TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/10 L526 2213011-1

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Veröffentlicht am 10.05.2019
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Entscheidungsdatum

10.05.2019

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L526 2213011-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. über die Beschwerde des XXXX alias XXXX, geb. XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.12.2018, Zl. 1116221904-160744743, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 28.3.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der BF (in der Folge auch kurz "BF" genannt) stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 25.5.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung nach dem Asylgesetz am Tag der Antragstellung gab der BF an, den im Spruch ersichtlichen Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Duhok im Irak geboren und habe eigentlich nach Deutschland reisen wollen.

Am 27.5.2016 erneut von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt, gab der BF an, er gehöre der Volksgruppe der Kurden an und sei moslemischen, sunnitischen Glaubens. Er habe in XXXX die Grundschule besucht und von dort aus habe er illegal mittels eines PKW das Land verlassen. Zum Grund für das Verlassen seines Heimatlandes wurde niederschriftlich festgehalten, dass das Dorf, in dem der BF lebte, vom IS angegriffen worden sei, weshalb er von dort hätte fliehen müssen. Da es im Irak keine Sicherheit und keine Arbeit mehr gegeben habe, habe er sich entschlossen, das Land zu verlassen.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der BF zusammengefasst vor, nach seiner Ausreise aus dem Irak circa zwanzig Tage in der Türkei und drei Monate in Griechenland verbracht zu haben, danach noch einige Tage in Mazedonien, Serbien und Ungarn, bevor er in Österreich Ende Mai 2016 einreiste.

2. Konsultationen mit Griechenland und Ungarn gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, blieben ergebnislos.

3. Am 26.2.2018 ersuchte die nunmehr belangte Behörde (in weiterer Folge auch kurz: "bB" genannt) um Prüfung eines vom BF vorgelegten irakischen Personalausweises. Am 9.3.2018 langte dort eine Note mit der Auskunft ein, dass es sich um ein Originaldokument handle und keine Abänderungen oder Auswechslung des Lichtbildes hätten festgestellt werden können.

4. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 4.4.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Linz, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers sowie einer Vertrauensperson des BF in der Sprache Kurdisch Bahdini niederschriftlich einvernommen.

Anlässlich dieser Befragung gab der BF an, den Namen XXXX zu tragen. Zur Person und den Lebensumständen befragt gab der BF an, er sei im Dorf XXXX geboren und aufgewachsen. Im Alter von acht Jahren sei er mit den Eltern in die Stadt XXXX gezogen und habe dort zwölf Jahre lang die Schule besucht. Während der Schule und in den Sommerferien habe er seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Bis zu seiner Ausreise habe er in seinem Elternhaus gelebt und sein Vater habe für ihn gesorgt.

Seine Eltern lebten nunmehr in XXXX zusammen mit seinen drei Schwestern und acht seiner Brüder. Ein Bruder sei in XXXX verblieben und arbeite dort als Hilfsarbeiter. Er habe auch noch mehrere Onkel und Tanten, die in verschiedenen Dörfern in der Provinz XXXX lebten. Diese verfügten über eigene Häuser, über ihre Arbeit sei der BF nicht informiert. Mit Freunden und weiteren Verwandten stehe er per Viber oder über das Internet in Kontakt.

Zu den Gründen für das Verlassen seines Heimatstaates befragt, gab der BF an, dass es seit seiner Kindheit immer Krieg in seiner Region gegeben habe. Es habe auch immer wieder Krieg und Angriffe auf die Kurden im Irak gegeben. Das sei seit Saddam Hussein so gewesen und sei auch in der Zeit der Herrschaft der Terrormiliz "Islamischer Staat" (in weiterer Folge auch kurz "IS" genannt") und danach so gewesen. Auch jetzt seien die Kurden vom irakischen Regime bedroht, zudem würde auch die Türkei in den kurdischen Gebieten schießen. Im Oktober 2015 sei der IS bis in die Nähe seines Dorfes - bis circa 25 Minuten Autofahrt von dort - gekommen. Er sei dann nach XXXX gegangen und habe im Jänner 2016 den Irak verlassen.

Seine Familie sei im Dezember 2017 nach XXXX gereist und befinde sich seitdem dort.

