TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/20 W270 2210100-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.02.2020
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Entscheidungsdatum

20.02.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W270 2210100-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen die Beschwerdevorentscheidung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 13.11.2018, Zl. 16- XXXX , betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in Folge: "Beschwerdeführer") stellte am 17.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. In seiner am 18.05.2016 stattgefundenen Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er befragt zu seinen Fluchtgründen an, dass er Afghanistan aufgrund des Krieges verlassen habe. Darüber hinaus habe er auch keine Arbeit gehabt.

3. Am 03.08.2016 unterzog sich der Beschwerdeführer einer Untersuchung zur Volljährigkeitsbeurteilung durch einen Sachverständigen. Diese ergab ein absolutes Mindestalter von 18,79 Jahren im Zeitpunkt der Asylantragstellung bzw. als assoziiertes, spätestmögliches fiktives Geburtsdatum den XXXX .

4. In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 27.07.2018 gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass sein Bruder von den Taliban aufgefordert worden sei, sein Lebensmittelgeschäft in Taamir aufzugeben. Ein paar Tage danach sei ein Taliban Kommandant namens "Zacarya" und vier seiner Leute von Kräften der afghanischen Regierung getötet worden. Nach ein paar weiteren Tagen hätten die Taliban den Bruder des Beschwerdeführers dann als dieser am Weg zu seinem Geschäft gewesen sei, nach Badrau mitgenommen, dort sei dieser ermordet worden. Wieder ein paar Tage später seien bewaffnete Taliban zum Haus der Familie des Beschwerdeführers gekommen und hätten dem Vater des Beschwerdeführers Waffen für seine Söhne gegeben und gesagt, dass sie mit den Taliban nach Qurghal gehen und mit ihnen kämpfen müssten. Daraufhin sei die Familie nach Taamir und von dort weiter nach Kabul geflohen. Drei Tage hätten sie sich dort aufgehalten, dann seien der Beschwerdeführer und sein anderer Bruder nach Europa ausgereist. Der Beschwerdeführer sei von dem Kommandanten "Zacarya" außerdem auch drei oder vier Monate vor dessen Tod zusammengeschlagen worden. Dabei hätte der Kommandant ihm auch vorgeworfen, dass der Beschwerdeführer nichts mit den Taliban zu tun und nie für sie gekämpft habe.

5. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) mit Bescheid vom 18.10.2018 ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III. bis VI.). Die Behörde begründete ihren Bescheid im Wesentlichen damit, dass nicht habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer von staatsfeindlichen Gruppierungen bedroht worden sei. Auch eine staatliche bzw. dem Staat zurechenbare Verfolgung oder Bedrohung sei im Verfahrensverlauf nicht hervorgekommen. Beweiswürdigend führte die belangte Behörde dazu aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers aufgrund von deutlichen Steigerungen im Hinblick auf die Angaben der Erstbefragung sowie aufgrund der lediglich vagen, unplausiblen und zum Teil widersprüchlichen Darstellungen nicht glaubwürdig sei. Eine Neuansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif könne ihm bei Gegenüberstellung mit den Länderinformationen auch zugemutet werden, denn es handle sich beim Beschwerdeführer um einen volljährigen, arbeitsfähigen und arbeitswilligen, gesunden Mann mit Berufserfahrung in der Landwirtschaft und im Verkauf von Lebensmittel. Betreffend eine mögliche Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung sah die belangte Behörde in den von ihr zur Person des Beschwerdeführers sowie zu dessen Leben in Österreich getroffenen Feststellungen kein schützenswertes Privat-und Familienleben, welches einer solchen Entscheidung entgegenstehen könnte. Nach den getroffenen Feststellungen sah die belangte Behörde schließlich auch keine Umstände, insbesondere vor dem Hintergrund der Art. 2 und 3 EMRK, welche eine Abschiebung nach Afghanistan als unzulässig erscheinen lassen würden.

6. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom 07.11.2018 monierte der Beschwerdeführer insbesondere eine inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. In der Beschwerde wurde insbesondere unter Vorlage und Hinweis auf weitere Informationsquellen die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative bestritten und auch weitere Ausführungen zu einer "Verwestlichung" des Beschwerdeführers getroffen.

7. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 13.11.2018 wies die belangte Behörde die Beschwerde sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III. bis VI.). Begründend wurde auf das Wesentliche zusammengefasst ausgeführt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers auch nach neuerlicher Überprüfung im Zuge der Beschwerdevorentscheidung aufgrund vager, unplausibler und widersprüchlicher Angaben sowie hinzukommender Steigerungen in den Ausführungen zum Fluchtvorbringen in der Beschwerde nicht glaubhaft sei.

8. Mit Schreiben vom 21.11.2018 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Auch in diesem wird nochmals auf weitere Informationsquellen zur Lage in Afghanistan verwiesen.

9. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht.

10. Am 05.11.2019 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in deren Rahmen der Beschwerdeführer nochmal zu den geltend gemachten Fluchtgründen, einer möglichen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sowie seinem Leben in Österreich einvernommen wurde. Von Seiten des erkennenden Gerichtes wurden noch weitere länderkundliche und sonstige Informationen ins Verfahren eingeführt und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, von welcher der Beschwerdeführer keinen Gebrauch machte.

11. Mit Parteiengehör vom 14.11.2019, dem Beschwerdeführer zugestellt am 18.11.2019, wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Von seiner Möglichkeit zur Stellungnahme machte der Beschwerdeführer keinen Gebrauch.

II. Feststellungen:

1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1. Identität, Herkunft und Sprachkenntnisse:

1.1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen " XXXX " und ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan. Er wurde dort am XXXX in der Provinz Kapisa, im Distrikt Tagab , im Dorf XXXX geboren und ist dort auch aufgewachsen.

1.1.2. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Neben dieser verfügt er über keine weiteren Sprachkenntnisse.

1.2. Volksgruppe und Religion:

Der Beschwerdeführer gehört der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

1.3. Familiäre Situation und wirtschaftliche Lage:

1.3.1. Der derzeitige Aufenthaltsort der Eltern und der Schwestern des Beschwerdeführers ist unbekannt. Sein Bruder " XXXX " verstarb bereits vor der Ausreise des Beschwerdeführers.

1.3.2. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seinen Eltern und seinen Schwestern.

1.3.3. Ein Bruder des Beschwerdeführers, " XXXX " stellte am 18.05.2016 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, hält sich aber derzeit in Frankreich auf. Der Beschwerdeführer steht mit diesem auch regelmäßig in Kontakt.

1.4. Ausbildung und Berufserfahrung:

1.4.1. Der Beschwerdeführer verfügt über keine in Afghanistan erworbene schulische Bildung.

1.4.2. Der Beschwerdeführer arbeitete in Afghanistan gemeinsam mit seinem Vater in der familieneigenen Landwirtschaft und im Lebensmittelhandel. Der Familie gehörten Granatapfelbäume und sie verkauften die Granatäpfel u.a. nach Pakistan. Der Beschwerdeführer war darüber hinaus auch vier Jahre lang im Geschäft seines Bruders in Tamir tätig und hat dort geputzt oder Besorgungen für seinen Bruder gemacht.

1.5. Gesundheitszustand:

1.5.1. Der Beschwerdeführer ist gesund. Er leidet weder an schweren physischen noch psychischen Erkrankungen oder Gebrechen. Er befindet sich weder in ärztlicher Behandlung noch nimmt er Medikamente ein.

1.5.2. Der Beschwerdeführer hat jedoch seit ungefähr April 2019 gelegentlich Kopfschmerzen und Albträume bzw. schlechte Träume.

1.6. Ausreise aus Afghanistan und Antragstellung in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste ungefähr im März 2016 aus Afghanistan aus und stellte schließlich am 17.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Zum individuellen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.1. Der Beschwerdeführer wurde weder von den Taliban noch einer sonstigen regierungsfeindlichen oder regierungsfreundlichen Gruppierung bedroht, noch wurden sonstige Handlungen oder Maßnahmen gegen diesen gesetzt. Insbesondere kann festgestellt werden, dass die Taliban nicht versucht haben, den Beschwerdeführer - als Bombenleger - zu rekrutieren.

