TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/14 W261 2191800-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.02.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

14.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W261 2191800/32E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.10.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte III., IV. und V. abgewiesen.

II. Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes VI. mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:

"Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Ihrer Haftentlassung."

B)

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der nunmehrige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben gemeinsam mit seiner Ehefrau und den zwei minderjährigen ehelichen Kindern am 20.10.2015 in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Die Erstbefragung des Beschwerdeführers fand am 01.12.2015 und seine Ersteinvernahme fand am 02.11.2017 statt.

3. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

4. Der Beschwerdeführer erhob mit Eingabe vom 27.03.2018, bevollmächtigt vertreten durch Mag. Irene Oberschlick, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.

5. Der Beschwerdeführer versuchte am 18.08.2018 seine Ehefrau umzubringen und wurde aus diesem Grund am selben Tag in Untersuchungshaft genommen.

Aus dem vom BVwG am 03.10.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für den Beschwerdeführer eine Verurteilung des Landesgerichtes XXXX vom 16.11.2018, Zl. XXXX , rechtskräftig seit 07.05.2019, wegen §§ 15, 75 StGB (versuchter Mord) aufscheint, und der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde.

6. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.03.2019 gewährte das Bundesverwaltungsgericht der Ehefrau und den beiden minderjährigen ehelichen Kindern des Beschwerdeführers internationalen Schutz. Diese Erkenntnisse erwuchsen in Rechtskraft.

7. Das BVwG führte am 09.10.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung mit dem Beschwerdeführer durch.

8. Das BVwG ersuchte mit Schreiben vom 08.11.2019 die Kinder- und Jugendhilfe XXXX (in der Folge XXXX ) einen kurzen Bericht über die beiden minderjährigen ehelichen Kinder des BF abzugeben, und insbesondere bekanntzugeben, ob aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe ein Kontakt zwischen dem BF und seinen Kindern im Sinne des Kindeswohls befürwortet oder abgelehnt werde.

9. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.12.2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides ab. Hinsichtlich der Spruchpunkte III. bis VI. wurde festgehalten, dass die Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt ergehen wird.

10. Mit Schreiben vom 18.12.2019 gab die XXXX eine umfangreiche Stellungnahme ab, wonach sich die beiden Kinder seit August 2019, nachdem auch deren Mutter wegen Drogendelikte in Untersuchungshaft genommen worden sei, in der Obhut und Pflege der XXXX befinden und in einer Wohngemeinschaft leben würden. Die Mutter sei am 04.12.2019 aus der Haft entlassen worden, es habe auch während der Haft Besuchskontakt zwischen den Kindern und der Mutter bestanden. Die Kinder seien auch derzeit noch in der Obhut der XXXX , weil die Mutter über keinen festen Wohnsitz verfüge und auch die finanziellen Ressourcen nicht habe, um die Kinder zu betreuen.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers strebe die Scheidung an, und wolle die alleinige Obsorge für die Kinder beantragen.

Die Kinder hätten den Beschwerdeführer seit der Tat, bei welcher diese anwesend gewesen seien, nicht mehr persönlich gesehen. Es sei auch seitens der XXXX nichts Konkretes geplant, um diese Situation zu ändern. Es sei derzeit wichtig, dass sich die Situation der Familie stabilisiere.

Ein Familienleben im eigentlichen Sinne des Vaters mit den Kindern bestehe seit dem Tag des Mordversuches an der Mutter nicht mehr.

11. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte dieses Schreiben dem Beschwerdeführer im Rahmen des Parteiengehörs.

12. Der Beschwerdeführer gab, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, am 17.01.2020 eine schriftliche Stellungnahme ab, wonach die Kinder den Wunsch geäußert hätten, den Beschwerdeführer zu besuchen, und auch die Kindesmutter nichts dagegen habe. Er ersuche daher, ihm einen Aufenthaltstitel nach Art. 8 EMRK zu gewähren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , in Kabul, in der Provinz Kabul ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Moslem. Für Identifikationszwecke wird das Geburtsdatum mit XXXX festgestellt.