Zur Frage, ob der BF und seine Familie nicht in XXXX hätten bleiben können, gab dieser an, dass er seit seiner Kindheit nach Europa habe reisen wollen. Die Araber und die Türken würden die Kurden nicht mögen. Circa sechs Monate zuvor seien die Truppen von den Volksmobilisierungsgruppen des irakischen Regimes gekommen und hätten die Peschmerga bekämpft. Sie seien auch nicht mehr als eine halbe Stunde von XXXX entfernt gewesen. In der Türkei bei seiner Familie könnte er wohl leben, jedoch würden auch die Türken die Kurden nicht mögen. Bis vor drei Monaten habe er noch Kontakt zu den Eltern gehabt und bis dahin sei diesen in der Türkei nichts passiert. Auch ihm sei dort konkret nichts passiert, sie hätten aber öfters Angst gehabt. Ihm sei auch im Irak nichts passiert, persönlich habe er auch keinen Kontakt zum IS gehabt.

Zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt, gab der BF an, seine Familie sei nicht mehr dort und er habe dort auch keine Studienmöglichkeit. Er habe dort niemanden und das würde für ihn "die Hölle" sein.

Abschließend wurden dem BF die aktuellen landeskundlichen Feststellungen zum Irak ausgefolgt und eine Stellungnahme binnen zwei Wochen hierzu freigestellt. Auf eine Stellungnahme hat der BF verzichtet.

Im Rahmen der Einvernahme brachte der BF - jeweils im Original - folgende Dokumente in Vorlage:

- eine Bestätigung des Österreichischen Integrationsfonds über die Teilnahme an einer Informationsveranstaltung am 6.11.2017

- eine Bestätigungen des "WIFI Oberösterreich" über die Teilnahme an Deutschkursen vom 1. September 2017 und vom 28. November 2017

- ein Zertifikat über abgelegte Deutsch-Prüfungen, Niveau A1 und A2 vom 13.4.2017 und vom 2.1.2018

- ein Zertifikat über die abgelegte Deutsch-Prüfung, Niveau B1, welche der BF nicht bestanden hat

- eine Bestätigung der Caritas vom 8.5.2017 über eine Exkursion nach Linz

- Eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs am 6.11.2017

- eine Bestätigung über eine ehrenamtliche Tätigkeit des BF anlässlich eines Integrationsfestes am 16.11.2017

- eine Vereinbarung über eine gemeinnützige Beschäftigung, abgeschlossen zwischen dem BF und der Marktgemeinde XXXX,

- eine Bestätigung eines Frisiersalons über die Beschäftigung des BF vom 5.4.2018 bis 5.5.2018 als Volontär sowie eine diesbezügliche Anzeige an das AMS gemäß § 3 Abs. 5 AuslBG

- eine Bestätigung der Caritas, aus welcher hervorgeht, dass der BF Leistungen aus der Grundversorgung bezieht und kein eigenes Einkommen hat

5. Mit zwei nicht näher datierten Schreiben der bB wurde der BF aufgefordert, zwischenzeitige Änderungen im Hinblick auf sein Privat- und Familienleben und seine Integration vorzulegen sowie eine Stellungahme zum Länderinformationsblatt abzugeben. Das erste Schreiben wurde am 21.11.2018, das zweite am 26.11.2018 zugestellt.

Dazu führte der BF in seiner Stellungnahme vom 6.12.2018 aus, dass es zu seinem Privat- und Familienleben seit dem Interview keine Änderungen gegeben habe, im Jänner 2019 werde er die "B1 Integrationsprüfung" machen. Zur Lage im Irak könne er keine persönlichen Informationen geben. Seine Familie habe im Jahr 2017 wegen der unsicheren Lage den Irak verlassen und lebe seither in der Türkei. Der Kontakt zur Familie sei schwierig und erfolge selten.

Diesem Schreiben wurde eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses für Asylwerber B1, Teil 2 angeschlossen.

7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.12.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. (Spruchpunkt III.) Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Zudem wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die bB nach wörtlicher Zitierung der Einvernahme des BF vor der bB und den Feststellungen zu dessen Person aus, dass der BF im Irak keiner asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung durch ihm unbekannte Dritte ausgesetzt gewesen sei. Der BF sei im Heimatland nicht vorbestraft und nicht politisch tätig gewesen und habe auch an keiner bewaffneten Auseinandersetzung teilgenommen. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass der BF aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt würde bzw. Probleme hätte. Zudem habe auch aus den sonstigen Umständen keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt werden können.

Beweiswürdigend wurde im Wesentlichen dargetan, dass der BF keine Verfolgung glaubhaft habe machen können, wobei hervorgehoben wurde, dass er widersprüchliche Angaben zu seinem Reiseziel gemacht und er bereits einen Asylantrag in Ungarn gestellt habe. Zudem habe sich das Fluchtvorbingen auch als nicht asylrelevant dargestellt. Ferner wurde festgestellt, dass der BF nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak verfügt.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die bB, der BF habe kein Vorbringen erstattet, das als asylrelevant zu werten sei, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da keine reale Gefahr einer Verletzung elementarer Rechte sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Dem BF sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.

8. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.12.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Absatz 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und dieser ferner gemäß § 52a Absatz 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

9. Gegen den dem BF am 19.12.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wurde die inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten Folge zu geben oder den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen und die Rückkehrentscheidung samt der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung ersatzlos zu beheben sowie einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach 55 AsylG von Amts wegen zu erteilen. Abschließend wird jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

Unter Anführung verschiedener Judikate wurde zusammengefasst ausgeführt, dass sich die Länderfeststellungen der bB nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF befassten. Insbesondere, da sich die Sicherheitslage im Irak insgesamt im Sommer/Herbst 2018 weiterhin als äußerst fragil darstelle, bleibe für den BF die angeordnete Rückkehrentscheidung gänzlich unverständlich. Die bB habe es auch unterlassen, den BF gezielt und ausführlich zu möglichen persönlichen, diskriminierenden Erlebnissen als Kurde zu befragen. Der BF habe sein Heimatland wegen der Zugehörigkeit der Volksgruppe der Kurden verlassen müssen und es liege kein unglaubwürdiges Verhalten des BF vor; mögliche Unterschiede in den Darstellungen seien der Nervosität des BF beim ersten, aktiven Auftreten vor staatlichen Behörden in einem fremden Land geschuldet. Die bB hätte ihre Entscheidung vor allem nicht auf Diskrepanzen zwischen der Erstbefragung und der Befragung vor der bB stützen dürfen. Zusätzlich zu einem mangelhaften Ermittlungsverfahren habe die bB das Verfahren daher auch mit einer mangelhaften Beweiswürdigung und einer ebensolchen Begründung belastet.

Der BF werde wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden in seinem Heimatland bedroht und verfolgt, weshalb auf ihn die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zutreffe. Der BF könne auch auf keine innerstaatliche Fluchtalternative zurückgreifen, da es sich beim Irak gegenwärtig um ein Land handle, welches sowohl ohne Gewaltmonopol als auch ohne Kontrolle über große Teile seines Territoriums oder seiner Grenzen agieren müsse. Offizielle Sicherheits- und Polizeibehörden würden keine Garanten für rechtstaatlichen Schutz darstellen.

Wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden drohe dem BF eine Verletzung seines Rechtes auf Leben und hätte dem BF daher zumindest der Status des Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden müssen.

Der BF sei um seine Integration in Österreich sehr bemüht, wovon die bereits vorgelegten Bescheinigungsmittel zeugen würden. Eine Rückkehrentscheidung würde demnach einen unzulässigen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen.

Abschließend wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

10. Die Beschwerdevorlage langte am 15.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

11. Am 28.3.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF und eines Dolmetschers für die kurdische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation darzulegen, wobei der BF das vor der bB getätigte Vorbringen im Wesentlichen wiederholte bzw. bestätigte, sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Dem BF wurden zusätzlich zu den bereits mit der Einladung zur Verhandlung übermittelten länderkundlichen Informationen zur Lage im Irak vom 20.11.2018 weitere Artikel und Übersichtstabellen ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme binnen einer Frist von sieben Tagen eingeräumt. Bis dato ist keine Stellungnahme des BF eingelangt.

Im Zuge der Verhandlung legte der BF folgende Unterlagen vor:

- Ein Antrag auf Erteilung einer Bewilligung für die Beschäftigung des BF bei der XXXX als "Küchenbeihilfe", welcher mit einer Firmenstampiglie, Datum und Unterschrift versehen ist

- Eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs für Asylwerber B1, Teil 2 vom 15.1.2019

- Eine Anmeldebestätigung für einen Deutschkurs für Asylwerber B1, Teil 1 vom 26.3.2019

- Eine Bestätigung, welcher zufolge der BF im Zeitraum vom 14.2. bis 14.3.2019 tageweise im Museum XXXX in XXXX tätig war und er die ihm gestellten Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit der Geschäftsführung getätigt hat

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben und hat die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde mit Schreiben vom 21.02.2019 beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II. 1. Feststellungen:

1.1. Der BF führt den Namen XXXX, ist Staatsangehöriger des Irak und wurde am XXXX geboren. Er ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Er ist ledig und hat keine Kinder, führt jedoch eine Beziehung in Österreich. Der BF spricht die Sprachen Arabisch und Kurdisch Bhedini.

Der BF wurde im Dorf XXXX geboren und ist dort aufgewachsen. Im Alter von acht Jahren zog er mit seinen Eltern in die Stadt XXXX und besuchte dort zwölf Jahre lang die Schule, ohne diese jedoch abzuschließen. Der BF half seinem Vater während der Schulzeit und in den Sommerferien in der Landwirtschaft.

