Entscheidungsdatum
20.02.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W172 2192806-1/20E
Schriftliche Ausfertigung des am 17.12.2018 mündlich verkündeten
Beschlusses und Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX 1994, StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Thomas LOOS, Schönauerstraße 7, 4400 Steyr, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2018, Zl. 1076557807-150794972, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.12.2018
A)
- beschlossen:
I. Das Verfahren über die Beschwerde von XXXX gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.
- zu Recht erkannt:
II. Der Beschwerde von XXXX wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.12.2019 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX .2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 i.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").
Am gleichen Tag erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Steiermark.
2. Der Beschwerdeführer wurde am 17.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.
3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 09.03.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 11.04.2018 erhoben.
5. Am 17.12.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Weiters wurden in diese Verhandlung Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.2.).
Ferner wurde der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX (geb. XXXX .1987, afghanischer Staatsangehöriger), als Zeuge einvernommen.
In dieser Verhandlung wurde vom Beschwerdeführer nach Rechtsberatung auch seiner Rechtsvertretung die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen.
Am Schluss dieser Verhandlung wurde die gegenständliche Entscheidung mündlich verkündet.
6. Im Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich, zu:
- Identität (Tazkira des Vaters und des Großvaters des Beschwerdeführers, iranischer Impfpass, iranische Arztbestätigung der Geburt, iranische Arbeitserlaubnis, iranische Aufenthaltskarte, jeweils in Kopie);
- Vorbringen zu den Flucht- bzw. Verfolgungsgründen (iranische Dienstbestätigungen des Vaters des Beschwerdeführers, Dienstausweis des Vaters bei der afghanischen Armee, jeweils in Kopie, sowie sechs Fotos des Vaters);
- gesundheitlichen Beschwerden (Arztbriefe);
- Deutschsprachkursen (mehrere Bestätigungen bis einschließlich Deutschkursbestätigung B1/2 bzw. Prüfungszeugnis A1, A2 und B1);
- schulische Ausbildung und/oder sonstige berufsqualifizierende Maßnahmen (Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses, Bestätigung betreffend Teilnahme an Basisbildungskurs, Schnupperlehre - IFW mould tec GmbH, Grundbildung - Fokus Mathematik vom BFI Oberösterreich, Volontariat - TCG Unitech GmbH);
- gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten (betreffend die Gemeinde XXXX , den Verein XXXX , die Pfarre XXXX , die freiwillige Feuerwehr XXXX und Dolmetschereinsatz im Flüchtlingshaus in XXXX );
- sonstigen Integrationsmaßnahmen und -bemühungen (Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs; mehrere Empfehlungsschreiben).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX 1994 in XXXX im Iran geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Glaubensbekenntnis an. Seine Familie stammt aus der Provinz Sar-e-Pul, Dorf Sultan Qhajar, in Afghanistan. Sein Familienstand ist ledig und er hat keine Kinder. Seine Muttersprache ist Farsi. An Schulausbildung weist er acht Jahre Schulbesuch im Iran auf. Seine Berufsausbildung ist Friseur. Er war beruflich zuletzt als Schmuckverkäufer im Iran tätig. Er lebte seit seiner Geburt ausschließlich in XXXX im Iran bis zu seiner Ausreise am XXXX .2015, in Afghanistan war er noch nie. In Afghanistan leben keine weiteren Familienangehörigen von ihm mehr. Im Iran leben seine Eltern und seine Schwester, mit denen er vier bis fünf Mal im Monat über Internet oder Apps wie IMO oder WhatsApp Kontakt hat. Seine Mutter und seine Schwester sind zu Hause, sein Vater hat keine feste Arbeitsstelle und ist Straßenverkäufer oder auch Hilfsarbeiter. Der Beschwerdeführer und seine Familienangehörigen weisen kein Vermögen auf. In Österreich lebt ein Bruder und dessen Frau sowie Cousions und Cousinen von ihm. Seinen Bruder und dessen Frau sieht der Beschwerdeführer fast täglich, sie verbringen zum Teil auch die Freizeit gemeinsam, leben aber nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Bis vor ca. zwei Jahren lebten sie noch gemeinsam in einem Heim, dann zog sein Bruder mit seiner Frau in eine eigene Wohnung. Diese beiden sind seit neun Jahren ein Paar, seit sieben Jahren verheiratet, Kinder haben sie keine. Der Beschwerdeführer und sein Bruder unterstützen sich gegenseitig, sei es beim Erlernen der deutschen Sprache, sei es bei Behördenwegen, sei es aber auch finanziell.
