Entscheidungsdatum
18.05.2020Norm
BBG §40Spruch
W207 2227757-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Vorsitzender und die Richterin Mag. Natascha GRUBER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch NEMETSCHKE HUBER KOLOSEUS Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 02.12.2019, OB: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3, 2. Satz Verwaltungsgerichtverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer stellte bereits am 27.04.2017 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, der mit Bescheid des Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet) vom 08.09.2017 rechtskräftig abgewiesen wurde. Dies erfolgte unter Zugrundelegung eines Sachverständigengutachtens eines Facharztes für Orthopädie vom 07.09.29017, in dem die Funktionsbeeinträchtigung 1. "Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenoperation an der Lendenwirbelsäule; Unterer Rahmensatz dieser Position, da mäßige Beweglichkeitseinschränkung, aber ohne sensomotorisches Defizit", bewertet mit einem (Einzel)Grad der Behinderung von 30 v.H. nach der Positionsnummer 02.01.02 der Anlage zur Einschätzungsverordnung festgestellt wurde. Der Gesamtgrad der Behinderung wurde daher mit 30 v.H. festgestellt.
Am 01.03.2019 stellte der Beschwerdeführer beim Sozialministeriumservice neuerlich einen - den nunmehr gegenständlichen - Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, dem er ein umfassendes Konvolut an medizinischen Unterlagen beilegte.
Die belangte Behörde holte in der Folge ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 20.05.2019 sowie auf Grund weiterer vorgelegte medizinischer Unterlagen und erfolgter Stellungnahmen durch den nunmehr anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer weitere Sachverständigengutachten von Fachärzten für Neurologie vom 17.07.2019 (dieses ergab einen GdB von 40 v.H.) sowie vom 04.11.2019, jeweils basierend auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers, ein. Letzteres neurologisches Sachverständigengutachten vom 04.11.2019 sei hier - in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form - wiedergegeben:
"Anamnese:
Neuerliche Begutachtung im Rahmen des Parteiengehörs. In einem Schreiben vom 8.8.2019 wird angegeben (AW wird durch RA Dr. Reit-Breitwieser vertreten): "...Zwar geht der neurologische SV von einer 20 %-igen MdE aufgrund der Depressio aus, kommt jedoch bei der Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung auf nur 40 %, obwohl das Leiden 2 (Depression) in der Begründung als relevantes ungünstiges Zusammenwirken in Bezug auf Leiden 1 angesehen wird. Dies ist unzutreffend, weil einerseits auf die Schmerzsymptomatik (Mixed Pain Sydrom) gar nicht eingegangen wurde und unberücksichtigt blieb, andererseits es erweislich ist, dass ein Bandscheibenleiden keinen Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung hat. Daher sind die beiden Leiden prozentmäßig zu addieren, eine Kürzung um 10 % ist unstatthaft. Bei richtiger Einschätzung hat daher der Gesamtgrad der Behinderung auf 50% zu lauten, sodass der Behindertenpass sehr wohl auszustellen ist
Letztbegutachtung 07/2019 mit Zuerkennung eines GdB 40 v.H. für Diagnosen: Bandscheibenschaden zervikal und lumbal 30%, Depressio 20%.
Es wird ein neuer Befund vorgelegt (s.u.)
Derzeitige Beschwerden:
Der Antragsteller gibt an: "Ich habe Ohrenprobleme und Schmerzen an der Wirbelsäule. Meine Beine werden immer eiskalt. Beim Gehen und Sitzen habe ich auch Probleme, ich habe immer Schmerzen. Ich habe auch Bluthochdruck und bin schwindelig. Ich trage einen Gürtel wegen der Schmerzen. Ich habe auch ein Schmerzpflaster. Ich mache derzeit eine Physiotherapie. Ich bin bei einem Orthopäden in Behandlung, zuletzt vor ca. 2 Monaten. Dort bekomme ich Spritzen in die Schultern und in den Rücken. Wegen meinen Depressionen war ich 1x an der psychiatr. Abt. im AKH, dort hatte ich ein Gespräch, aber es wurde gar nichts gemacht. Derzeit bin ich in Krankenstand."