Der Beschwerdeführer ist mit XXXX verheiratet, der Ehe entstammen die beiden minderjährigen ehelichen Kinder, mj. XXXX und mj. XXXX , welche beide in Kabul geboren sind. Der Ehefrau und den minderjährigen ehelichen Kindern wurde mit rechtskräftigen Erkenntnissen des BVwG jeweils vom 19.03.2019, Zlen W261 XXXX , W261 XXXX und W261 XXXX internationaler Schutz gewährt.

Der Beschwerdeführer wurde mit dem seit 07.05.2019 rechtskräftigen Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 16.11.2018, Zl. XXXX , wegen §§ 15, 75 StGB (versuchter Mord) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Dieser Tat liegt ein Vorfall vom 18.08.2018 zugrunde, bei welchem der Beschwerdeführer versuchte, seine Ehefrau vor den Augen seiner minderjährigen Kinder mit einem Messer zu töten.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit 18.08.2018 durchgehend in Haft.

Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.12.2019, Zl. XXXX wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Spruchpunkte I. (internationaler Schutz) und II. (subsidiärer Schutz) des angefochtenen Bescheides ab.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers strebt die Scheidung an.

Es besteht seit dem 18.08.2018 zwischen dem Beschwerdeführer und seinen beiden minderjährigen, ehelichen Kindern und seiner Ehefrau kein Familienleben im eigentlichen Sinn.

1.2 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz, genauer in die Stadt Kabul, aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt gegen Schiiten im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem Beschwerdeführer steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem Beschwerdeführer droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine zehnjährige Schulausbildung, weiters hat er bereits Berufserfahrung als Schneider, Bodyguard und Kick-Boxtrainer gesammelt, die er auch in Mazar-e Sharif wird nutzen können.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.3 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im notorischen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.3.1 Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.3.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. ? 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. ? 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.3.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).

1.3.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 17.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - halten an (LIB, Kapitel 17.3).

1.3.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 16.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 16.1).

1.3.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.3.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).

1.3.9. Provinzen und Städte

1.3.9.1. Herkunftsprovinz Kabul:

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 3.1 und Kapitel 3.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Hauptursache für zivile Opfer in der Provinz Kabul (596 Tote und 1.270 Verletzte im Jahr 2018) waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 3.1).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 21).

1.3.9.2. Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 - teils öffentliche, teils private - Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).

1.3.10. Situation für Rückkehrer/innen

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).

Die "Reception Assistance" umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, den Erkenntnissen der Ehefrau und der minderjährigen ehelichen Kinder des Beschwerdeführers sowie seiner strafrechtlichen Verurteilung beruhen auf dem Akteninhalt und sind unbestritten geblieben.

Aus dem Akteninhalt ergibt sich auch, dass die beiden minderjährigen, ehelichen Kinder seit dem Vorfall am 18.08.2018, bei welchem diese Zeugen werden mussten, wie ihr Vater versuchte, ihre Mutter zu töten und sie jedenfalls mit einem Messer schwer verletzte, keinen persönlichen Kontakt mehr mit ihrem Vater hatten.

2.2 Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan ergeben sich aus den o.a. Länderfeststellungen unter Berücksichtigung des vom Beschwerdeführer in seiner Beschwerde, in seinen Stellungnahmen zur Gefährdungslage in Afghanistan diesbezüglich angeführten Länderberichtsmaterials in Zusammenschau mit den vom Beschwerdeführer glaubhaft dargelegten persönlichen Umständen.

Im Einklang mit seinen Stellungnahmen kommt die erkennende Richterin unter Berücksichtigung der aktuellen Länderinformationen, wonach die Stadt Kabul zu den relativ instabilen Provinzen in Afghanistan zählt, zum Ergebnis, dass ihm eine Rückkehr in diese Provinz allein schon aufgrund der Sicherheitslage nicht möglich ist.

