TE OGH 2020/6/29 8ObA14/20x

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch FREIMÜLLER/OBEREDER/PILZ RECHTSANWÄLT_INNEN GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei B* GmbH, *, vertreten durch HUGER Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen 615,52 EUR brutto, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Oktober 2019, GZ 10 Ra 70/19s-43, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 14. Jänner 2019, GZ 18 Cga 1/16x-39, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 252,31 EUR (darin 42,02 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Der Kläger ist gelernter Maurer. Er war bei der Beklagten vom 22. 6. 2015 bis (zur einvernehmlichen Beendigung am) 7. 10. 2015 als „Sanierungsarbeiter“ beschäftigt. Bei der Beklagten handelt sich um ein – in Österreich und weltweit tätiges – Sanierungsunternehmen, das Leistungen an Geschäfts- und Privatkunden für die rasche und effiziente Beseitigung von Schadensfolgen nach Bränden, Wasser- und Sturmschäden sowie anderen Kontaminationen erbringt. Sie bewirbt das Leistungsspektrum mit der Entfernung und Extraktion von Rückständen und Schadstoffen aller Art von Maschinen, Objekten, Betriebsanlagen und ihren Bestandteilen, die sich nach Freiwerden oder Entstehen niedergeschlagen haben oder in eine Materialoberfläche eingedrungen sind oder die ursprünglich bewusst aufgebracht wurden. Der Unternehmensgegenstand ist kurz zusammengefasst die Sanierung nach Schadensfällen. Die Kernleistungen sind die Reinigung und Trocknung nach Wasserschäden, sowie die Reinigung und Sanierung nach Brand- und Sturmschäden oder anderen Elementarereignissen. Im Einzelnen wird nach Brandschäden die Baustellensicherung und Brandplatzräumung übernommen, ebenso das Reinigen von kontaminierten Gebäudeoberflächen und Einrichtungsgegenständen, sowie das Zerlegen, Reinigen, Instandsetzen und wieder Montieren von Maschinen und Anlagen, allenfalls die Korrisionsentfernung. Vorwiegend werden Brandrückstände wie zB Ruß und Teer entfernt. Nach Wasserschäden beginnt die Arbeit nach der Baustellensicherung mit dem Auffinden und Reparieren der Schadensursache (bei Leitungswasserschäden). Danach wird das Reinigen und Desinfizieren von mit Schlamm, Fäkalwässern oä kontaminierten Gebäudeoberflächen und Einrichtungsgegenständen vorgenommen und im Anschluss die Gebäudekonstruktion mit Trocknungsgeräten ausgetrocknet. In weiterer Folge werden – wie nach Brandschäden – die Zerlegung, Reinigung, Instandsetzung und Korrisionsentfernung an Maschinen und Anlagen durchgeführt. Durch die Trocknungsarbeiten soll Schimmelbefall verhindert werden. Dies erfolgt durch die Installation von Trocknungsgeräten, die die Luftfeuchtigkeit absenken, und durch die Anwendung von Desinfektionsmitteln. Dabei werden handwerkliche Tätigkeiten wie Be- und Entlastungsbohrungen (bei Estrichtrocknungen) und die Aufstellung und Inbetriebnahme von Geräten durchgeführt.

Weiters bietet das Unternehmen nach der Beseitigung des unmittelbaren Schadens auch Wiederherstellungsarbeiten von beschädigten Gebäudeteilen und des Inventars an. Diese Tätigkeiten umfassen insbesondere die bauliche Instandsetzung von Gebäudeteilen (Reparieren der Gebäudestruktur als allgemeine Bauleistung), Maler- und Bodenlegerarbeiten, aber auch Installationsarbeiten. Diese Leistungen stehen aber im Regelfall im Zusammenhang mit vorhergehenden Reinigungsleistungen nach Brand- oder Wasserschäden.

