TE Vwgh Erkenntnis 1998/1/21 95/09/0177

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Veröffentlicht am 21.01.1998
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
67 Versorgungsrecht;

Norm

AVG §37;
AVG §52;
KOVG 1957 §7 Abs1;
KOVG 1957 §8;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Fuchs, Dr. Blaschek und Dr. Rosenmayr als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Loibl, über die Beschwerde der Thekla S in H, vertreten durch Dr. Walter Kainz, Rechtsanwalt in Wien IV, Gusshausstraße 23, gegen den Bescheid der Schiedskommission beim Bundessozialamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland vom 1. März 1995, Zl. OB. 116-169792-006, betreffend Beschädigtenrente nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz 1957, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Wegen im Jahr 1945 erlittener Kriegsverletzungen bezieht die Beschwerdeführerin eine Rente nach dem Kriegsopferversorungsgesetz 1957 (KOVG).

Um die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gemäß § 8 KOVG (berufskundliche Einschätzung) geht der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bestehende Streit. Strittig ist, ob der berufskundlichen Einschätzung das Berufsbild einer Büroangestellten oder einer Hausfrau zugrunde zu legen ist.

Nachdem bisher, ausgehend von einer berufskundlichen Beurteilung vom 26. September 1974, der Berufseinschätzung das Berufsbild einer Büroangestellten (für einfachere Arbeiten) zugrunde gelegt worden war, erfolgte erstmals im Rahmen der Rentenbemessung mit (Berufungs)Bescheid der Schiedskommission beim Landesinvalidenamt vom 22. August 1988 (wegen einer im Bereich des § 7 KOVG eingetretenen Änderung war eine Überprüfung der Einschätzung der MdE nach § 8 KOVG notwendig geworden) die berufskundliche Einschätzung anhand des Berufsbildes einer Hausfrau.

Die berufskundliche Einschätzung im Bescheid vom 22. August 1988 stützte sich auf eine im damaligen Ermittlungsverfahren (amtsintern) erstattete "Berufskundliche Begutachtung" vom 7. Juni 1988. Warum bei der berufskundlichen Einschätzung das Berufsbild einer Hausfrau zur Anwendung kam, wurde im Bescheid vom 22. August 1988 (beruhend auf der erwähnten Begutachtung) folgendermaßen begründet:

"Die Beschädigte besuchte Volks- sowie Hauptschule und arbeitete während des Krieges als Kanzleikraft in einem Gemeindeamt. Zum schädigenden Ereignis kam es am 18. April 1945 anläßlich eines Bombenangriffes feindlicher Flugzeuge. Ab Juni 1948 war sie im Kanzleidienst des Bezirksgerichtes Haugsdorf tätig. Im Juli 1951 verehelichte sie sich mit einem Schwerkriegsbeschädigten und schied im Feber 1956 (nach Geburt eines Mädchens im November 1955) aus dem Justizdienst aus. Es ist anzunehmen, daß sie in den folgenden Jahren als Hausfrau und Mutter ausgelastet war. Vom 1. Jänner 1963 bis 31. Jänner 1966 arbeitete sie wieder als Kanzleikraft in einem Gemeindeamt und ist seitdem ausschließlich im eigenen Haushalt als Hausfrau tätig.

Es kann angenommen werden, daß die Berufungswerberin als Gattin eines Schwerbeschädigten und Mutter eines Kindes, das u.a. erfolgreich eine Höhere Lehranstalt besucht hat, nicht in der Lage gewesen ist, neben dem Haushalt noch beruflich tätig zu sein; dieses Unvermögen muß zum größeren Teil den Folgen des schädigenden Ereignisses angelastet werden. Es wäre auch verfehlt, im vorliegenden Falle der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folgend, davon auszugehen, daß die Beschädigte als Angestellte bei einem Gemeindeamt oder beim Bezirksgericht die günstigste Stellung im Berufsleben erreicht hat. Den einer Berufsausübung gleichzusetzenden Tätigkeiten einer Hausfrau und Mutter kann aus sozialen, moralischen und anderen Gründen nicht eine geringere Wertstellung eingeräumt werden, als z.B. dem in Frage kommenden Beruf einer Angestellten im öffentlichen Dienst. Jedoch kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur berufskundlichen Wertung gemäß § 8 KOVG jeweils nur eine Erwerbstätigkeit herangezogen werden.

Diesen Erwägungen folgend sowie im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (insbesondere Erkenntnis vom 10. April 1957, Slg. Nr. 1332/A) und unter Berücksichtigung der Berufsgeschichte, ist der Beruf der Hausfrau, der eine Erwerbstätigkeit im weiteren Sinne dargestellt, als billigerweise sozial zumutbar zu erachten und dieser berufskundlichen Beurteilung zugrunde zu legen."