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Dominal, Inderal, Mirtabene, Novalgin, Pantoprazol, Pregabalin, Quetialan, Temesta, Trittico, Duloxetin, Amlobidene, Ramipril, Astec Pfl. laufende Physiotherapie
Sozialanamnese:
verheiratet, 5 Kinder, Dachdecker, derzeit Krankenstand
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
mitgebrachter Befund:
Dr. S./FA für Neurologie 10/2019: Diagnose: Somatisierungsstörung, Depressio, Z.n. OP LWS, Protrusionen HWS
bereits vorgelegte Befunde:
Dr. S./FA für Neurologie 04/2019: Diagnose: rezidiv. depressive Episoden, aktuell leichtgradig, chron. Schmerzsyndrom, Lumbago, CWS, Dorsalgie, cervikogener KS, Cave Polypharmazie!, Low dose Benzodiazepingewöhnung !, Angst und Panikstrg., Somatoforme Strg., Lumbago (Ischialgie) chron.
Dr. M./FA für Orthopädie 11/2016: Diagnose: CVS, Neuroforamenstenose C6/C7 li., Osteochondrose und Spondylose C6/C7, Bandscheibenprotrusionen C4-C7, PHS bds., Z. n. Humeruskopffraktur li., Dorsalgien, Lumbalgien, Z.n. Bandscheibenoperation L5/S1 96, Osteochondrose und Spondylose L4-S1, breitbasige Bandscheibenprotrusion L5/S1 mit Anhebung der Nervenwurzel beidseits, breitbasige Bandscheibenprotrusion L4/L5 linksbetont mit Anhebung der Nervenwurzel links, Streckfehlhaltung der LWS, ger. med. Gonarthose und Femuropatellararthrose bds.
Moorheilbad X 11/2018: DIAGNOSEN: LWS-Syndrom - Lumboischialgie re., Omalgie bds., HWS-Syndrom, Gonalgie li.
KA X/Schmerzambulanz 03/2019: Diagnose: Lumboischialgie re., chron. Mixed Pain Syndrom in LWS u. HWS
Dr. H./Innere Med. 04/2019: Anamnese: punktuelle Schmerzen unter der Brust, 1- 2x/Monat, wie Brennen, bek. Diskopathie und Dorsalgie, Nik:20/d. EKG: Ruhe-EKG: SR, NT, 67/min, St-T unauff, Ruhe-EKG: SR, NT, 53/min, ST-T unauff, Carotisdublex:
Bds. finden sich im Carotissystem unauff. Verhältnisse, insbes. sind keine Plaques oder Stenosen nachzuweisen, lediglich re>li INM Wandverdickung bis 0,16. Spirometrie: Restriktiv. Diagnose: Thorakodynie
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
56-jähriger Antragsteller in gutem AZ, kommt alleine ohne Hilfsmittel zur Untersuchung.
Ernährungszustand: gut, BMI: 27,55
Größe: 165,00 cm Gewicht: 75,00 kg Blutdruck:
Klinischer Status - Fachstatus:
Caput: HNAP frei, kein Meningismus, HWS unter Angabe von Schmerzen bewegungseingeschränkt, Sprache unauffällig
Himnerven: Pupillen rund, isocor bds., Lichtreaktion prompt und konsensuell, Lidspalten gleich weit, Bulbusmotilität in allen Ebenen frei und koordiniert, kein pathologischer Nystagmus, keine Doppelbilder, HN VII seitengleich innerviert, basale HN frei.
OE: Trophik, Tonus und grobe Kraft stgl. unauffällig. VA: kein Absinken, Feinmotilität nicht beeinträchtigt, BSR, TSR, RPR seitengleich auslösbar, Knips bds. negativ, Eudiadochokinese bds., FNV bds. zielsicher, keine unwillkürlichen Bewegungen.