Wie bereits mit dem rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.1.2019 festgestellt, ist es dem Beschwerdeführer möglich, in die Stadt Mazar-e Sharif als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative zurückzukehren. Mazar-e Sharif ist, wie aus den zitierten Länderfeststellungen zu entnehmen ist, für Zivilisten, wie es der Beschwerdeführer ist, weitgehend sicher, sodass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in diese Stadt mit keinen Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit zu rechnen hat. Der Beschwerdeführer wird im Falle einer Rückkehr nicht Gefahr laufen, aus einer individuellen Bedrohung ernsthaft Schaden zu nehmen. Eine Reise nach Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher und legal möglich, die Kosten für die Anreise werden ihm im Rahmen der Rückkehrhilfe grundsätzlich ersetzt.

Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer in der Lage sein wird, in Mazar-e Sharif für seine grundlegendsten Bedürfnisse selbst aufzukommen, obwohl er keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in dieser Stadt hat, ergeben sich aus seinen eigenen Angaben im gegenständlichen Asylverfahren unter Berücksichtigung der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Länderinformationen. Laut den zitierten EASO Leitlinien vom Juni 2019 ist in der Stadt Mazar-e Sharif die Lebensmittelsicherheit grundsätzlich gewährleistet und die in den Länderfeststellungen genannte Basisinfrastruktur steht dem Beschwerdeführer zur Verfügung. Derzeit liegen nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Mazar-e Sharif keine exzeptionellen Umstände vor, die annehmen lassen würden, dass der Beschwerdeführer dort keine Lebensgrundlage vorfindet, und von ihm die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können.

Aufgrund seiner schulischen und beruflichen Kenntnisse sind die Lebensgrundlage und die Existenz des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr bei Inanspruchnahme der angebotenen Rückkehrhilfe auch ohne soziales Netz und finanzielle Unterstützung durch seine Familie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausreichend gesichert.

Nachdem seine Ehefrau und seine minderjährigen Kinder in Österreich internationalen Schutz genießen, wird der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nur für sich, und nicht auch für seine Familie aufzukommen haben.

Im gegenständlichen Verfahren nahm das BVwG eine individuelle Einzelfallprüfung vor, wie sie sowohl von EASO als auch von UNHCR für die Annahme einer innerstaatlichen Flucht- und Schutzalternative gefordert wird. Das erkennende Gericht kommt zu dem Schluss, dass in seinem Fall eine Rückkehr nach Afghanistan möglich und zumutbar ist.

Der Beschwerdeführer ist nach seinen eigenen glaubhaften Angaben gesund. Ausgehend von diesen Ermittlungsergebnissen wird keine Feststellung getroffen, dass der Beschwerdeführer auch im Falle seiner Rückkehr aufgrund seines Gesundheitszustandes in einen unmittelbaren lebensbedrohlichen Zustand geraten wird bzw. dass keine Gründe gesundheitlicher Natur einer Rückführung des Beschwerdeführers in seinen Heimatstaat entgegenstehen.

2.2 Zu den Länderfeststellungen

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides - Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 Abs. 1 AsylG

3.1.1. § 57 AsylG lautet auszugsweise:

"Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz

§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, ...,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

..."

3.1.2. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt des Beschwerdeführers weder seit mindestens einem Jahr gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG geduldet ist, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der Beschwerdeführer Opfer von Gewalt iSd § 57 Abs. 1 Z 3 FPG wurde. Weder hat der Beschwerdeführer das Vorliegen eines der Gründe des § 57 FPG behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor.

3.1.3. Die Beschwerde war in diesem Spruchpunkt des angefochtenen Bescheides daher abzuweisen.

3.2. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides - Rückkehrentscheidung

3.2.1. § 52 Fremdenpolizeigesetz (FPG), § 9 Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Verfahrensgesetz (BFA-VG), und §§ 58 Abs. 2 und 52 AsylG lauten auszugsweise:

"Rückkehrentscheidung (FPG)

§ 52 ...

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn,

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird,

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

..."

"Schutz des Privat- und Familienlebens (BFA-VG)

§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.

..."

"Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln

Antragstellung und amtswegiges Verfahren (AsylG)

§ 58 ...

(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

..."

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK (AsylG)

§ 55 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn,

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

..."