Für diese Tätigkeiten verfügt die Beklagte über folgende Gewerbeberechtigungen:

• Sanierung

• Handelsgewerbe

• Entfernung und Extraktion von Rückständen und Schadstoffen

• Heizungstechnik verbunden mit Lüftungstechnik

• Gas- und Sanitärtechnik

• Technische Büros – Ingenieurbüros (Beratende Ingenieure) für Elektrotechnik

• Mechatroniker für Elektromaschinenbau und Automatisierung verbunden mit Mechatroniker für Maschinen- und Fertigungstechnik, Mechatroniker für Elektronik, Büro- und EDV-Systemtechnik und Mechatroniker für Medizingerätetechnik (verbundenes Handwerk),

• Maler und Anstreicher verbunden mit Lackierer, Vergolder, und Staffierer; Schilderherstellung (verbundenes Handwerk)

• Baumeister

• Bodenleger (Handwerk)

• Elektrotechnik, eingeschränkt auf die Installation elektrischer Starkstromanlagen und
-einrichtungen ohne Einschränkung hinsichtlich der Leistung oder der Spannung, die Errichtung von Blitzschutzanlagen und die Errichtung von Brandmeldeanlagen

• Bauwerksabdichter

• Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereinigung

Im Rechtsmittelverfahren ist nicht mehr strittig, dass der Betrieb der Beklagten ein sogenannter Mischbetrieb im Sinne des § 9 Abs 3 ArbVG ist.

Der Kläger begehrt unter Berufung auf die Anwendbarkeit des Kollektivvertrags für ArbeiterInnen in der Bauindustrie und im Baugewerbe (kurz KV Baugewerbe) Entgeltdifferenzen (Weihnachtsremuneration, Überstundenentgelt inklusive Zuschläge, Taggeld) von gesamt 615,42 EUR.

Die Beklagte wendet ein, der Kläger sei zutreffend nach dem Kollektivvertrag für ArbeiterInnen in der Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereinigung, im sonstigen Reinigungsgewerbe und in Hausbetreuungstätigkeiten (kurz: KV Gebäudereinigung) entlohnt worden.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Aufgrund der festgestellten Gesamtumstände (Umsatzverteilung, Anzahl der Beschäftigten, Betriebsmitteleinsatz und Außenauftritt) liege die wirtschaftlich maßgebliche Bedeutung für die Beklagte nicht im Bereich Baugewerbe und Bauindustrie, sondern im Bereich der Reinigungsleistungen. Auf das gegenständliche Arbeitsverhältnis finde somit der KV Gebäudereinigung Anwendung.

Das Berufungsgericht hob dieses Urteil über Berufung des Klägers auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück.

Die von der Beklagten angebotenen Sanierungstätigkeiten nach Wasser- und Feuchtigkeitsschäden seien nur im geringen Umfang dem Gewerbe der Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereiniger zuzuordnen und die dabei auftretenden Reinigungstätigkeiten könnten sicher nicht als für die gesamte Tätigkeit prägend und maßgeblich angesehen werden. Bei der Sanierung nach Brandschäden werde der Reinigungsaufwand höher einzuschätzen sein; eine im Vergleich zu den sonstigen Leistungen nach Brandschäden (Sanierung von Wänden, Böden, Malereien und Fliesen, unter Umständen auch Reparatur von Einrichtungsgegenständen; Trocknungs- und Reparaturarbeiten nach Löschschäden) überwiegende und für den gesamten Geschäftszweig prägende Bedeutung könne aber auch hier dem Reinigungsgewerbe nicht zuerkannt werden. Der „gemischte“ Charakter der Tätigkeiten der Beklagten spiegle sich auch in der Zusammensetzung der Qualifikation der Mitarbeiter wider. Dabei falle auf, dass Mitarbeiter mit verschiedenen handwerklichen Qualifikationen beschäftigt würden (Maler und Tapezierer, Maurer/Trockenbauer, Tischler und Bodenleger, Installateur, Trocknungsmonteur, „Allround-Monteur“, Elektriker und Fliesenleger). „Helfer“ und „Vorarbeiter Brand“ würden nach den Feststellungen sowohl im Bereich der Brandplatzräumung und für Spezialreinigungsarbeiten, als auch für Wiederherstellungsarbeiten nach Brandschäden eingesetzt. Ein personalmäßiger Überhang bei Tätigkeiten der reinen Brandreinigung könne daher auch hier nicht erkannt werden. Letztlich spreche auch der Außenauftritt des Unternehmens dafür, dass die angebotene Tätigkeit und gleichsam ihr Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb wesentlich über den bloßen Bereich der Reinigung nach Brand-, Wasser- oder Sturmschäden hinausgehe.

