
29.12.2020