Nach einer näheren Darstellung des Berufsbildes einer Hausfrau und der daraus abgeleiteten Berufseinschätzung ergab sich im Bescheid vom 22. August 1988, daß nach § 8 KOVG die MdE höher anzusetzen sei als die richtsatzmäßig (§ 7 KOVG) ermittelte MdE in Höhe von (damals) 60 v.H. Unter Bedachtnahme auf die Bestimmung des § 8 KOVG wurde der Bemessung der Beschädigtengrundrente insgesamt eine MdE von 70 v.H. zugrunde gelegt.

Ein wegen Leidensverschlechterung eingebrachter Verschlimmerungsantrag vom 20. Oktober 1993 wurde von der Behörde erster Instanz mit Bescheid vom 7. April 1994 als unbegründet abgewiesen.

Im Berufungsverfahren ergab sich nach Maßgabe einer medizinischen Begutachtung eine Höhereinschätzung der MdE nach § 7 KOVG (70 v.H. gegenüber bisher 60 v.H.). Diese Befundänderung führte zu einer Überprüfung der berufskundlichen Einschätzung. Die aktenkundige "berufskundliche Beurteilung" vom 9. Jänner 1995 stellte zur "Berufsgeschichte und Berufszumutbarkeit" folgendes fest:

"Die Beschädigte besuchte Volks- sowie Hauptschule und arbeitete während des Krieges als Kanzleikraft in einem Gemeindeamt. Kurse für Maschinschreiben und Kurzschrift wurden besucht. Zum schädigenden Ereignis kam es am 18. April 1945 anläßlich eines Bombenangriffes feindlicher Flugzeuge. Vom Juni 1948 bis Februar 1956 war sie im Kanzleidienst des Bezirksgerichtes Haugsdorf tätig und vom 1. Jänner 1963 bis 31. Jänner 1966 arbeitete sie wieder als Kanzleikraft in einem Gemeindeamt.

Seit 1. Juni 1984 (60. Lebensjahr) bezieht sie von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten eine Alterspension. In den dazwischen liegenden Zeiten (März 1956 bis Dezember 1962 und Jänner 1967 bis Mai 1984) war sie aus privaten Gründen - Verehelichung und Kindererziehung - im eigenen Haushalt tätig und hatte sich also von ihrem Beruf nicht aus Gründen der Dienstbeschädigung entfernt.

Die von der Beschädigten zuletzt, nicht nur vorübergehend, sondern geraume Zeit ausgeübte Erwerbstätigkeit einer Büroangestellten, einer Tätigkeit also, die auch dem Vorkriegsberuf entspricht, ist als sozial zumutbar anzusehen und im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (insb. Erk. vom 25. November 1955, Zl. 2657/54), unabhängig von den persönlichen Verhältnissen (Alter, Krankheit, berufliche Untätigkeit etc.) rein fiktiv der berufskundlichen Beurteilung zugrunde zu legen."

Ausgehend von dem Berufsbild einer Büroangestellten folgerte die berufskundliche Beurteilung vom 9. Jänner 1995, daß "berufliche Sonderverhältnisse" für die Annahme einer MdE nach § 8 KOVG nicht anzunehmen seien.

In einer schriftlichen Stellungnahme vom 18. Jänner 1995 machte die Beschwerdeführerin zur berufskundlichen Beurteilung geltend, daß sie diese entschieden zurückweisen müsse. Es sei die Tätigkeit der Hausfrau der Beurteilung zugrunde zu legen, wie dies bereits im Vorverfahren geschehen sei. Auch habe die berufskundliche Beurteilung durch einen Sachverständigen zu erfolgen. Die nunmehr vorgenommene Beurteilung sei von "einem Laien" geschehen, der das falsche Berufsbild herangezogen habe. Es werde "eine berufskundliche Beurteilung als Hausfrau gefordert, wie es zuletzt durch den berufskundlichen Sachverständigen erfolgt ist".

Im angefochtenen Bescheid (in dem die Gesamteinschätzung der MdE wegen der Erhöhung der Einschätzung nach § 7 KOVG mit einem Prozentsatz von 70 v.H. gegenüber dem Vorbescheid vom 22. August 1988 unverändert blieb) wurde die berufskundliche Beurteilung vom 9. Jänner 1995 wörtlich wiedergegeben. Daran im Anschluß traf die belangte Behörde die Aussage, zu den Einwendungen vom 18. Jänner 1995 sei festzustellen, "daß die Berufszumutbarkeit in der berufskundlichen Beurteilung schlüssig dargestellt wurde. Die BW war jahrelang als Kanzleikraft beschäftigt".