Allerdings komme auch dem fachlichen Wirtschaftsbereich des KV Baugewerbe die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung für den Betrieb der Beklagten nicht zu. Von den zu beurteilenden Tätigkeiten gehörten die Reinigungstätigkeiten, die Trocknung mit mobilen Trocknungsgeräten, Malerarbeiten, Bodenlegerarbeiten, Installateurarbeiten und Fliesenlegerarbeiten für sich genommen nicht zum Gewerbe des Baumeisters, diese könnten – soweit reglementiert – nur teilweise als Nebenleistungen bei Übernahme eines umfangmäßig entsprechenden Auftrags über die Durchführung von Bauarbeiten mitübernommen werden.

Gemäß § 9 Abs 4 ArbVG finde in dem Fall, dass keine für den Betrieb maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung eines bestimmten fachlichen Wirtschaftsbereichs festgestellt werden könne, der Kollektivvertrag jenes fachlichen Wirtschaftsbereichs Anwendung, dessen Geltungsbereich unbeschadet der Verhältnisse im Betrieb die größere Anzahl von Arbeitnehmern in Österreich erfasse. Der Kläger habe sich hilfsweise auch auf § 9 Abs 4 ArbVG berufen und dazu die Einholung eines berufskundigen Sachverständigengutachtens beantragt. Die Beklagte habe dies bestritten. Infolge seiner vom Berufungsgericht nicht geteilten Rechtsauffassung habe das Erstgericht diese Frage noch nicht mit den Parteien erörtert und auch noch keine Feststellungen zur Zahl der von den verschiedenen Kollektivverträgen umfassten Arbeitnehmer in Österreich getroffen. Dass von den hier in Frage kommenden Kollektivverträgen der KV Baugewerbe in Österreich die meisten Arbeitnehmer erfasse, könne ohne Erörterung mit den Parteien nicht als eine offenkundig bekannte Tatsache angenommen werden.

Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu, weil es bei der Beurteilung der (maßgeblichen) wirtschaftlichen Bedeutung des KV Gebäudereinigung einerseits und des KV Baugewerbe andererseits in einem Mischbetrieb nach § 9 Abs 3 ArbVG auf keine unmittelbar einschlägige Vorjudikatur habe zugreifen können und dieser Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).

I. 1. Die Beklagte macht die Nichtigkeit des Berufungsverfahrens nach § 477 Abs 1 Z 4 ZPO geltend, weil sich das Berufungsgericht betreffend den Umfang des Gewerbes der Denkmal-, Fassaden- und Gebäudereinigung auf ein „AMS Berufslexikon“ gestützt habe. Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör liegt aber schon deshalb nicht vor, weil das Berufungsgericht auf das „AMS Berufslexikon“ ausschließlich im Rahmen seiner – revisiblen – rechtlichen Beurteilung als Hilfsargument Bezug genommen hat.

2. Weiters rügt die Beklagte als Nichtigkeit und als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, dass die Ausführungen des Berufungsgerichts (teilweise) in Widerspruch zu den erstgerichtlichen Feststellungen stünden. Dies könnte allenfalls eine Aktenwidrigkeit begründen, die dadurch zu bereinigen wäre, dass der Oberste Gerichtshof die tatsächlichen Feststellungen einer rechtlichen Beurteilung unterzieht (RIS-Justiz RS0110055; RS0116014). Eine Aktenwidrigkeit vermag die Beklagte allerdings auch nicht aufzuzeigen, weil sie die (bloß kursorische) Wiedergabe der erstgerichtlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht mit dessen rechtlicher Beurteilung vermengt.

3. In der Berücksichtigung des Inhalts einer (von der Beklagten selbst in erster Instanz vorgelegten und) in den Feststellungen des Erstgerichts enthaltenen Urkunde (Beilage ./9) liegt weder eine Nichtigkeit noch eine Aktenwidrigkeit noch eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (vgl RS0121557).