UE: Trophik, Tonus und grobe Kraft stgl. unauffällig. PV: kein Absinken, PSR und ASR seitengleich auslösbar, Babinski bds. negativ, KHV bds. zielsicher, keine unwillkürlichen Bewegungen.
Sensibilität: wird allseits intakt angegeben, Dysästhesien im LWS -Bereich Gesamtmobilität - Gangbild:
Gangbild unter Angabe von Schmerzen verlangsamt demonstriert, Zehen-und Fersengang unter Schmerzangabe nicht adäquat vorgeführt
Status Psychicus:
wach, zur Person, örtlich, zeitlich orientiert, Konzentration, Aufmerksamkeit unauffällig, Mnestik altersentsprechend unauffällig, Antrieb unauffällig, Stimmung indifferent, inhaltliche Fokussierung auf somatische Beschwerden (Schmerzen), Somatisierungsstörung, Affizierbarkeit in beiden Skalenbereichen gegeben, Ductus kohärent und zielführend, keine produktive Symptomatik
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos.Nr.
Gdb %
1
deg. Wirbelsäulenveränderungen zervikal und lumbal Unterer Rahmensatz, da rez. Schmerzsymptomatik ohne radikuläres Defizit.
02.01.02
30
2
Somatisierungsstörung, Depressio 1 Stufe über unterem Rahmensatz, da fachärztliche Behandlungen erforderlich. Therapieoptionen unausgeschöpft.
03.05.01
20
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Gesamtgrad der Behinderung 30 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Leiden 2 erhöht den GdB nicht, da teilweise Leidensüberschneidung.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
--
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Gleichbleiben von Leiden 1 und 2. Im VGl. zum VGA erhöht Leiden 2 den GdB nicht. Bei Herrn D. liegt eine im Vordergrund stehende Somatisierungsstörung vor; in 2. Linie besteht eine depressive Verstimmung, die als leichtgradig zu bezeichnen ist. Ein stationärer Aufenthalt ist nicht dokumentiert. Hinsichtlich des psychiatrischen Leidens sind aus fachärztlicher Sicht Therapieoptionen (insbesonders Psychotherapie zur Aufarbeitung zugrundeliegender psychischer Faktoren etc.) unausgeschöpft, wobei mit einer mittel- bis langfristigen Verbesserung des psychopathologischen Zustandsbildes zu rechnen wäre.
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
der GdB verringert sich um 1 Stufe.
....."
Mit Schreiben der belangten Behörde vom 04.11.2019 wurde der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertretung über das Ergebnis der Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und ihm das eingeholte medizinische Sachverständigengutachten vom 04.11.2019 übermittelt. Der Beschwerdeführerin wurde in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben. Der Beschwerdeführer gab keine Stellungnahme ab.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 02.12.2019, (ohne Zustellnachweis) versendet am 04.12.2020, wies die belangte den Antrag des Beschwerdeführers vom 01.03.2019 auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab und führte begründend aus, dass das medizinische Beweisverfahren einen Grad der Behinderung von 30 v.H. ergeben habe und somit die Voraussetzungen zur Ausstellung eines Behindertenpasses nicht gegeben seien. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien dem eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten vom 04.11.2019, das einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Anwaltsschriftsatz vom 17.01.2020, per E-Mail eingelangt bei der belangten Behörde am 20.01.2020, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er in inhaltlicher Hinsicht Folgendes - hier in den wesentlichen Teilen und in anonymisierter Form wiedergegeben - ausführte:
"...
Der Bescheid vom 02.12.2019 wird seinem gesamten Inhalt und Umfang nach angefochten.
Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, weshalb die ermittelten Grade der Einzelleiden der Behinderung von schon im Vorverfahren mit 40 % zu gering festgesetzt auf nunmehr lediglich 30 % Gesamtgrad Behinderung reduziert sein sollten.
Der die Untersuchung durchführende Arzt bleibt diesbezüglich eine tragfähige Erklärung schuldig.