Der Beschwerdeführer leidet an keinen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen. Er hält sich seit dem XXXX .2015 in Österreich auf und ist hier sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich unbescholten.
Bezüglich seines Aufenthaltes in Österreich ist anzuführen, dass der Beschwerdeführer sich seit ca. drei Jahren und fünf Monaten in Österreich aufhält. Eine Freundin oder eine vergleichbare intensive Beziehung zu einer anderen Person in Österreich weist er nicht auf. Seine österreichischen Freunde, auch gleichaltrige, kennt der Beschwerdeführer noch von seinem früheren Wohnort her, nämlich XXXX (heute wohnt er in XXXX ). Diese Freunde lernte er über deren Familien kennen. Mit diesen hat er eine gemeinsame Freizeitgestaltung (Theaterbesuche, Wamdern, Bergsteigen, gemeinsame Feiertagsbegehung, Familienpartybesuche). An Deutschkursen absolvierte der Beschwerdeführer A1-, A2- und B1-Kurse. Zusätzlich besuchte er auch die Basisbildung, wo Deutsch und Mathematik unterrichtet wurde, sowie den ersten Teil (erste Hälfte hervon) des B2-Kurses. Derzeit besucht er einen Abendlehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses). im Falle eines weiteren Aufenthaltes in Österreich will der Beschwerdeführer nach dem Hauptschulabschluss eine technische Lehre machen. Auch würde er bei der freiwilligen Feuerwehr mitarbeiten und dort auch eine Ausbildung machen. Der Beschwerdeführer übte verschiedene ehrenamtlichen bzw. gemeinnützigen Tätigkeiten aus. So war er an seinem Wohnort für die Kirchenreinigung und zwei Jahre lang jeden Monat jeweils 31 Stunden bei der Gemeinde tätig. Weiters war er für die Firma XXXX zwei Wochen lang geringfügig beschäftigt. In seinem Wohnheit übte er auch Dolmetschertätigkeiten für die Caritas aus. Der Beschwerdeführer war zudem bei der Gruppe MIMI aktiv, bei dieser wurden Abendkino und ähnliche Programme veranstaltet.
Für den Beschwerdeführer ist Religion nicht von großer Bedeutung, seine diesbezügliche Gleichgültigkeit wies er bereits im Iran auf. Er hält sich nicht an die entsprechenden religösen Regeln und Ernährungsvorschriften etwa des Islam. Er fastet nicht, betet nicht wirklich, trinkt, wenn auch nur gelegentlich, Bier und Most, und geht mit seinen Freunden gerne auch zu christlichen Feiern, auch wenn dies im Islam verboten ist. Seine Ablehnung gegenüber Schweinefleisch ist aber nicht religiös begründet, sondern in seiner Erziehung aufgrund der Essgewohnheiten. Der Beschwerdeführer befürwortet die Trennung von Religion und Staat in Österreich, Religion sollte laut ihm keinen größeren Einfluss auf die Politik haben. Gerade die Probleme in seinem Herkunftsstaat bzw. in asiatischen Ländern, wo Kämpfe wären, würden seiner Ansicht nach daraus resultieren, dass die Religion einen zu großen Einfluss hätte. Der Beschwerdeführer kleidet sich westlich-modern und hat ein entsprechendes Auftreten. Der Beschwerdeführer tritt für eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau und für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ein, so in Bezug auf gemeinsame Kindererziehung, gemeinsame finanzielle Entscheidungen, berufliche Beschäftigung auch der Frau, die Pflege ihres eigenen Freundeskreis neben seinem oder unterschiedslose Bildungs- und berufliche Förderung in der Erziehung von Töchtern und Söhnen.