3.2.2. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien vorzunehmen. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Vom Prüfungsumfang des Begriffes des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern z.B. auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80; EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80; EuGRZ 1983, 215; VfGH vom 12.03.2014, U 1904/2013). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt.

Unter "Privatleben" im Sinne von Art. 8 EMRK sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554).

Einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren kommt für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zu (VwGH vom 25.04.2018, Ra 2018/18/0187). Liegt eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so muss die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich sein, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (VwGH vom 18.09.2019). Es ist im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (VwGH vom 28.02.2019, Ro 2019/01/003).

Der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch geordnete Abwicklung des Fremdenwesens ein hoher Stellenwert zu. Gegen diese Normen verstoßen Fremde, die nach dem negativen Abschluss ihres Asylverfahrens über kein weiteres Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen und unrechtmäßig in diesem verbleiben (VwGH 02.09.2019, Ra 2019/20/0407).

3.2.3. Die Ehefrau und die minderjährigen, ehelichen Kinder des Beschwerdeführers leben als international Schutzberechtigte legal in Österreich, weswegen zu prüfen ist, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung dem im Art. 8 EMRK gewährleisteten Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seines Familienlebens zuwiderläuft.

Nachdem die Ehefrau des Beschwerdeführers, welche er am 18.08.2018 versuchte, zu ermorden, die Scheidung vom Beschwerdeführer anstrebt, ist davon auszugehen, dass diese kein Interesse an der Aufrechterhaltung eines davor bestandenen Familienlebens mit dem Beschwerdeführer hat. Auch der Beschwerdeführer selbst hat seit dem Vorfall am 18.08.2018 kein Familienleben im eigentlichen Sinn mit seiner Ehefrau, insbesondere, weil er sich seit diesem Zeitpunkt in Haft befindet.

Es war daher als nächster Schritt zu prüfen, ob die Rückkehrentscheidung seinem Familienleben mit den ehelichen Kindern und deren Kindeswohl widerspricht. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach in seiner Judikatur die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessensabwägung hingewiesen (vgl. VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034; 07.03.2019, Ra 2018/21/0141, mwN, insbesondere auch aus der Rechtsprechung des VfGH).

Dabei kann laut VwGH auch im Verwaltungsverfahren als Orientierungsmaßstab die Bestimmung des § 138 ABGB herangezogen werden, welcher (samt Überschrift) wie folgt lautet:

"Kindeswohl

§ 138. In allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Obsorge und der persönlichen Kontakte, ist das Wohl des Kindes (Kindeswohl) als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten. Wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls sind insbesondere

1. eine angemessene Versorgung, insbesondere mit Nahrung, medizinischer und sanitärer Betreuung und Wohnraum, sowie eine sorgfältige Erziehung des Kindes;

2. die Fürsorge, Geborgenheit und der Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes;

3. die Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes durch die Eltern;

4. die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes;

5. die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung;

6. die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte;

7. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, Übergriffe oder Gewalt selbst zu erleiden oder an wichtigen Bezugspersonen mitzuerleben;

8. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, rechtswidrig verbracht oder zurückgehalten zu werden oder sonst zu Schaden zu kommen;

9. verlässliche Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen sowie sichere Bindungen des Kindes zu diesen Personen;

10. die Vermeidung von Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen des Kindes;

11. die Wahrung der Rechte, Ansprüche und Interessen des Kindes, sowie

12. die Lebensverhältnisse des Kindes, seiner Eltern und seiner sonstigen Umgebung.

Nachdem der Beschwerdeführer seit 18.08.2018, dem Zeitpunkt der Tat und der Zeitpunkt seiner Verhaftung, keinen persönlichen Kontakt zu seinen Kindern hat, und sich diese lange Zeit in Pflege und Obsorge der Kindesmutter befanden, bzw. seit deren Verhaftung im August 2019 in der Obhut der XXXX sind, kommen weder der Beschwerdeführer, noch dessen Ehefrau für die Versorgung deren Kinder auf.