Vollkommen außer Betracht bleibt auch zu Unrecht der Umstand, dass der Beschwerdeführer fast taub ist und daher im Alltag, geschweige denn in einem allfälligen Berufsalltag, extrem eingeschränkt ist, In dem zu 3 Cgs 144/19s vor dem ASG Wien anhängigen Verfahren wegen Invaliditätspension hat ein Gutachten aus dem Hals-Nasen-Ohren-Bereich ergeben, dass der Beschwerdeführer an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit auf beiden Ohren leidet. Der Grad der Invalidität wurde vom Gerichtssachverständigen mit 70 % angegeben.
Beweis: beiliegendes Gutachten des SV Univ.Prof.Dr. A. vom 11.12.2019;
Diese wesentliche Gesundheitsbeeinträchtigung ist im bisherigen Verfahren bzw bei den bisherigen Begutachtungen völlig außer Betracht geblieben, wodurch das erstinstanzliche Verfahren mit Mangelhaftigkeit behaftet ist
Auch die vorgenommenen Untersuchungen im orthopädischen Bereich sind unvollständig geblieben, da darin die Bandscheibenoperationen des Beschwerdeführers zu Unrecht völlig außer Betracht bleiben.
Den einzelnen festgestellten Leiden wird im angefochtenen Bescheid nicht das tatsächliche Ausmaß der Beeinträchtigung bzw Behinderung für den Beschwerdeführer zuerkannt bzw fehlen wesentliche Leiden vollständig.
Es wird daher ausdrücklich
beantragt
gerichtlich beeidete Sachverständige aus den medizinischen Fachgebieten der Hals-Nasen-Ohrenkunde, sowie der Orthopädie beizuziehen und mit der medizinischen Befundung des Beschwerdeführers zu beauftragen.
Nicht nachvollziehbar ist ferner, warum bei der medizinischen Begutachtung des Beschwerdeführers lediglich ein Facharzt beigezogen wurde (Neurologie) und die massiven Beschwerden insbesondere an der Wirbelsäule und des Bewegungsapparates sowie die oben dargestellte extreme Schwerhörigkeit gar nicht untersucht bzw befundet wurden. Es handelt sich bei den Leiden Laufnummer 1 und dem völlig unberücksichtigt gebliebenen Gehörproblem um völlig voneinander unabhängige Diagnosestellungen, die von jeweiligen Fachärzten zu befunden und in der Folge entsprechend zu berücksichtigen sind.
Zusammengefasst ist daher der angefochtene Bescheid erster Instanz daher unvollständig und mangelhaft begründet und daher insgesamt mit einem Verfahrensmangel behaftet.
......."
Der Beschwerde ist das erwähnte Hals- Nasen- Ohrenfachärztliche Gutachten vom 15.11.2019 in Kopie beigelegt.
Die belangte Behörde legte in der Folge die bei ihr am 20.01.2020 eingelangten Beschwerde samt Verwaltungsakt am 22.01.2020 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor; von der ihr eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG iVm § 46 BBG - die Frist für die Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt 12 Wochen - machte sie keinen Gebrauch. Auf der Beschwerdevorlage findet sich die Bemerkung: "Eine Beschwerdevorentscheidung kann nicht mehr durchgeführt werden."
Ein Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Hals- Nasen und Ohrenheilkunde wurde von der belangten Behörde in Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachte an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits daher nicht eingeholt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu Spruchteil A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:
"§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
...
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.
.....
§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.
...
§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.
(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.
(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.
(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.
§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.
..."