Im Irak leben mehrere Onkel und Tanten des BF in verschiedenen Dörfern in der Provinz XXXX. Bei diesen handelt es sich überwiegend um Bauern.

Als der IS in die Nähe von XXXX kam, zog der BF nach XXXX und wohnte dort bis zu seiner Ausreise in einem Flüchtlingslager.

Zu Beginn des Jahre 2016 verließ der BF zusammen mit zwei Freunden den Irak schlepperunterstützt und reiste nach Aufenthalten in der Türkei und Griechenland sowie weiteren Staaten im Mai 2016 in Österreich ein und stellte hier am 25.4.2016 einen Asylantrag.

1.2. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der BF wurde vor seiner Ausreise in seinem Herkunftsstaat von Kämpfern und/oder Anhängern des IS weder bedroht noch angegriffen und hatte dieser auch anderweitig keine Übergriffe oder eine konkrete Bedrohung seitens der Milizen des IS zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer sonstigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere ist der BF im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit psychischer und/oder physischer Gewalt seitens des irakischen oder türkischen Regimes und/oder verbliebener Anhänger des Islamischen Staates und/oder schiitischer Milizen ausgesetzt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF in seinem Herkunftsstaat Strafverfolgung drohen würde. Ferner wird dem BF im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Anhängerschaft bzw. Unterstützung des IS oder ein sonstiges Naheverhältnis zum IS vor der Ausreise unterstellt werden.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

1.4. Der BF ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit mehrjähriger Schulbildung und Erfahrungen in der Landwirtschaft. Der BF leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht im Stande wäre, für ein ausreichendes Auskommen im Sinne der Sicherung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt wäre, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten. Dem BF ist auch eine Rückkehr in die von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Provinzen im Nordirak, insbesondere Erbil oder Dohuk, möglich und zumutbar.

Der BF verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat und über bestehende familiäre Anknüpfungspunkte in der Provinz XXXX; die Verwandten des BF sind überwiegend in der Landwirtschaft tätig. Dem BF ist ferner die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu Sicherstellung des eigenen Auskommens möglich und zumutbar.

Der BF verfügt über ein irakisches Ausweisdokument im Original (Personalausweis).

1.5. Der BF hält sich seit etwa Mitte Mai 2016 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Der BF ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

Der BF bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und bewohnt eine Unterkunft der Caritas.

Der BF hat vom 5.4.2018 bis 5.5.2018 ein Praktikum in einem Frisiersalon absolviert und wirkte am 4.11.2017 an einem Integrationsfest der Caritas mit. Im Zeitraum vom 14.2. bis 14.3.2019 war er tageweise im Museum XXXX in XXXX tätig. Zudem stellte er sich der Marktgemeinde XXXX für gemeinnütziger Tätigkeiten am Bauhof zur Verfügung, wobei er konkret Malerarbeiten in der Flüchtlingsunterkunft, Transport- und gärtnerische Leistungen verrichtet hat. Zudem schneidet der BF anderen Mitbewohnern in seiner Flüchtlingsunterkunft kostenlos die Haare. Der BF hat eine Beschäftigung als "Küchenbeihilfe" in Aussicht.

Der BF hat in Österreich keine Verwandten und pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte. Er hat eine Freundin in Österreich, welche Österreicherin ist. Der BF kennt ihren Vornamen, jedoch nicht ihren Nachnamen und weiß von dieser, dass sie in XXXX lebt und eine Ausbildung zur Köchin macht. Der BF lebt nicht mit seiner Freundin zusammen. Sie sehen sich am Wochenende und besuchen sich gegenseitig.

Der BF hat Integrationskurse gemacht und an Sprachkursen teilgenommen. Er verfügt über ein "ÖSD Zertifikat A2". Die Prüfung "ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B1" hat er nicht bestanden, jedoch hat er vom 20.11.2018 bis 15.1.2019 einen Deutschkurs für Asylwerber B1, Teil 2 besucht. Der BF spricht verständlich Deutsch, etwa auf dem Niveau B1.

Der BF hat Freunde in XXXX, mit denen er spazieren geht und gemeinsam isst. In seiner Freizeit unternimmt der BF auch Ausflüge, die von der Caritas organisiert werden oder lernt für seinen Deutschkurs.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der BF wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.6. Auszugsweise werden aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt (die Quellen wurden dem BF gegenüber offengelegt):

1. Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.7.2018)

Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS).

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf

Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).