2.2. Nicht festgestellt werden kann, dass die Taliban für den Tod des Bruders des Beschwerdeführers oder den Tod seines Vaters verantwortlich sind.

2.3. Der Beschwerdeführer hatte in seinem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden noch wurde er wegen seiner Nationalität, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder seinem Bekenntnis zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen oder wegen einer Zugehörigkeit zu einer anderen gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen ihn gesetzt.

3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

3.1. Der Beschwerdeführer lebt in einer Unterkunft in XXXX .

3.2. Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Familienangehörige noch sonstige Verwandte. Er selbst ist ledig.

3.3. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine integrativen Handlungen gesetzt.

3.4. In seiner Freizeit spielt der Beschwerdeführer Fußball.

3.5. Der Beschwerdeführer ist weder Mitglied in einem Verein noch betätigt er sich in einem solchen.

3.6. Der Beschwerdeführer hat derzeit keine österreichischen Kontaktpersonen. Seine Kontakte beschränken sich auf Bekannte aus seiner Unterkunft, welche aus Pakistan, dem Iran und Afghanistan stammen.

3.7. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig. Er lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verfügt auch über keine Einstellzusage.

3.8. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

4. Zur persönliche Situation des Beschwerdeführers bei Rückkehr nach Afghanistan:

4.1. Allgemeines:

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück.

In Kooperation mit Partnerinstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten.

4.2. Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung:

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen.

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden. Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess. Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzt. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes, und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen. Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen.

Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor.

4.3. Unterstützung durch IOM:

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet im Bereich Rückkehr verschiedene Programme zur Unterstützung und Reintegration von Rückkehrern nach Afghanistan an. Hinsichtlich des Ausmaßes und der Art von Unterstützung wird zwischen freiwillig und unfreiwillig zurückgeführten Personen unterschieden.

So ist beispielsweise die Provinz Herat hauptsächlich von der Rückkehr von Afghanen aus dem Iran betroffen. Landesweit ist die Zahl der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan höher, als die der Rückkehrer aus Europa. Das von IOM durchgeführte Assisted Voluntary Return and Reintegration (AVRR) Programme besteht aus einer Kombination von administrativen, logistischen und finanziellen Unterstützungsmaßnahmen für Personen, welche beschließen, freiwillig aus Europa, Australien und der Türkei in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren. Im Zuge des AVRR-Programmes wurden im Jahr 2018 von IOM 2.182 Rückkehrer unterstützt. Etwa die Hälfte von ihnen erhielt Unterstützung bei der Gründung eines Kleinunternehmens.

Die "Reception Assistance" umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt.

IOM gewährte bisher zwangsweise rückgeführten Personen für 14 Tage Unterkunft in Kabul. Seit April 2019 erhalten Rückkehrer nur noch eine Barzahlung in Höhe von ca. 150 Euro sowie Informationen, etwa über Hotels. Die zur Verfügung gestellten 150 Euro sollen zur Deckung der ersten unmittelbaren Bedürfnisse dienen und können, je nach Bedarf für Weiterreise, Unterkunft oder sonstiges verwendet werden. Nach Auskunft des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) hat lediglich eine geringe Anzahl von Rückgeführten die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM genutzt.

Freiwillige Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die am Reintegrationsprojekt RESTART II teilnehmen, haben nach wie vor die Möglichkeit, neben der Unterstützung in Bargeld von 500 Euro, die zur Deckung der ersten unmittelbaren Bedürfnisse vorgesehen sind, eine Unterstützung für die Weiterreise und für temporäre Unterkunft bis zu max. 14 Tagen (in Kabul: Spinzar Hotel) zu erhalten. Unterstützungsleistungen aus dem Projekt RESTART II, welches durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union und das Österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanziert wird, können im gesamten Land bezogen werden und sind daher in Städten wie Mazar-e Sharif und/oder Herat dieselben wie in Kabul. Wichtig ist, dass die Teilnahme am Reintegrationsprojekt RESTART II durch das BFA und IOM für die Rückkehrerinnen und Rückkehrer bewilligt wurde.