4. Die Rekurswerberin behauptet des Weiteren einen Verstoß des Berufungsgerichts gegen die Selbstergänzungspflicht des § 496 Abs 3 ZPO. Von einer unrichtigen Lösung einer Frage des Verfahrensrechts, die für die Rechtssicherheit von erheblicher Bedeutung ist, kann im Fall der Zurückverweisung der Sache durch das Berufungsgericht an das Erstgericht ohne Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen nur dann gesprochen werden, wenn eine Selbstergänzungspflicht nach der ratio des § 496 Abs 3 ZPO geradezu auf der Hand liegt, also eine gravierende Verkennung der Rechtslage vorliegt (RS0108072 [T2]). Davon kann hier schon im Hinblick auf die (im Raum stehende) Notwendigkeit, ein Sachverständigengutachten einzuholen, keine Rede sein.

II. 1. Die Rekurswerberin meint, das Berufungsgericht hätte, da der Kläger in seiner Berufung § 9 Abs 4 ArbVG nicht erwähnt hat, diese Bestimmung nicht heranziehen dürfen. Wurde die unrichtige rechtliche Beurteilung in einer bestimmten Richtung geltend gemacht, so ist das Berufungsgericht jedoch auf die Prüfung der nach Meinung des Berufungswerbers rechtlich unrichtig angewendeten Normen nicht beschränkt, sondern muss auch überprüfen, ob das Urteil nicht etwa an einem anderen Rechtsfehler leidet (RS0041820).

2. Überdies rügt die Beklagte in dritter Instanz erstmals, dass die Vorinstanzen das Vorbringen des Klägers zur (hilfsweisen) Anwendbarkeit des § 9 Abs 4 ArbVG und den Antrag auf Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens nach § 179 ZPO als verspätet hätten zurückweisen müssen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, das die vom Erstgericht beschlossene Zurückweisung für unrichtig erachtet, das Urteil aufhebt und die Rechtssache – unter Zulassung des Rekurses an den Obersten Gerichtshof gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO – an die erste Instanz zurückweist, kann in dritter Instanz überprüft werden (vgl 4 Ob 50/06s; 7 Ob 253/04p). Ob das auch gilt, wenn das Erstgericht – wie hier – gar keine Entscheidung über das in der letzten Tagsatzung erstattete Vorbringen und Beweisanbot trifft, das Berufungsgericht aber (implizit) eine Verspätung verneint, kann dahingestellt bleiben: Die Frage, ob die Voraussetzungen des § 179 Abs 1 ZPO als gegeben angesehen werden können, hängt ganz von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0036739 [T1]). Mit der bloßen Behauptung, den Kläger treffe ein grobes Verschulden an der Verspätung, bringt die Beklagte jedenfalls keine erhebliche Rechtsfrage zur Darstellung.

III. 1. Liegt ein Mischbetrieb im Sinn des § 9 Abs 3 ArbVG vor, dann findet jener Kollektivvertrag Anwendung, welcher für den fachlichen Wirtschaftsbereich gilt, der für den Betrieb die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat. In diesem Fall gilt also, anders als nach § 9 Abs 1 und 2 ArbVG, das Prinzip der Tarifeinheit (vgl RS0050908).

Die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung ist danach zu beurteilen, welcher Fachbereich dem Betrieb das wirtschaftliche Gepräge gibt. Dafür kommt es nach der Rechtsprechung nicht nur auf einzelne Aspekte wie etwa Umsatz, Gewinn, Betriebsmitteleinsatz, Ertragskomponenten, Zahl der Arbeitnehmer oder Zusammensetzung des Kundenkreises an. Vielmehr ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen, in die auch die wirtschaftliche Funktion des einen Fachbereichs für den anderen Fachbereich einzubeziehen ist (9 ObA 16/18w; 9 ObA 7/12p; 9 ObA 194/90 ua). Die Beurteilung des Zusammenspiels der einzelnen Faktoren im Rahmen der geforderten Gesamtbetrachtung hängt immer von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (9 ObA 7/12p), sodass diese Abwägung in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage begründet (9 ObA 40/14v).

2.1 Im vorliegenden Fall verfügt die Beklagte über eine Mehrzahl von Gewerbeberechtigungen, durch die sie Mitglied in verschiedenen Fachgruppen der Wirtschaftskammer ist (§ 47 Abs 2 WKG), womit sie mehreren Kollektivverträgen unterworfen ist (vgl RS0050871). Hiervon haben die Parteien selbst jedoch nur den KV Baugewerbe einerseits und den KV Gebäudereinigung andererseits als aus ihrer Sicht relevant herausgegriffen. Dass einem der anderen Fachbereiche maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung für den Betrieb der Beklagten zukäme, wird nicht behauptet.

