TE Vwgh Erkenntnis 2020/7/13 Ra 2019/20/0464

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Veröffentlicht am 13.07.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des F A in G, vertreten durch Dr. Markus Schifferl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenbastei 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. August 2019, W134 2190890-1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 26. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er seiner Schwester zur Flucht verholfen habe, weil diese einen „alten Mann“ hätte heiraten „müssen“. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan würde er von seiner Familie getötet werden.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 20. Februar 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Zur Begründung führte das BFA unter anderem aus, dass der vom Revisionswerber „als ausschlaggebend angeführte Fluchtgrund“, wonach er sein Heimatland verlassen habe, weil er seiner Schwester „zur Flucht verholfen“ habe, glaubhaft sei. Bei einer Verfolgung durch Privatpersonen (hier: durch den Vater des Revisionswerbers) handle es sich jedoch um eine private Auseinandersetzung, deren Ursache nicht im Zusammenhang mit den in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) angeführten Verfolgungsgründen stehe.

3        In seiner dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber unter anderem vor, sein Verhalten werde in Afghanistan als Beihilfe zur „Zina“ gewertet und sei dort strafbar. Seiner Schwester und deren Freund sei aufgrund ihres Vorbringens „zur drohenden Zwangsheirat, ihrer Flucht und wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung“ der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden. Da die Schwester des Revisionswerbers und deren Freund zum Zeitpunkt der Flucht nicht verheiratet gewesen seien, hätte sich das BFA auch „mit Zina und der Beihilfe dazu - durch Ermöglichung der Flucht - in der afghanischen bzw. islamischen Gesetzgebung und -vollziehung auseinandersetzen müssen“.

4        Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerde - nach Durchführung einer Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend hielt es zusammengefasst fest, dem Revisionswerber sei es nicht gelungen, eine gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität glaubhaft zu machen. Aus dem Vorbringen des Revisionswerbers sei abzuleiten, dass nicht er, sondern der nunmehrige Ehemann seiner Schwester die Reise organisiert und finanziert habe. Die Hilfe des Revisionswerbers wäre somit nicht nötig gewesen, zumal der Schwester des Revisionswerbers die Flucht schon einmal fast gelungen wäre. Der Revisionswerber habe seine Schwester vielmehr lediglich begleitet. Wenn ihm seine Familie dies übel nehmen sollte, handle es sich dabei nur um einen familieninternen Streit. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Revisionswerber von seiner Familie weiträumig verfolgt werden würde. Er könne sich „daher“ durch einen Umzug in einen anderen Stadtteil von Herat oder in die Städte Mazar-e Sharif oder Kabul seiner Familie entziehen.

6        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das BVwG habe die Schwester des Revisionswerbers und deren Ehemann zu den Fluchtgründen des Revisionswerbers nicht einvernommen, obwohl diese in der Verhandlung vor dem BVwG anwesend gewesen seien, der Revisionswerber auf sie verwiesen habe und ihnen aufgrund des im Wesentlichen selben Sachverhaltes Asyl zuerkannt worden sei. Hätte das BVwG die Einvernahme durchgeführt, wäre es - entgegen den Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis - zu dem Ergebnis gelangt, dass nicht bloß eine „Familienstreitigkeit“ die Rückkehr des Revisionswerbers behindere, sondern dass - so wie seine Schwester und deren Ehemann - auch der Revisionswerber „in einem schutzunfähigen und schutzunwilligen Staat“ privat von seiner Familie und dem abgelehnten Brautwerber seiner Schwester verfolgt und „mit Leib und Leben bedroht“ werde, weil er seine Schwester und ihren nunmehrigen Ehemann bei deren Flucht unterstützt und somit die von seiner Schwester nicht gewollte Verheiratung mit dem von den jeweiligen Familien vorbestimmten Brautwerber zu verhindern geholfen hätte.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0705, mwN).

10       Der Revisionswerber brachte in seiner Beschwerde an das BVwG vor, dass er seiner Schwester wegen der ihr drohenden Zwangsverheiratung zur Flucht verholfen habe und dass er dadurch, nachdem auch der Freund seiner Schwester „bei der Flucht dabei“ gewesen sei, im Sinn der afghanischen Traditionen „Beihilfe zur Zina“ geleistet habe, was in seinem Herkunftsland zu Strafverfolgung führe. In Afghanistan seien junge Menschen „aufgrund von Zina durch ganze Dorfschaften gesteinigt oder anderswie umgebracht“ worden. Das Verhalten des Revisionswerbers und seine „politische und religiöse Einstellung“ stünden somit jedenfalls „in direkter Opposition zu den in [Afghanistan] vorherrschenden traditionellen und religiösen Werten“. Aus den Informationen zu seinem Herkunftsstaat sei „klar ersichtlich“, dass ihm „aufgrund einer zu den in Afghanistan herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommenen oppositionellen Einstellung, aber auch wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie asylrelevante Verfolgung“ drohe, wobei das „ineffektive afghanische Staatswesen aktuell weder gewillt noch in der Lage“ sei, ihn vor dieser Bedrohung zu schützen.

11       Das BVwG traf dazu keine näheren Feststellungen. Es stützte die Abweisung der Beschwerde darauf, dass der Beitrag des Revisionswerbers an der Flucht seiner Schwester (bloße „Begleitung“) nicht solcher Art gewesen sei, dass ihm deswegen landesweit Verfolgung drohe.

12       Dabei ließ das BVwG unbeachtet, dass der - in der Verhandlung unvertretene - Revisionswerber angegeben hatte, er werde von seinem Bruder und Vater bedroht, weil er seiner Schwester „zur Flucht verholfen“ habe, und für die Richtigkeit seiner Angaben die Vernehmung seiner Schwester beantragte. Das BVwG hat es rechtswidrig unterlassen, die vom Revisionswerber angesprochene, in der Verhandlung anwesende Schwester des Revisionswerbers zu den näheren Umständen seiner behaupteten Beteiligung an der Flucht vor Zwangsverheiratung als Zeugin zu vernehmen.

13       Da das BVwG bei Berücksichtigung aller Beweisergebnisse, insbesondere nach Einvernahme der genannten Zeugin, zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften - zur Gänze, weil die rechtlich voneinander abhängenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren - aufzuheben.

14       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. Juli 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200464.L00

Im RIS seit

01.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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