In Österreich wird das Projekt Restart II seit 1.1.2017 vom österreichischen IOM-Landesbüro durchgeführt und vom österreichischen Bundesministerium für Inneres und dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU (AMIF) kofinanziert. Im Zuge dieses Projektes können freiwillige Rückkehrer/innen nach Afghanistan und in den Iran nachhaltig bei der Reintegration in ihr Herkunftsland unterstützt werden. Das Projekt läuft mit 31.12.2019 aus und sieht eine Teilnahme von 490 Personen vor.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019 [in Folge: "LIB"], Abschnitt 23. "Rückkehr")

5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

5.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

5.1.1. Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.

Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 3. "Sicherheitslage")

5.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Allgemeines

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen. Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben.

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll 12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

(Auszüge bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt. 3. "Sicherheitslage")

5.1.3. Grundversorgungs- und Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation hinsichtlich der Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.

(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 21. "Grundversorgung")

5.1.4. Rechtsschutz und Justizwesen in Afghanistan:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten. Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht.

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden.

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht.

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren.

Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen. Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politischer Einflussnahme und weit verbreiteter Korruption beeinflusst. Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent und innerhalb des Landes uneinheitlich angewandt.

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert.

Richterinnen und Richter

Das Justizsystem leidet unter mangelhafter Finanzierung und insbesondere in unsicheren Gebieten einem Mangel an Richtern. Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land.

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetzen. Ein Mangel an Richterinnen - insbesondere außerhalb von Kabul - schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben. Nichtsdestotrotz, gibt es in Afghanistan zwischen 250 und 300 Richterinnen. Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan.

Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt. Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen. Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive. Anklage und Verhandlungen basieren vorwiegend auf unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen und willkürlichen Entscheidungen, die oft nicht veröffentlicht werden.

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes. Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen. Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen. Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken. Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 4. "Rechtsschutz/Justizwesen")

5.1.5. Sicherheitsbehörden in Afghanistan:

Im Zeitraum 2011 - 2014 wurde die Verantwortung für die Sicherheitsoperationen in Afghanistan schrittweise auf die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) übertragen. Die ANSF setzt sich aus staatlichen Sicherheitskräften zusammen, darunter die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Luftwaffe (AAF), die afghanische Nationalpolizei (ANP), die afghanische lokale Polizei (ALP) und das National Directorate for Security (NDS), welches als Geheimdienst fungiert.

Die Wirksamkeit der afghanischen Streitkräfte hängt nach wie vor von der internationalen Unterstützung ab, um die Kontrolle über das Territorium zu sichern und zu behalten und die operative Kapazität zu unterstützen.

Die Polizeipräsenz ist auch in den Städten stärker und die Polizeibeamten sind verpflichtet, Richtlinien wie den ANP-Verhaltenskodex und die Richtlinien zum Einsatz von Gewalt einzuhalten. Die Reaktion der Polizei wird jedoch als unzuverlässig und inkonsistent bezeichnet, die Polizei hat eine schwache Ermittlungskapazität, es fehlt an forensischer Ausbildung und technischem Wissen. Der Polizei wird auch weit verbreitete Korruption, Gönnerschaft und Machtmissbrauch vorgeworfen: Einzelpersonen in den Institutionen können ihre Machtposition missbrauchen und Erpressung zur Ergänzung ihres niedrigen Einkommens einsetzen. Es kam weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Polizei, und Folter ist bei der Polizei endemisch. Untätigkeit, Inkompetenz, Straffreiheit und Korruption führen zu Leistungsschwächen.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019 [in Folge: "EASO-Länderleitfaden Afghanistan"], des European Asylum Support Office [in Folge: "EASO"], abrufbar https://www.easo.europa.eu/country-guidance, abgerufen 07.02.2020, S. 122 mit Verweis auf weitere Quellen)

5.1.6. Folter und unmenschliche Behandlung:

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Wenngleich Afghanistan die UN-Konvention gegen Folter ratifiziert hat, Gesetze zur Kriminalisierung von Folter erlassen hat und eine Regierungskommission zur Folter einsetzte, hat die Folter seit Regierungsantritt im Jahr 2014 nicht wesentlich abgenommen - auch werden keine hochrangigen Beamten, denen Folter vorgeworfen wird, strafrechtlich verfolgt.