Der Bescheid der belangten Behörde vom 02.12.2019, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen und festgestellt wurde, dass der Grad der Behinderung 30 v.H. beträgt, erweist sich in Bezug auf ein ordnungsgemäß durchgeführtes Ermittlungsverfahren als mangelhaft, und zwar aus folgenden Gründen:
In der Beschwerde wird ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer behauptete an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits von den beigezogenen orthopädischen bzw. nervenfachärztlichen Sachverständigen und in der Folge von der belangten Behörde nicht berücksichtigt worden sei. Damit ist der Beschwerdeführer im Recht, zumal die der Beschwerde beigelegte Kopie eines für das Arbeits- und Sozialgericht erstellten Hals- Nasen- Ohrenfachärztlichen Gutachtens vom 15.11.2019 das tatsächliche Vorliegen einer solchen Funktionseinschränkung keineswegs ausgeschlossen erscheinen lässt. Nun ist zwar einzuräumen, dass der Beschwerdeführer dieses Gutachten erst im Rahmen der Beschwerde erstmals vorlegte, jedoch wies er auf seine Ohrenprobleme ausdrücklich bereits im Rahmen des Verfahrens vor der belangten Behörde hin, und zwar bei seiner persönlichen Untersuchung am 04.11.2019 für die Erstellung des nervenfachärztlichen Sachverständigengutachtens vom 04.11.2019 ("Derzeitige Beschwerden: Der Antragsteller gibt an: "Ich habe Ohrenprobleme und Schmerzen an der Wirbelsäule. ..."), was jedoch in der Folge unberücksichtigt blieb.
Im Verfahren vor der belangten Behörde wurden zwar Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 20.05.2019 sowie weitere Sachverständigengutachten von Fachärzten für Neurologie vom 17.07.2019 sowie vom 04.11.2019 eingeholt, die zwar grundsätzlich geeignet sind, die bisher eingestuften Leiden zu beurteilen, was aber nicht für die vorgebrachte beidseitige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit gilt. Bei tatsächlichem Vorliegen einer solchen Funktionseinschränkung könnte aber gerade diese maßgebliche und entscheidungserhebliche Auswirkung auf den Gesamtgrad der Behinderung und damit auf das Verfahrensergebnis haben.
Die nun im Rahmen der Beschwerde vorgebrachten Argumente und Leidenszustände, die in den bisher eingeholten Sachverständigengutachten und in der Folge im angefochtenen Bescheid nicht berücksichtigt wurden, hätten von der belangten Behörde spätestens im Rahmen der Möglichkeit zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung berücksichtigt werden können. Die belangte Behörde machte aber von der ihr gemäß § 14 VwGVG iVm § 46 BBG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung keinen Gebrauch, sondern legte die bei ihr am 20.01.2020 eingelangten Beschwerde bereits am 22.01.2020 - obwohl die Frist für die Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung 12 Wochen beträgt - versehen mit dem Vermerk "Eine Beschwerdevorentscheidung kann nicht mehr durchgeführt werden." dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
Die belangte Behörde hat daher bei der Einschätzung des Grades der Behinderung keine adäquaten Sachverhaltsermittlungen in Form der Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Hals- Nasen und Ohrenheilkunde gepflogen. Die bisherigen von der belangten Behörde eingeholten orthopädischen und neurologischen Sachverständigengutachten werden im gegebenen Zusammenhang den Anforderungen an die Schlüssigkeit und insbesondere an die Vollständigkeit eines Sachverständigengutachtens daher nicht gerecht und sind daher im gegebenen Zusammenhang nicht geeignet, zur ausreichenden Sachverhaltsklärung beizutragen und sind insofern in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig. Im gegenständlichen Fall ist daher davon auszugehen, dass die belangte Behörde im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes den wesentlichen Sachverhalt nur ansatzweise ermittelt hat bzw. die Ermittlung des Sachverhaltes in einer entscheidungswesentlichen Frage an das Verwaltungsgericht delegiert hat. Der Sachverhalt ist daher im gegebenen Zusammenhang nicht ausreichend ermittelt, um zur rechtsrichtigen rechtlichen Beurteilung beizutragen.
Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene erhöhte Aufwand.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des Beschwerdeführers noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid der belangten Behörde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice zurückzuverweisen.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im verwaltungsbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt in Anbetracht des oben zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz keine grundsätzliche Rechtsfrage vor.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W207.2227757.1.00Im RIS seit
06.08.2020Zuletzt aktualisiert am
06.08.2020