2.2 Bereits das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass Gewerbetreibende nach § 32 Abs 1 Z 1 GewO 1994 idF vor der 1. GewONov 2017 berechtigt waren, Vorarbeiten und Vollendungsarbeiten auf dem Gebiet anderer Gewerbe vorzunehmen, die dazu dienen, die Produkte, die sie erzeugen oder vertreiben sowie Dienstleistungen, die sie erbringen, absatzfähig zu machen sowie im geringen Umfang Leistungen anderer Gewerbe zu erbringen, die eigene Leistungen wirtschaftlich sinnvoll ergänzen. Mit der 1. GewONov 2017 entfiel der „geringe Umfang“ in dieser Form in Abs 1 Z 1 und wurde neu in Abs 1a leg cit geregelt. Einem Baumeister (§ 94 Z 5 GewO 1994) kommen nach § 99 Abs 2 GewO 1994 inhaltlich noch weitergehende (über einen geringen Umfang hinausgehende) Rechte zu.

Der Anlassfall zeichnet sich dadurch aus, dass die Beklagte nach den Feststellungen Leistungen erbringt, die zu einem guten Teil – insbesondere unter Berücksichtigung des § 32 Abs 1 Z 1 GewO 1994 alt sowie des § 150 GewO 1994 – durch verschiedene Gewerbeberechtigungen gedeckt sein können, die die Beklagte inne hat. Das Berufungsgericht hat zutreffend den „gemischten“ Charakter der Tätigkeit der Beklagten hervorgehoben. Dieser führt dazu, dass sich einzelne Elemente nicht eindeutig zuordnen bzw abgrenzen lassen. Das Berufungsgericht hat etwa Fliesenlegerarbeiten genannt, die nicht nur von einem Baumeister, sondern im Rahmen des Nebenrechts zum Beispiel auch von einem Heizungstechniker selbständig ausgeführt werden können (Raschauer in Ennöckl/Raschauer/Wessely, GewO § 94 Rz 57).

Für die Tätigkeit der Beklagten gar nicht erforderliche Gewerbeberechtigungen haben im Zusammenhang mit der Bestimmung des § 9 ArbVG außer Betracht zu bleiben (vgl RS0050852; RS0050901). In diesem Sinne vermögen aber auch (zulässigerweise) unter verschiedene Gewerbeberechtigungen subsumierbare Tätigkeiten bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Prägung des Betriebs jedenfalls nicht den Ausschlag in die eine oder andere Richtung zu geben.

3.1 Die Beklagte weckt daher mit ihren Ausführungen keine Bedenken an der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass hier weder dem einen noch dem anderen Fachbereich (Reinigung versus Bau) die ausschlaggebende wirtschaftliche Bedeutung zukomme.

3.2 Die Rekurswerberin kritisiert, dass das Berufungsgericht – anders als das Erstgericht – Trocknungsleistungen nicht dem Reinigungsbereich, sondern dem freien Gewerbe „Entfeuchtung von Räumlichkeiten mittels mobiler Belüftungs- und Heizgeräte“ zugerechnet hat, obgleich sie über eine solche Gewerbeberechtigung gar nicht verfügt.

Der Beklagten ist zwar zuzugestehen, dass sie
– angesichts der vorhandenen Gewerbeberechtigungen, nicht zuletzt für Heizungs- und Lüftungstechnik, und der obigen Ausführungen zur Bestimmung des § 32 GewO alt – keine weitere (eigene) Gewerbeberechtigung für das Aufstellen von Trocknungsgeräten benötigen wird. Dass die Trocknung mehr der Reinigung als dem Bau zuzuordnen wäre, ist damit aber noch nicht dargetan. Die Behauptung der Beklagten, die Wirtschaftskammer sehe Trocknungsleistungen als Reinigungsleistungen an, steht weder fest noch ergibt sie sich aus der von der Beklagten ins Treffen geführten Beilage ./16. Mag die Anwendung von Desinfektionsmitteln im Rahmen der Trocknungsarbeiten auch tendenziell eine Reinigungsleistung sein, sind die dabei – wenn vielleicht auch nicht in jedem Einzelfall – anfallenden handwerklichen Tätigkeiten wie Be- und Entlastungsbohrungen eher für das Baugewerbe typisch. Die Aufstellung und Inbetriebnahme von Trocknungsgeräten ist weder dem einen noch dem anderen Bereich eindeutig zuzuordnen.