Die Verfassung und das Gesetz verbieten solche Praktiken, dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Obwohl es Fortschritte gab, ist Folter in afghanischen Haftanstalten weiterhin verbreitet. Rund ein Drittel der Personen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden, sind gemäß einem Bericht der UNAMA von Folter betroffen. Es gibt dagegen keine Berichte über Folter in Haftanstalten, die der Kontrolle des General Directorate for Prison and Detention Centres des afghanischen Innenministeriums unterliegen. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger.

Der Anteil der Personen, die über Folter berichteten, ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken. Auch existieren große Unterschiede abhängig von der geografischen Lage der Haftanstalt: wurde bei einer Befragung durch UNAMA durchschnittlich von rund 31% der Befragten (45 Häftlinge) in ANP-Anstalten von Folter oder schlechter Behandlung berichtet (wenngleich dies ein Rückgang zum Vorjahreswert ist, der 45% betrug), so gaben 77% der Befragten (22 Häftlinge) aus einer ANP-Anstalt in Kandahar an, gefoltert und schlecht behandelt zu werden. Anstalten des NDS in Kandahar und Herat, konnten erwähnenswerte Verbesserungen vorweisen, während die Behandlung von Häftlingen in den Provinzen Kabul, Khost und Samangan auch weiterhin besorgniserregend war. Die Arten von Misshandlung umfassen schwere Schläge, Elektroschocks, das Aufhängen an den Armen für längere Zeit, Ersticken, Quetschen der Hoden, Verbrennungen, Schlafentzug, sexuelle Übergriffe und Androhung der Exekution.

Die afghanische Regierung hat Kontrollmechanismen eingeführt, um Fälle von Folter verfolgen und verhindern zu können. Allerdings sind diese weder beim NDS noch bei der afghanischen Polizei durchsetzungsfähig. Daher erfolgt eine Sanktionierung groben Fehlverhaltens durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bisher nur selten. Die Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte für Folter und Missbrauch ist schwach, intransparent und wird selten durchgesetzt. Eine unabhängige Beobachtung durch die Justiz bei Ermittlungen oder Fehlverhalten ist eingeschränkt bis inexistent. Mitglieder der ANP und ALP sind sich ihrer Verantwortung weitgehend nicht bewusst und unwissend gegenüber den Rechten von Verdächtigen.

Das Gesetz sieht Entschädigungszahlungen für die Opfer von Folter vor, jedoch ist die Barriere für einen Beweis der Folter sehr hoch. Für eine Entschädigungszahlung ist der Nachweis von physischen Anzeichen von Folter am Körper eines Inhaftierten notwendig.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 6. "Folter und unmenschliche Behandlung")

5.1.7. Binnenflüchtlinge:

Im Jahresverlauf 2018 verstärkten sich Migrationsbewegungen innerhalb des Landes aufgrund des bewaffneten Konfliktes und einer historischen Dürre. UNHCR berichtet für das gesamte Jahr 2018 von ca. 350.000-372.000 Personen, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes zu Binnenvertriebenen (IDPs, internally displaced persons) wurden. Trotz des im Zeitvergleich hohen Ausmaßes der Gewalt war im Jahr 2018 das Ausmaß der konfliktbedingten Vertreibungen geringer als im Jahr 2017, als ca. 450.000-474.000 Menschen durch den Konflikt innerhalb Afghanistans vertrieben wurden. Aufgrund der Dürre, vorwiegend in den Provinzen Herat und Badghis, kommen ca. 287.000 IDPs hinzu. Nach Angaben von UNOCHA sind im ersten Halbjahr 2019 rund 210.000 neue Konflikt induzierte Binnenflüchtlinge hinzugekommen. Mehr als die Hälfte von ihnen stammen aus den Provinzen Takhar, Faryab und Kunar.

Die Gesamtzahl von Binnenflüchtlingen lag IDMC zufolge Stand Jahresende 2018 bei ca. 2,598,000 Menschen.