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Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Autonome Region Kurdistan

Das Verhältnis der Zentralregierung zur kurdischen Autonomieregion, die einen semi-autonomen Status innehat, hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der Autonomieregion und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil umstrittener Gebiete am 25. September 2017 deutlich verschlechtert (AA 12.2.2018). Die Kurden konnten das von ihnen kontrollierte Territorium im Irak in Folge der Siege gegen den IS zunächst ausdehnen. Mit dem Referendum am 25.9.2017 versuchte die kurdische Regional-Regierung unter Präsident Masud Barzani, ihren Anspruch auch auf die von ihr kontrollierten Gebiete außerhalb der drei kurdischen Provinzen zu bekräftigen und ihre Verhandlungsposition gegenüber der Zentralregierung in Bagdad zu stärken (BPB 24.1.2018).

Bagdad reagierte mit der militärischen Einnahme eines Großteils der umstrittenen Gebiete, die während des Kampfes gegen den IS von kurdischen Peshmerga übernommen worden waren, angefangen mit der ölreichen Region um Kirkuk (AA 12.2.2018). Die schnelle militärische Rückeroberung der umstrittenen Gebiete durch die irakische Armee, einschließlich der Erdöl- und Erdgasfördergebiete um Kirkuk, mit massiver iranischer Unterstützung, bedeutete für die kurdischen Ambitionen einen Dämpfer. Präsident Barzani erklärte als Reaktion darauf am 29.10.2017 seinen Rücktritt. Der kampflose Rückzug der kurdischen Peshmerga scheint auch auf zunehmende Differenzen zwischen den kurdischen Parteien hinzudeuten (BPB 24.1.2018).

Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der kurdischen Autonomieregion (AA 12.2.2018)

Im Dezember 2017 forderte die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen gegen die Regionalregierung in Sulaymaniya mehrere Todesopfer. Daraufhin hat sich die Oppositionspartei Gorran aus dem kurdischen Parlament zurückgezogen (BPB 24.1.2018). In der Autonomieregion gehen die Proteste schon auf die Zeit gleich nach 2003 zurück und haben seitdem mehrere Phasen durchlaufen. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind jedoch gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018).

Am 30.9.2018 fanden in der kurdischen Autonomieregion Wahlen zum Regionalparlament statt (Tagesschau 30.9.2018). Mit einer Verzögerung von drei Wochen konnte die regionale Wahlkommission am 20.10.2018 die Endergebnisse veröffentlichen. Zahlreiche Parteien hatten gegen die vorläufigen Ergebnisse Widerspruch eingelegt. Gemäß der offiziellen Endergebnisse gewann die KDP mit 686.070 Stimmen (45 Sitze), vor der PUK mit 319.912 Stimmen (21 Sitze) und Gorran mit 186.903 Stimmen (12 Sitze) (ANF 21.10.2018; vgl. Al Jazeera 21.10.2018, RFE/RL 21.10.2018

Die Oppositionsparteien lehnen die Abstimmungsergebnisse ab und sagen, dass Beschwerden über den Wahlbetrug nicht gelöst wurden (Al Jazeera 21.10.2018).

2. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich. seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde. verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv. die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich. das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten. zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten. Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018)

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.2.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen. die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).

Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor. hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 4.10.2018) Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018)

Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018)

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 6.2.2018)

So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 6.10.2018).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt, im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 5.9.2018).

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Quelle: ACCORD (5.9.2018): Irak, 2. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus ACLED, https:// www.ecoi.net/en/file/local/1442566/1930 1536217374 2018a2iraa-de.pdf. Zugriff 29.10.2018

Laut Angaben von UNAMI. der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak. wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle. dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016 935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

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Quelle: IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence, https://www.iraqbodycount.org/database/. Zugriff 31.10.2018

Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards

 

Jan

Feb

Mar

Apr

May

Jun

Jul

Aug

Sep

Oct

Nov

Dec

 

2003

3

2

3977

3438

545

597

646

833

566

515

487

524

12,133

2004

610

663

1004

1303

655

909

834

878

1042

1033

1676

1129

11,736

2005

1222

1297

905

1145

1396

1347

1536

2352

1444

1311

1487

1141

16,583

2006

1546

1579

1957

1804

2278

2593

3298

2865

2565

3037

3095

2900

29,517

2007

3032

2679

2726

2566

2851

2216

2696

2481

1387

1324

1124

996

26,078

2008

858

1092

1667

1315

914

753

639

704

612

594

540

586

10,274

2009

372

407

438

589

428

563

431

653

350

441

226

478

5,376

2010

267

305

336

385

387

385

488

520

254

315

307

218

4,167

2011

389

254

311

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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