1.2.1. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
I. Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz
1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 23.11.2018:
"Sar-i-Pul / Sar-e-Pul / Sar-i-Pol
Die nördliche Provinz Sar-i-Pul war bis 1988 Teil der Provinz Jawzjan (Pajhwok o.D.). Sie grenzt im Süden an die Provinzen Ghor und Bamyan, im Westen und im Norden an Faryab, Jawzjan und Balkh und im Osten an Samangan (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: der Provinzhauptstadt Sar-i-Pul/Sar-e-Pul, Sozma Qala/Sozmaqala, Sanga Charakh/Sancharak, Sayyad/Sayad, Kohistanat/Kohestanat, Kosfandi/Gosfandi und Balkhab (Pajhwok o.D.; vgl. UN OCHA 4.2014). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 578.639 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben Usbeken, Paschtunen, Hazara, Tadschiken und andere ethnische Gruppierungen (NPS o.D.).
Sar-i-Pul wird als eine der ressourcenreichsten Provinzen gesehen. Sie hat große Reserven an Erdöl, Kupfer und anderen natürlichen Bodenschätzen (Pajhwok o.D.). Mitte März wurden ca. 70.000 Obstbäume in verschiedenen Teilen der Provinz Sar-i-Pul gepflanzt; dies soll u. a. positive Auswirkungen auf die Lage der Bauern in der Provinz haben (Pajhwok 6.3.2018).
In der Provinz Sar-i-Pul stieg der Mohnanbau im Vergleich zu den 195 Hektar im Jahr 2014 auf 3.600 Hektar im Jahr 2017 (UNODC 11.2017).
Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage
Während die Provinz Sar-i-Pul im Februar und Juni 2017 noch zu den relativ friedlichen Provinzen in Nordafghanistan zählte (Khaama Press 27.6.2017; vgl. Khaama Press 5.2.2017), wurde sie im August 2017 als volatil bezeichnet (Tolonews 9.8.2017). Die Sicherheitslage in der Provinz Sar-i Pul hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, nachdem Aufständische der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Gruppierungen in gewissen Gegenden aktiv geworden sind (Khaama Press 18.12.2017; vgl. UNAMA 6.12.2017).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 74 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
Bild kann nicht dargestellt werden
Im gesamten Jahr 2017 wurden 108 zivile Opfer (67 getötete Zivilisten und 41 Verletzte) registriert. Hauptursache waren gezielte Tötungen, Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet eine Steigerung von 11% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen in Sar-i-Pul
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Terroristen zu befreien (Xinhua 24.1.2018; vgl. Xinhua 16.12.2017, Xinhua 16.8.2017, Khaama Press 8.4.2017, Khaama Press 24.1.2017); dabei werden Aufständische verhaftet (Khaama Press 24.1.2017) und getötet (Xinhua 16.12.2017). Auch werden Luftangriffe durchgeführt (Xinhua 24.1.2018); dabei werden Aufständische getötet (MT 26.3.2018; vgl. Xinhua 24.1.2018). Zusammenstöße zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften finden statt (DZ 6.8.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Sar-i-Pul
Regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen sind in einigen Distrikten aktiv und führen Angriffe aus (Khaama Press 27.6.2017; vgl. UNAMA 6.12.2017). Talibankämpfer sind in der Provinz aktiv (Gandhara 16.8.2017; vgl. AJ 2.3.2017) und rekrutieren neue Anhänger (LWJ 2.2.2018). Der IS gewinnt in einigen Distrikten der Provinz Terrain (Xinhua 14.1.2018; vgl. FE 12.12.2017, AJ 2.3.2018, Khaama Press 27.6.2016).