In der Beschwerde werden Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in der Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 7 Abs. 1 KOVG hat der Beschädigte Anspruch auf Beschädigtenrente, wenn und insolange seine Erwerbsfähigkeit infolge der Dienstbeschädigung um mindestens 25 v.H. vermindert ist. Unter MdE im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die durch Dienstbeschädigung bewirkte körperliche Beeinträchtigung in Hinsicht auf das allgemeine Erwerbsleben zu verstehen.

Gemäß § 8 KOVG ist bei Feststellung des Grades der MdE auch zu prüfen, ob sie bei Berücksichtigung der Tauglichkeit des Beschädigten zu einer Erwerbstätigkeit, die ihm nach seinen früheren Beruf oder nach seiner Fortbildung billigerweise zugemutet werden kann, höher als nach § 7 einzuschätzen ist. In diesen Fällen ist die MdE unter Bedachtnahme auf die Erfahrungen auf dem Gebiete der Berufskunde einzuschätzen; Verdienstverhältnisse haben dabei außer Betracht zu bleiben.

Wenn die Behörde - wie im Beschwerdefall - im Hinblick auf eine seit der letzten rechtskräftigen Rentenbemessung eingetretene Befundänderung im Bereich des § 7 KOVG auch ein neuerliches Einschätzungsverfahren gemäß § 8 KOVG durchzuführen hat (vgl. beispielsweise die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 9. April 1970, 1507/69, und vom 23. Februar 1994, 90/09/0095), ist es ihr nicht verwehrt, der berufskundlichen Einschätzung einen anderen Beruf zugrunde zu legen, als dies bei der letzten berufskundlichen Einschätzung der Fall war (vgl. dazu die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. März 1972, Slg. Nr. 8203/A, vom 1. Dezember 1988, 86/09/0014, und vom 6. Juni 1991, 91/09/0024). Auch bei unveränderten beruflichen Verhältnissen besteht grundsätzlich keine Bindung an die - keinen Spruchbestandteil bildende - berufskundliche Einschätzung im Rahmen des Vorbescheides. Der Beschwerde kann auch nicht darin gefolgt werden, daß eine berufskundliche Einschätzung nach § 8 KOVG jedenfalls von einem - offenbar gemeint: gesondert bestellten - Sachverständigen zu erfolgen hätte. Es ist allerdings zu fordern, daß die berufskundliche Einschätzung beruhend auf Kenntnissen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Berufskunde erfolgt und in ausreichender Weise begründet wird (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. November 1955, 2657/54).

Diesem zuletzt genannten Erfordernis wird der angefochtene Bescheid mit seiner Begründung zur berufskundlichen Beurteilung insgesamt nicht gerecht. Zutreffend wendet die Beschwerdeführerin ein, daß ihren Einwendungen vom 18. Jänner 1995 überhaupt nicht Rechnung getragen bzw. auf diese nicht eingegangen worden sei. Die im angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung, die Berufszumutbarkeit in der berufskundlichen Beurteilung vom 9. Jänner 1995 sei "schlüssig dargestellt" (die Beschwerdeführerin sei "jahrelang als Kanzleikraft beschäftigt" gewesen) ist nicht hinreichend. Die angesprochene berufskundliche Beurteilung vom 9. Jänner 1995 enthält keine nachvollziehbare und überprüfbare Darstellung, aus welchen Gründen nunmehr in Abweichung von der vorherigen Begutachtung vom 7. Juni 1988 das Berufsbild einer Büroangestellten und nicht mehr einer Hausfrau heranzuziehen sei. Eine derartige Darlegung wäre aber jedenfalls notwendig gewesen, zumal in der im Bescheid vom 22. August 1988 für zutreffend erachteten berufskundlichen Begutachtung vom 7. Juni 1988 mit näherer Begründung (in nicht unschlüssiger Weise) dargelegt wurde, warum der berufskundlichen Beurteilung im Sinne des § 8 KOVG nicht der Beruf einer Büroangestellten, sondern der einer Hausfrau (als der günstigen sozialen Stellung im Berufsleben der Beschwerdeführerin entsprechend, vgl. dazu etwa die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. April 1957, Slg. Nr. 4332/A, vom 24. April 1961, Slg. Nr. 5551/A, und vom 17. Jänner 1991, Slg. Nr. 13355/A) zugrunde zu legen sei. Der angefochtene Bescheid ist damit mit einem wesentlichen Begründungsmangel belastet und war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Anforderung an ein Gutachten Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverständigenbeweis Sachverständiger Bestellung Auswahl Enthebung (Befangenheit siehe AVG §7 bzw AVG §53) Verhältnis zu anderen Normen Materien KOVG §52 Abs2 Zumutbarer Beruf Allgemein

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1998:1995090177.X00

Im RIS seit

27.03.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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