3.3 Die Behauptung der Beklagten, dass der überwiegende Teil der Arbeiter im Bereich der Reinigung tätig sei, weil sie 2014 und 2015 48 bzw 51 Brandsanierungsarbeiter beschäftigt habe, deckt sich nicht mit der Feststellung, dass die darin enthaltenen Helfer (35 bzw 39 Arbeiter) nicht nur für Brandplatzräumung und Spezialreinigungsarbeiten, sondern – je nach Auslastung – auch für andere Arbeiten wie die Wiederherstellung nach Brandschäden eingesetzt sind.

Auch wenn die Position „Brandschaden Reinigung“ mit 28 % bzw 20 % gefolgt von Trocknung mit 15 % bzw 14 % als die Umsatzstärkste ausgewiesen ist, entfallen nur 2 % der Aufträge nach Stückzahlen auf „Brandschaden Reinigung“ (aber 25 % bzw 24 % auf „Trocknung“ und 24 % bzw 23 % auf „Malerei“).

3.4 Vor allem jedoch angesichts des festgestellten Außenauftritts der Beklagten erweist sich die Beurteilung des Berufungsgerichts als vertretbar: Die Beklagte behauptet nicht einmal selbst, als „klassisches Reinigungsunternehmen“ wahrgenommen zu werden. Vielmehr bewirbt sie sich als „Marktführer in der integrierten Schadensanierung und der Instandsetzung aus einer Hand“. Die Feststellung, dass die Beklagte von potentiellen Kunden andererseits auch nicht als „klassische Baufirma“ wahrgenommen wird, spricht wiederum ebenso wie der Zusammenhang der baulichen Instandsetzung mit vorhergehenden Reinigungsleistungen für die Einschätzung des Berufungsgerichts, dass eben auch das Baumeistergewerbe nicht als für den gesamten Betrieb prägend angesehen werden kann. Damit gelingt es dem Rekursgegner gleichfalls nicht, vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Zweifel an der Berufungsentscheidung zu wecken.

4. Auch im Zusammenhang mit der Bestimmung des § 9 Abs 4 ArbVG zeigt die Rekurswerberin keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf:

Da die Parteien bislang selbst die maßgeblichen Kollektivverträge (nur) auf Gebäudereinigung und Baugewerbe eingegrenzt haben, haben die anderen Kollektivverträge mangels gleicher oder zumindest vergleichbarer wirtschaftlicher Bedeutung (vgl Runggaldier in Tomandl, Arbeitsverfassungsgesetz3 [2007] § 9 Rz 10) im weiteren Verfahren außer Betracht zu bleiben.

Welcher dieser beiden Kollektivverträge die größere Anzahl von Arbeitnehmern in Österreich erfasst, ist eine Tatfrage. Die Behauptung der Beklagten, die Anzahl sei unmöglich feststellbar, ist rein spekulativ und widerspricht auch der Vorstellung des Gesetzgebers, die Zahl der erfassten Arbeitnehmer sei in der Praxis über die Sozialpartner, etwa im Wege eines Gutachtens der Wirtschaftskammer, gut feststellbar (siehe Resch in Jabornegg/Resch, ArbVG [2019] § 9 Rz 2).

Die Ansicht der Beklagten, die Regelung des § 9 Abs 4 ArbVG – als letztes Mittel zur Lösung einer Kollektivvertragskollision (Pfeil in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht2 [2015] § 9 Rz 31 f) – verletze das Sachlichkeits- und Bestimmtheitsgebot, ist damit nicht nachvollziehbar begründet. Der Arbeitgeber hätte es im Übrigen auch in der Hand, durch Umorganisation seines Betriebs Tarifvielfalt eintreten zu lassen (§ 9 Abs 1 und 2 ArbVG).

5. Der Rekurs war daher zurückzuweisen.

6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen (RS0123222 [T8]).

Textnummer

E128765

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:E128765

Im RIS seit

06.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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