Die meisten IDPs stammen aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten und suchen nach relativ besseren Sicherheitsbedingungen sowie Regierungsdienstleistungen in größeren Gemeinden und Städten innerhalb derselben Provinz.

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft.

IDPs sind in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kommt es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Mehr als 80% der Binnenvertriebenen benötigen Nahrungsmittelhilfe. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand haben oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen.

Die afghanische Regierung kooperiert mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung bezüglich vulnerabler Personen - inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran - ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Die Regierung hat einen Exekutivausschuss für Vertriebene und Rückkehrer sowie einen politischen Rahmen und einen Aktionsplan eingerichtet, der erfolgreiche Integration von Rückkehrern und Binnenvertriebenen fördert sowie humanitäre und entwicklungspolitische Aktivitäten erstellt und diese koordiniert.

(Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 20. "IDPs und Flüchtlinge")

5.1.8. Zu den Rückkehrern nach Afghanistan:

Die Zahlen der Rückkehrer aus Iran sind auf hohem Stand, während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen ist (2017: 154.000; 2018: 46.000), was im Wesentlichen mit den afghanischen Flüchtlingen jeweils gewährten Rechten und dem gewährten Status in Iran bzw. Pakistan zu begründen ist. Insgesamt sind in den Jahren 2012-2018 ca. 3,2 Millionen Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Seit dem Jahr 2016 hat sich die Zahl der Rückkehrer jedes Jahr deutlich verringert, jedoch hat sich die Zahl der Rückkehrer aus Europa leicht erhöht 15% aller Rückkehrer siedeln in die Provinz Nangarhar.

Je nach Organisation variieren die Angaben zur Zahl der Rückkehrer:

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 sind insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Davon waren 32.260 zwangsweise und 31.189 freiwillige Rückkehrer; 25.561 Personen kehrten aus dem Iran und aus Pakistan zurück; 1.265 aus Europa. 672 Personen erhielten Unterstützung von Hilfsorganisationen: Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück bzw. 180.000 Personen aus dem Iran und 125.000 Personen aus Pakistan. Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan.

Rückkehrer haben zu Beginn meist positive Reintegrationserfahrungen, insbesondere durch die Wiedervereinigung mit der Familie. Jedoch ist der Reintegrationsprozess der Rückkehrer oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen.

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind.

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt.

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren.

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 23. "Rückkehr")

5.2. Lage in der Heimatprovinz bzw. dem Heimatdistrikt des Beschwerdeführers:

5.2.1. Allgemeines:

Die Provinz Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans, umgeben von den Provinzen Panjshir im Norden, Laghman im Osten, Kabul im Süden und Parwan im Westen. Kapisa ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Alasai, Hissa-e-Awali Kohistan, Hissa-e-Duwumi Kohistan, Koh Band, Mahmood Raqi, Nijrab und Tagab. Mahmood Raqi ist die Provinzhauptstadt von Kapisa.

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Kapisa für den Zeitraum 2019-20 auf 479.875 Personen. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben.

Eine Hauptstraße verbindet die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi mit Kabul.

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Kapisa 2018 nicht zu den zehn wichtigsten afghanischen Provinzen, die Schlafmohn anbauen. Die Größe der Anbaufläche verringerte sich 2018 im Vergleich zu 2017 um 60%. Schlafmohn wurde hauptsächlich in den Distrikten Tagab und Alasai angebaut.

5.2.2. Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure:

Kapisa hat strategische Bedeutung: für Aufständische ist es einfach, die Provinzhauptstadt von Kapisa und die benachbarten Provinzen zu erreichen. Die Taliban sind in entlegeneren Distrikten der Provinz aktiv und versuchen oft, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung oder Sicherheitskräfte durchzuführen; wie z.B. im zentral gelegenen Distrikt Nijrab. Im März 2019 konnten sie beispielsweise drei Dörfer - Afghania, Pachaghan und Ghin Dara - in Kapisa erobern.

Aufseiten der Regierungskräfte liegt Kapisa in der Verantwortung des 201. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird.

5.2.3. Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung:

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kapisa gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

Tabelle kann nicht abgebildet werden

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 139 zivile Opfer (39 Tote und 100 Verletzte) in Kapisa. Dies entspricht einer Zunahme von 38% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge).

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Auch werden Luftangriffe ausgeführt - in manchen Fällen werden dabei auch hochrangige Taliban getötet oder Dörfer von den Taliban zurück erobert. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften.

5.2.4. IDPs - Binnenvertriebene:

UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 7.560 konfliktbedingt aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die hauptsächlich in der Provinz selbst, sowie in den benachbarten Provinzen Kabul und Parwan Zuflucht fanden. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 1.617 aus der Provinz Kapisa vertriebene Personen, die vor allem nach Kabul (973) kamen oder in Kapisa verblieben. Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 5.789 Vertriebene in die Provinz Kapisa, die vor allem aus der Provinz selbst (5.600) und aus benachbarten Provinzen stammten. Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 539 konfliktbedingt Vertriebene in die Provinz Kapisa, die alle aus dem Distrikt Nijrab stammten.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 3.16. "Kapisa")

5.2.5. Sicherheitslage im Jahr 2016:

Laut Fabrizio Foschini ist Kapisa soziologisch gespalten in einen südlichen Teil, in dem die Bevölkerung mit den regierungsfeindlichen Gruppierungen sympathisiert, und einen nördlichen Teil, der der Jamiat-e Islami treu ist, was die Unterstützung der Gemeinschaft für die Taliban weniger wahrscheinlich macht.

Laut Obaid Ali waren im April 2015 die drei sicherheitstechnisch schlechtesten Bezirke Alasai, Tagab und Nejrab. Im Jahr 2015 waren diese südlichen Bezirke für die meisten Vorfälle in Kapisa verantwortlich, die zu zivilen Opfern führten. Der südliche Distrikt Tagab ist durch relativ leicht begehbare Pässe mit den Distrikten Surobi in Kabul und Badpakh in Laghman verbunden. Daher wurde das weitere Gebiet zu einem wichtigen Grenzübergang und Zufluchtsort für regierungsfeindliche Kräfte, die vom Grenzgebiet aus tiefer nach Afghanistan vordrangen. Die Infiltration durch diesen "Tagab-Surobi-Korridor", aber auch der Groll über die Dominanz der Provinzpolitik und der Sicherheitsorgane der Nordtadschiken schürte den Aufstand in Kapisa. Die Taliban kontrollierten angeblich einen entscheidenden Abschnitt einer Autobahn, die nach Kabul führt.

In den letzten Jahren wurden die Taliban als eine disziplinierte Kraft bezeichnet, die in der Lage war, frei zu operieren und Befehle im Süden Kapisas zu erteilen und auszuführen. Im Jahr 2014 und Anfang 2015 wurde berichtet, dass die Kontrolle der Taliban in Tagab und so groß war, dass es den ANSF von den Taliban erlaubt wurde, ihre Stützpunkte nur eine Stunde pro Tag zu verlassen, um unbewaffnet auf den Basar zu gehen. Im April 2015 erklärte Obaid Ali, dass die Taliban ein Verwaltungssystem für den Distrikt Alasay eingerichtet hätten, das einen Militärrat, eine Finanzabteilung und sogar ein Gefangenenlager umfasse. In Tagab, Alasay und Nejrab soll die Regierung "im Verborgenen operieren". Die Justiz in Tagab und Alasay zog wegen Sicherheitsrisiken in die Provinzhauptstadt um. Stattdessen betrieben die Taliban Gerichte in Moscheen oder Privathäusern. Die Präsenz von Aufständischen und Sicherheitsprobleme in Tagab, Alasay und Teilen von Nejrab verhinderten auch den Zugang der humanitären Hilfe zur Bevölkerung. Die Bewohner von Tagab und Alasay klagten über den Mangel an medizinischen Einrichtungen, was insbesondere für schwangere Frauen ernste Probleme aufwirft. Im Jahr 2015 war laut Pajhwok Afghan News auch das 201. ANA-Armeekorps in Tagab aktiv.

In Alasay inszenierten Machtmakler, die

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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