So sollen Mitglieder des IS gemeinsam mit den Taliban, zwei i. d. R. verfeindete Gruppierungen, im August 2018 einen bedeutenden Angriff verübt und zahlreiche Zivilisten getötet haben (Xinhua 16.8.2017; vgl. Gandhara 16.8.2017, FN 9.8.2017, DZ 6.8.2017, Gandhara 6.8.2017). Auch
ausländische Kämpfer sollen sich dem IS in Nordafghanistan, auch in der Provinz Sar-i Pul, angeschlossen haben (FE 12.12.2017; Khaama Press 24.1.2017).
Die Islamische Bewegung Usbekistan (IMU) ist in der Provinz aktiv und hat ein Trainingscamp in Sar-i-Pul (LWJ 2.2.2018); auch wird dem Anführer der Bewegung nachgesagt, in der Provinz für den IS zu rekrutieren (Tolonews 3.2.2017).
In einigen Fällen schließen sich Aufständische den Friedensprozessen in Sar-i-Pul an (Pajhwok 22.1.2018; vgl. Tolonews 23.1.2017).
Im Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden IS-bezogenen Vorfälle (Gewalt gegenüber Zivilisten und Ferngewalt) in der Provinz Sar-i-Pul registriert (ACLED 23.2.2018).
Quellen:
- ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (23.2.2018): Islamic State in Afghanistan, https://www.acleddata.com/2018/02/23/islamic-state-in-afghanistan/ Zugriff 29.3.2018
- AJ - Al Jazeera (2.3.2017): ISIL expands in Afghan-Pakistan areas, widening attacks, https://www.aljazeera.com/news/2017/03/isil-expands-afghan-pakistan-areas-widening-attacks- 170302041341156.html, Zugriff 29.3.2018
- CSO - Central Statistics Organization (CSO) Afghanistan (4.2017): Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, http://cso.gov.af/Content/files/%D8%AA%D8%AE%D9%85%DB%8C
%D9%86%20%D9%86%D9%81%D9%88%D8%B3/Final%20Population%201396.pdf, Zugriff 4.5.2018
- DZ - Die Zeit (6.8.2017): Taliban und IS ermorden mehr als 50 Zivilisten, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/afghanistan-taliban-is-kaempfe-sar-i- pul, Zugriff 29.3.2018
- EASO - European Asylum Support Office (12.2017): EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Security Situation, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO_Afghanistan_security_situation_201 7.pdf#page=1&zoom=auto,-468,842, Zugriff 29.3.2018
- FE - Financial Express (12.12.2017): Afghanistan forces to launch operation against Islamic State in the north, http://www.financialexpress.com/world-news/afghanistan-forces-to-launch- operation-against-islamic-state-in-the-north/970687/, Zugriff 29.3.2018
- FN - Fox News (9.8.2017): ISIS, Taliban joined forces in brutal Afghan massacre that killed 50, officials say, http://www.foxnews.com/world/2017/08/09/isis-taliban-joined-forces-in-brutal- afghan-massacre-that-killed-50-officials-say.html, Zugriff 29.3.2018
- Gandhara (16.8.2017): Afghan Police Discover Mass Graves After Village Attack, https://www.rferl.org/a/afghanistan-taliban-islamic-state-mass-graves-shiite/28679707.html, Zugriff 29.3.2018
- Gandhara (6.8.2017): Local Afghan Officials Say Taliban, IS Teamed Up In Deadly Village Attack, https://www.rferl.org/a/afghanistan-taliban-militiants-dozens-killed-sari-pul/ 28661619.html, Zugriff 29.3.2018
- Khaama Press (5.2.2017): Uprising commander joins Taliban group with his 14 men in Sar-e- Pul, http://www.khaama.com/uprising-commander-joins-taliban-group-with-his-14-men-in-sar-e- pul-02809, Zugriff 29.3.2018