Ein tatsächliches Familienleben besteht zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern seit dem Mordversuch an seiner Ehefrau, welchen der Beschwerdeführer in Anwesenheit seiner Kinder ausführte, nicht mehr.

Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan würde sich an der Situation des Beschwerdeführers und seiner Kinder insoweit etwas ändern, als der Beschwerdeführer nicht mehr in Haft ist, und sich in einem anderen Land, genauer in Afghanistan, aufhält. Die Kinder besuchten den Beschwerdeführer auch bisher nicht in der Haft, weswegen es im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nicht zu einem Kontraktbruch kommen kann, weil dieser Kontaktabbruch zwischen ihm und seinen Kindern bereits mehr als eineinhalb Jahre zurückliegt. Hinzu kommt, dass es in der alleinigen Verantwortung des Beschwerdeführers liegt, dass es dazu kam, weil er es war, welcher die strafbare Handlung setzte, weswegen der Kontakt zwischen ihm und seinen ehelichen Kindern nicht mehr aufrecht ist. Hinzu kommt, dass nach den Ausführungen der XXXX die Kinder bisher auch kein Bedürfnis gezeigt haben, den Vater im Gefängnis zu besuchen. Ein Familienleben im eigentlichen Sinn zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern besteht derzeit jedenfalls nicht.

Selbst wenn es zu Besuchen der Kinder im Gefängnis kommen sollte, ist dieser Umstand auch nicht mit einem Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK gleichzusetzen.

Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde. Geht man davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht vorzeitig aus der Haft entlassen wird, sind seine beiden Kinder, welche derzeit ca. acht und ca. sechs Jahre alt sind, zum Zeitpunkt der Haftentlassung in ca. 13 Jahren beide bereits volljährig. Daher ist eine Berücksichtigung des Kindeswohles im Sinne des genannten § 138 ABGB zu dem Zeitpunkt, wenn die Rückkehrentscheidung schlagend wird, nämlich nach der Haftentlassung des Beschwerdeführers, in diesem Fall mangels der Eigenschaft des "minderjährigen Kindes" nicht mehr möglich ist.

Anhaltspunkte, dass die Haftentlassung vorzeitig erfolgen könnte, sind im gegenständlichen Verfahren nicht hervorgekommen, wiewohl der Beschwerdeführer selbst auf eine vorzeitige Enthaftung hofft.

Aus den genannten Gründen steht die gegenständliche Rückkehrentscheidung nicht im Widerspruch zum Kindeswohl. Eine Verletzung des im Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechtes auf Schutz seines Familienlebens liegt ebenfalls nicht vor.

3.2.4. Im gegenständlichen Fall ist der Beschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen und somit illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Antragstellung im Oktober 2015, somit seit etwas mehr als vier Jahren, im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer hat in dieser Zeit kaum private Kontakte von besonderer Intensität geknüpft, welche es im Sinne des Art. 8 EMRK zu schützen gilt.

Es ist auch nach wie vor von einer engeren Bindung des Beschwerdeführers nach Afghanistan auszugehen, zumal er einen großen Teil seines bisherigen Lebens dort verbrachte. Er wurde in Afghanistan sozialisiert und bestritt dort seinen Lebensunterhalt.

3.2.5. Den privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen die öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber.

Nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt.

Erschwerend und bei der Entscheidung über eine Rückkehr des Beschwerdeführers ist bei der Vornahme der Interessensabwägung auch zu berücksichtigten, dass er in Österreich ein schweres Verbrechen begangen hat und hierfür rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde. Es liegt daher auch im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dass gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen wird.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG stellt sohin keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK dar. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig machen würden oder die die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Abs. 1 AsylG erforderlich machen würden.

Der Beschwerdeführer hat weder behauptet über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens zu verfügen, noch ist ein solches im Ermittlungsverfahren hervorgekommen.

Die Erlassung der Rückkehrentscheidung war daher im vorliegenden Fall geboten und ist auch nicht unverhältnismäßig.

3.2.6. Die Beschwerde war in diesem Spruchpunkt des angefochtenen Bescheides daher abzuweisen.

3

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten