Entscheidungsdatum
27.03.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W264 2207142-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Tanja KOENIG-LACKNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 4.9.2018, Zl. 1125427205-161081882, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.11.2019, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch "BF") stellte am 5.8.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am selben Tag (5.8.2016) statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge auch "belangte Behörde") fand am 15.3.2018 statt.
Als fluchtauslösende Ereignisse führte er an, dass sein Leben in Afghanistan in Gefahr gewesen sei. Sein Vater und sein Bruder seien von den Taliban entführt worden und glaube der BF, dass diese nicht mehr am Leben seien. Sein Bruder hätte für die Regierung und für die Amerikaner gearbeitet. Der BF sei von einem Mann namens XXXX mehrmals auf dem Weg zur Schule angesprochen und damit belästigt worden, dass er - wenn er groß sei - in den Dschihad gehen bzw. einer islamistischen Gruppe beitreten solle.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 4.9.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Er könne sicher auf dem Landweg von Kabul in seine Herkunftsprovinz Parwan gelangen. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
3. Der BF erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass die Taliban in seinem Herkunftsdorf sehr aktiv seien und der BF der Minderheit der Hazara angehöre. Der Dorfgemeinschaft werde seitens der Taliban ein Teil der Ernte abgepresst und sie würden das Tal in Richtung Distriktszentrum nur über Kontrollpunkte der Taliban verlassen können. Der BF habe seine Fluchtgeschichte, dass die Taliban in deren Haus eingedrungen und seinen Bruder und Vater mitgenommen hätten, sehr eindrücklich geschildert. Er habe die zahlreichen Fragen klar und detailliert beantworten können. Er wäre überall in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt und würde diese auch bei einer Rückkehr neuerlich drohen. Des Weiteren wurde auf kinderspezifische Standards im Asylverfahren, auf zahlreiche Berichte hinsichtlich der Lage in Afghanistan sowie auf Rechtsprechung sowohl des VwGH als auch des BVwG verwiesen.
4. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.11.2019 eine mündliche Verhandlung durch.
Es folgt ein Auszug aus der Verhandlungsschrift:
"Die R fordert BF auf, nun in Ruhe in freier Erzählung nochmals die Gründe, warum das Herkunftsland verlassen und ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, von sich aus vollständig und wahrheitsgemäß zu erzählen. Lassen Sie nichts weg! Nehmen Sie sich Zeit und erzählen Sie ganz konkret und mit Details. Falsche Angaben beeinträchtigen die Glaubhaftigkeit Ihres Fluchtberichts.
Sie haben nun die Möglichkeit von sich aus alles zu erzählen, ohne auf Fragen von mir warten zu müssen.
BF führt aus wie folgt: Mein Bruder hatte in der afghanischen Nationalarmee (ANA) gearbeitet, er konnte auch Englisch sprechen, deswegen hat er auch für die Amerikaner als Dolmetscher gearbeitet. Ich und mein Vater wurden von jemanden namens XXXX bedroht und er sagte zu mir, dass mein Bruder aufhören für die ANA zu arbeiten. Er muss aufhören für die Feinde des Islams zu dienen. "Feinde des Islams" waren gemeint die Amerikaner. Inzwischen bin ich etwas größer geworden und er wollte, dass er mich den Taliban anschließe und am Jihad teilnehme. Für mich, die Taliban und Daesh (IS), sind die gleichen, ich glaube sie sind die gleichen Leute. Ich wollte etwas bei der Einvernahme beim BFA, in Wr. Neustadt, thematisieren, aber der Referent war sehr böse und hat mit mir geschrien, ein-, zweimal. Ich war total im Stress, jetzt möchte ich das sagen.
R: Ich habe Ihnen vorhin gesagt, Sie sollen über Ihre Fluchtgründe reden, also tun Sie das jetzt auch. Alles was Ihnen am Herzen liegt und ein Fluchtgrund war, sagen Sie jetzt bitte.
BF: Ich möchte etwas zeigen: Einen Monat, bevor ich das Land verlassen habe, wurde an meiner linken Hand, am Zeigefinger (am ersten Glieds des Zeigefingers) mir eine Verletzung mit einem Faden zugefügt und zeige mir das vor. So wollte man mich zwingen, dass ich ihnen anschließe.
(Davon fertigt die Richterin Fotografien an).
Wenn ich ersucht werde mit meinem anderen Zeigefinger auf die Stelle hinzuweisen, wo mein linker Zeigefinger verletzt wurde, so mache ich dies.
Befragt nach der Beweglichkeit des Fingers: Das funktioniert wieder. Ich habe auch keine Schmerzen, wenn ich ihn bewege. Ich kann den Finger ganz normal benutzen.
BF: Sie wollten mich zwingen, aber ich wollte mich denen nicht anschließen. Als ich zu Hause war, habe ich meinen Eltern nicht erzählt, weil mir gesagt wurde, dass ich das nicht machen solle. Nachgefragt, ob ich damit die Verletzung und den Rekrutierungsversuch gemeint habe: Ja. Den Eltern habe ich gesagt, die Verletzung stamme von einem Spiel. Es gibt in Afghanistan ein Spiel, Chelak Jangi, die mit einem Faden gespielt werden. Ich habe von XXXX und seine Männer, die zu den Taliban gehört hatten, große Angst gehabt. Mein Bruder - aus Angst vor XXXX und den Männern - ist nur selten nach Hause gekommen.
R: Wie oft hat Sie persönlich XXXX belästigt?
BF: Genau weiß ich es nicht, damals als ich die Schule besuchen wollte, war das alle zwei Tage einmal. Als ich aufgehört habe die Schule zu besuchen, wurde ich weiterbedroht.
R: Warum haben Sie mit der Schule aufgehört?
BF: Ich habe dann meinen Vater in der Landwirtschaft auf den Felder geholfen. Aus Angst ist mein Bruder selten nach Hause gekommen. Einmal kam er in der Nacht nach Hause, ich weiß es nicht, wie die Taliban erfahren haben, dass er zu Hause ist, ich und meine Mutter haben in einem Zimmer geschlafen, mein Vater und mein Bruder in einem anderen Zimmer. Diese Zimmer, wo ich und meine Mutter geschlafen haben, hatte einen Abstellraum, wo wir das Essen zubereitet und eingenommen haben. Die Taliban sind zuerst zu diesem Zimmer gegangen, wo mein Bruder und mein Vater waren und in diesem Abstellraum war auch ein Tandor (Öffnung im Boden für das Brot backen). Ich und meine Mutter haben uns darin versteckt. Als die Taliban bei uns waren, haben sie nach uns (Mutter und mich) gefragt, ich habe ich teilweise gehört, alles habe ich nicht gehört. Ich habe nur gehört, dass mein Vater und mein Bruder gesagt haben, dass sie nicht wissen, wo wir sind. Als die Taliban weg waren und wir haben nichts mehr gehört und Gefühlt gehabt, dass es ruhig geworden ist, hat mir meine Mutter aus dem Versteck genommen und wir haben zehn Minuten zu Fuß zurückgelegt. Meine Mutter hat mich einem Freund von meinem Vater namens XXXX "übergeben" und dieser hat mich von Parwan nach Nimroz gebracht, dort einen Schlepper organisiert. Als ich in diesem Tandor war, habe ich wahnsinnige Angst gehabt, ich will Ihnen meine Gefühle beschreiben. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich wahnsinnig große Angst hatte.
R: Tun Sie das bitte und beschreiben Sie, wie Sie sich damals gefühlt?
BF: Ich habe mich wie ein Schaf gefühlt, das bald geopfert und geköpft wird. Ich hatte Angst und dass sie mich und meine Mutter finden können.
R: Mit "finden können", meinen Sie das Versteck.
BF: Ja.
R: Was haben diese Männer gemacht, als sie im Haus waren?
BF: Sie haben meinen Vater und meinen Bruder mitgenommen.
R: Als Sie in diesem Versteck waren, können Sie mir die Gefühle währenddessen beschreiben, da Sie ja vorhin von Gefühlen geredet haben.
BF: Ich hatte Angst und fühlte mich wie ein bald geopfertes Schaf.
R: Was haben Sie gehört in dieser Zeit?
BF: Nicht viel. Ich habe gehört, dass die Taliban meinen Vater und meinen Bruder über uns - also mich und meine Mutter - Fragen gestellt haben. Auf Befragen, in welcher Sprache sie das taten: sie haben Dari gesprochen. Ihre Sprache war Paschto, aber sie haben Dari gesprochen.
Ich habe nur gehört, als mein Bruder und mein Vater sagten, dass sie nicht wissen wo wir sind. Das war es, was ich gehört habe, nur das habe ich gehört.
R: War das jetzt Ihr gesamter Fluchtgrund oder gibt es da noch etwas?
BF: Das war es.
R: Was haben Sie gehört, als die Taliban das Haus verlassen haben?
BF: Nichts gehört. Es ist ruhig geworden und meine Mutter hat mich aus dem Versteck rausgenommen.
R: Wieviele Personen waren es?
BF: Da ich das nicht gesehen habe, weiß ich es nicht genau. XXXX vielleicht in Begleitung von drei oder vier, aber genau weiß ich es nicht.
R: Haben Sie persönlich irgendeine dieser Personen gesehen?
BF: Nein.
R: Haben Sie persönlich irgendeine dieser Personen an der Stimme erkannt?
BF: Ja, den XXXX .
R: Wo wohnt dieser XXXX ?
BF: das Dorf hieß XXXX , in der Mitte des Dorfes leben wir, die Hazara. Ob und unten sind die Paschtunen und die Taliban. XXXX lebte oben im Dorf.
R: Haben Sie bei der Polizei angezeigt, dass diese Menschen in Ihrem Haus waren?
BF: Nein, Polizei gibt es in unserem Dorf nicht. Die sind immer im Bezirk oder im Distrikt. Als mich meine Mutter aus dem Versteck genommen hat, hat sie mich sofort dem Freund des Vaters, dem XXXX , übergeben und ich habe Afghanistan verlassen.
R: Haben Sie noch Kontakt zu XXXX ?
BF: Nein. Ich hatte damals kein Handy, keine Telefonnummer.
R: Was hat XXXX dafür verlangt, dass er Ihnen half?
BF: nein, ich glaube mein Vater und meine Mutter haben das schon im Vorhinein organisiert, dass ich ausreise, schon bevor das passiert ist. Aus dem Grunde, da ich schon vorher von XXXX bedroht wurde. Der XXXX hatte hierfür nichts verlangt. Die Fluchtkosten weiß ich nicht.
Fragen seitens der RV:
RV: Hat Ihnen der Bruder von seiner Tätigkeit bei der ANA erzählt?
BF: Nein. Er sagte, dass ich sehr klein bin. Als er mit meinem Vater geredet hat, habe ich mitgehört, dass er für die Amerikaner als Dolmetsch arbeitet und er begleite die Amerikaner bei Kampfhandlungen.
R: Sprechen Sie Englisch?
BF: Ganz wenig. Habe ich in der Schule gelernt, da war ich 5 Jahre lang.
RV: Nachdem Sie mit der Schule aufgehört haben, hat XXXX aufgehört, Sie zu behelligen oder nicht?
BF: Seine Bedrohungen gingen auch danach weiter. Immer wieder, als er mich im Dorf oder irgendwo gesehen hat, hat er mich bedroht.
R: Was hat er gesagt, ganz genau gesagt, als er Sie bedroht hat?
BF: Dass ich für sie kämpfen soll, mich der islamischen Gruppe anschließen soll und nicht so wie mein Bruder den Feinden des Islams dienen.
RV: wie oft ist das, nachdem die Schule aus, war, ungefähr passiert?
BF: genau weiß ich nicht, aber immer wieder, wenn er mich gesehen hat, hat er mich bedroht.
R: Können Sie das Aussehen von XXXX beschreiben?
BF: Sein Gesicht war vermummt, er hat immer einen Turban getragen, sein Bart war zu sein.
R: Wie konnten Sie wissen, dass er es ist, wenn das Gesicht vermummt war?
BF: Seine Stimme habe ich gehört.
Keine weiteren Fragen zum Fluchtgrund seitens der RV.
R: Also hat dieser XXXX mit ihnen nur gesprochen, ist das richtig? BF: Gesprochen und bedroht - er sagte, wenn ich ablehne, wird er mich umbringen.
R: Was haben Sie daraufhin gesagt?
BF: Aus Angst konnte ich nicht reden, nichts sagen. Ich wollte keine Waffe nehmen und mich denen nicht anschließen. Ich habe Gewalt immer gehasst.
R: Was ist momentan Ihre aktuelle Wohnadresse?
BF: XXXX
R: Hat XXXX einmal mit Ihrem Vater oder Ihrer Mutter über Sie gesprochen? BF: Das weiß ich nicht.
R: Versetzen Sie sich zurück in die Lage in Ihrem Versteck: Was haben Sie noch alles gehört?
BF: Dass was ich in Erinnerung gehabt habe, habe ich gesagt.
R: Haben Sie vielleicht im Versteck gehört, was der Bruder gesagt hat?
BF: Die Taliban haben den beiden die Frage gestellt wo wir sind und die beiden sagten, dass sie es nicht wissen.
R: Haben die Taliban auch nach Ihrer Mutter gefragt?
BF: Ja, wie ich bereits gesagt habe.
R: Warum ist Ihre Mutter dann nicht geflohen?
BF: Der Grund, warum sie nicht flüchtete, weiß ich genau nicht. Meiner Meinung nach war sie alt und illegal auszureisen war für sie sehr schwer. Mama war 38. In Afghanistan ist Krieg, die Leute sehen daher - weil die Situation schlecht ist - etwas älter aus.
R: Denken Sie bitte nach: Waren das alle Ihre Fluchtgründe, die Sie heute erzählt haben?
BF: Ja, das war es.
R: Haben Sie nun alle Ihre Fluchtgründe vorgebracht oder gibt es noch etwas von dem Sie sagen: Das war auch ein Grund, warum ich Afghanistan verlassen musste?
BF: Nein, ich habe alles gesagt.
R: Wurden Sie in Afghanistan aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit jemals bedroht oder verfolgt?
BF: Ich persönlich wurde deswegen nicht bedroht, aber da wir Hazara sind, hat XXXX zwangsweise einen Teil unserer Ernte unserer Felder uns weggenommen. Da unsere Anwesenheit dort für die Vorteile hat, zB wir arbeiten auf den Feldern und sie kassieren es gratis, bringen sie uns nicht um.
R: Wurden Sie in Afghanistan aufgrund Ihrer Religionszugehörigkeit jemals bedroht oder verfolgt?
BF: Direkt von Angesicht zu Angesicht nicht.
R: Weil Sie gesagt haben "direkt von Angesicht zu Angesicht nicht" frage ich nach, ob Sie sonst wie bedroht wurden:
BF: Ich persönlich nicht, aber viele andere wurden bedroht.
R: Waren Sie in Afghanistan einmal Mitglied einer Partei oder sonst politisch tätig?
BF: Nein.
R: Waren Sie in Afghanistan jemals in Haft?
BF: Nein.
R: Sind Sie in Afghanistan vorbestraft oder werden Sie mit einer staatlichen Fahndungsmaßnahme wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief gesucht?
BF: Nein.
R: Hatten Sie in Afghanistan jemals Probleme mit Behörden, der Polizei oder einem Gericht?
BF: Nein.
R: Nahmen Sie in Afghanistan an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil oder waren Sie im Syrienkrieg?
BF: Nein.
R: Wurden Sie in Afghanistan jemals von irgendjemandem bedroht oder verfolgt (Blutfehde, Racheakte oder dergleichen)?
BF: Nein.
R: Wurden Sie in Afghanistan jemals bedroht oder verfolgt, als Sie ein junger Mann, ein junger Bub waren?
BF: Ja. Deswegen wurde ich von XXXX , weil sie junge Männer brauchten wie ich es bin, die für sie kämpfen gehen.
R: Wem würden Sie in Afghanistan sagen: "Hallo, ich bin wieder da! Hier ist meine Adresse und meine Telefonnummer!"?
BF: Ich habe niemanden in Afghanistan mehr. Ich habe niemanden.
R: Haben Sie in Afghanistan auch gearbeitet?
BF: Gearbeitet nicht, aber dem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Ich kann in meiner Muttersprache schreiben.
R: Was befürchten Sie für Ihr Leben, wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren müssten?
BF: Die Taliban sind in ganz Afghanistan präsent, gut vernetzt und in Kontakt miteinander. Sie sind auf der Suche nach jungen Männern wie mich, damit die für sie kämpfen sollen. ich habe Angst, dass sie mich finden und erkennen können, dass ich diese Person bin, die geflüchtet ist. Die Hazara sind in mehreren Provinzen bedroht und werden umgebracht, deswegen habe ich auch Angst, weil wir die Minderheit sind. Ich bin in Behandlung, in Therapie, solche Möglichkeiten habe ich in Afghanistan nicht.
R: Waren Sie schon einmal in Mazar-e Sharif oder Herat?
BF: Nein. In anderen Provinzen als in Parwan kenne ich niemanden, habe dort niemanden."
5. In der Stellungnahme vom 4.12.2019 verwies die Rechtsvertretung des BF im Wesentlichen auf Passagen des aktuellen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 13.11.2019, sowie auf weitere Länderberichte, wonach sich die Sicherheitslage seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen den USA und den Taliban im September 2019 massiv verschlechtert habe. Des Weiteren führte sie zu einer nicht vorhandenen innerstaatlichen Fluchtalternative, zu den individuellen Gefährdungsmomenten des BF und zu seinem Privat- und Familienleben und Integration in Österreich aus.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und als Geburtsdatum den XXXX . Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er bekennt sich zum schiitischen Islam. Seine Muttersprache ist Dari. Des Weiteren spricht er ein wenig Paschtu, Englisch und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
1.1.2. Der BF wurde in der Provinz Parwan, im Distrikt Shaykh Ali, im Dorf XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder auf. Der Beschwerdeführer erlangte in Afghanistan Schulbildung, wobei dessen Ausmaß nicht festgestellt werden kann. Er erlernte keinen Beruf, half jedoch seinem Vater bis zu seiner Ausreise im Jahr 2016 in der Landwirtschaft.
1.1.3. Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
1.1.4. Der BF ist nicht lebensbedrohlich erkrankt.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF den Herkunftsstaat Afghanistan aus asylrechtlich relevanten Gründen verlassen hat.
1.2.2. Weder wurde er in Afghanistan jemals von den Behörden, einem Gericht oder der Polizei gesucht, noch aufgrund des Religionsbekenntnisse oder aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt oder bedroht. Er war nie politisch tätig und in Afghanistan auch nie in Haft. Der BF hat in Afghanistan auch nicht an gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen, ist dort nicht vorbestraft und wird auch nicht mit Haftbefehl gesucht.
1.2.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt war bzw. ihm eine solche Verfolgung im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht.
1.2.4. Dem BF würde bei Rückkehr in den Herkunftsstaat möglicherweise ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit drohen, weshalb ihm seitens der belangten Behörde mit Spruchpunkten II. und III. des oben näher bezeichneten Bescheids, dessen Spruchpunkt I. gegenständlich bekämpft wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.
1.2.5. Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF aus Gründen seiner Volksgruppe und / oder seines Glaubens verfolgt wird und in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist. Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF als Angehöriger der Hazara sowie als Angehöriger der sunnitischen Glaubensgemeinschaft bzw dass jeder Mensch des Volksstammes und / oder der Religionsgemeinschaft des BF in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
1.2.6. Es kann weder festgestellt werden, dass konkret der BF aufgrund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat, noch, dass jeder afghanische Staatsangehörige, welcher aus einem Nachbarland Afghanistans und / oder aus Europa nach Afghanistan zurückgekehrt, in Afghanistan psychischer und / oder physischer Gewalt ausgesetzt ist. Dem BF droht bei Rückkehr nicht eine Verfolgung aufgrund der Rückkehr aus dem westlichen Ausland.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
1.3.1. Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 5.8.2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 5.8.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
1.3.2. Der Beschwerdeführer verfügt über Deutschkenntnisse auf Niveau A2 Deutschkenntnisse. Eine Integrationsprüfung legte er bisher nicht ab.
1.3.3. Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung. Und besuchte im Schuljahr 2017/18 die Vierte Klasse (8. Schulstufe) der Neuen Mittelschule im XXXX . Bezirk in Wien. Im Schuljahr 2018/19 besuchte er die Höhere Technische Bundeslehranstalt im XXXX . Bezirk in Wien.
1.3.4. Im Jänner 2018 absolvierte der Beschwerdeführer ein Praktikum in der Ordination eines Allgemeinmediziners. Im Zeitraum von 9.4. bis 13.4.2018 war der Beschwerdeführer als Praktikant in der EDV Abteilung der Firma XXXX & Partner tätig.
1.3.5. Er nimmt seit Sommer 2016 regelmäßig am Programm und an speziellen Projekten und Aktionen des Jugendvereins " XXXX " teil. Der Beschwerdeführer konnte in Österreich Freundschaften knüpfen, er verfügt jedoch weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich.
1.3.6. Der BF wird von seinem ehemaligen Klassenvorstand in der Neuen Mittelschule, seiner ehemaligen Englischlehrerin, seinem Praktikumsgeber (Arzt für Allgemeinmedizin), dem Verein " XXXX ", einem Mitschüler (Klassensprecher der NMS), seiner sozialpädagogischen Betreuerin und Vertrauensperson als respektvoll, höflich, zuverlässig, selbständig, selbstbewusst, hilfsbereit, gut integriert, aufgeschlossen, gewissenhaft, gründlich, motiviert, ehrgeizig und beliebt beschrieben.
1.3.7. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
1.4.1. Dem Beschwerdeführer wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seine sichere Herkunftsprovinz Parwan kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers ist sicher erreichbar.
1.4.2. Ob die Mutter des BF noch in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers aufhältig ist, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer hat seit seiner Ausreise aus Afghanistan keinen Kontakt mehr zu ihr.
1.4.3. Wo sich sein Vater und sein Bruder aufhalten, kann ebenfalls nicht festgestellt werden.
1.4.4. Die Familie seines Onkels väterlicherseits lebt noch im Dorf des Beschwerdeführers. Sein Onkel ist im Jahr 2015 an einem natürlichen Tod verstorben.
1.4.5. Der BF verfügt über keine anderen Verwandten mehr in Afghanistan.
1.4.6. Der BF kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
1.4.7. Der BF hat sich noch nie in Herat oder Mazar-e Sharif aufgehalten und verfügt demnach über keine Ortskenntnisse in diesen Städten.
1.4.8. Der BF ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.
1.4.9. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan kann sich der Beschwerdeführer alternativ in den Städten Herat und Mazar-e Sharif ansiedeln und grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten.
1.4.10. Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4.11. Der BF kann Mazar-e Sharif von Österreich aus gefahrlos über den Luftweg erreichen (Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif).
1.4.12. Der BF kann Herat von Österreich aus gefahrlos über den Luftweg erreichen (Internationaler Flughafen Herat).
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).
Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018
Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):
Taliban
Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).
Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab. (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).
Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. UNAMA verzeichnete für das Jahr 2018 insgesamt 99 zivile Opfer durch Bodenkämpfe in der Provinz (UNAMA 24.2.2019). Hinsichtlich der nördlichen Region, zu denen UNAMA auch die Provinz Balkh zählt, konnte in den ersten 6 Monaten ein allgemeiner Anstieg ziviler Opfer verzeichnet werden (UNAMA 30.7.2019).
Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.9.2019; vgl KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.
Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019).
IDPs - Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 1.218 aus der Provinz Balkh vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst in den Distrikten Nahri Shahi und Kishindeh Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 4.361 konfliktbedingt Vertriebene aus Balkh, die allesamt in der Provinz selbst verblieben (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 15.313 Vertriebene in die Provinz Balkh, darunter 1.218 aus der Provinz selbst, 10.749 aus Faryab und 1.610 aus Sar-e-Pul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 14.301 Vertriebene nach Mazar-e-Sharif und Nahri Shahi, die aus der Provinz Faryab, sowie aus Balkh, Jawzjan, Samangan und Sar-e-Pul stammten (UNOCHA 18.8.2019).
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere "temporäre" Distrikte - Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) -, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als "sehr sicher" gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).