- Khaama Press (27.6.2017): ISIS militants behead alleged sorcerer in North of Afghanistan, https://www.khaama.com/isis-militants-behead-alleged-sorcerer-in-north-of-afghanistan- 03239/, Zugriff 28.3.2018
- Khaama Press (8.4.2017): Taliban's deputy governor and 6 Tajik militants among dozens killed in Kunduz, https://www.khaama.com/talibans-deputy-governor-and-6-tajikistanis-among- dozens-killed-in-kunduz-02526/, Zugriff 28.3.2018
- Khaama Press (24.1.2017): Growing foreign insurgents' activities in Afghanistan, http://www.khaama.com/afghan-police-arrest-terrorists-hailing-from-turkmenistan-kazakhstan- 02738, Zugriff 29.3.2018
- LWJ - Long War Journal (2.2.2018): Taliban promotes Abu Bakr Siddique training camp, https://www.longwarjournal.org/archives/2018/02/taliban-promotes-abu-bakr-siddique-training- camp.php, Zugriff 29.3.2018
- MT - Military Times (26.3.2018): Is ISIS gaining 'serious' ground in Afghanistan? Russia says yes. The US says no, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2018/03/26/is-isis-gaining- serious-ground-in-afghanistan-russia-says-yes-the-us-says-no/, Zugriff 29.3.2018
- NPS - Naval Postgrauate School (o.D.): Sar-i-Pol Provincial Review, https://my.nps.edu/web/ccs/sar-i-pol, Zugriff 29.3.2018
- Pajhwok (6.3.2018): 70.000 fruit seedlings distributed in Sar-i-Pul, https://www.pajhwok.com/en/2018/03/06/70000-fruit-seedlings-distributed-sar-i-pul, Zugriff 29.3.2018
- Pajhwok (22.1.2018): 11 Taliban join peace process in Sar-i-Pul, https://www.pajhwok.com/en/ 2018/01/22/11-taliban-join-peace-process-sar-i-pul, Zugriff 29.3.2018
- Pajhwok (o.D.): Background Profile Sar-i-Pul province, http://elections.pajhwok.com/en/content/ background-profile-sar-i-pul-province, Zugriff 29.3.2018
- Tolonews (9.8.2017): Ghani Faces Backlash After Mass Killing in Sar-e-Pul, https://www.tolonews.com/afghanistan/ghani-faces-backlash-after-mass-killing-sar-e-pul, Zugriff 29.3.2018
- Tolonews (3.2.2017): Governor Concerns Over Sar-e-Pul Security, http://www.tolonews.com/afghanistan/provincial/governor-concerns-over-sar-e-pul-security, Zugriff 29.3.2018
- Tolonews (23.1.2017): Eight Insurgents Renounce Violence In Sar-e-Pul, http://www.tolonews.com/afghanistan/eight-insurgents-renounce-violence-sar-e-pul, Zugriff 29.3.2018
- UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (2.2018): Afghanistan: Protection of Civilians in Armed Conflict - Annual Report 2017,
https://unama.unmissions.org/sites/default/files/15_february_2018_-
_afghanistan_civilian_casualties_in_2017_-_un_report_english_0.pdf, Zugriff 29.3.2018
- UNAMA - United Nations Assitance Mission in Afghanistan (6.12.2017): Speaking out against violent extremism, afghans strive to create a new peace dialogue, https://unama.unmissions.org/speaking-out-against-violent-extremism-afghans-strive-create- new-peace-dialogue, Zugriff 29.3.2018
- UN OCHA (4.2014): Sar-e-Pul Province District Atlas, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/ files/Sar-e-Pul_0.pdf, Zugriff 29.3.2018
- UNODC - United Nations Office on Drugs and Crime (11.2017): Afghanistan Opium Survey 2017,
https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Afghan_opium_survey_2017_cult_prod_w eb.pdf, Zugriff 29.3.2018
- Xinhua (24.1.2018): 15 militants killed in fresh airstrike in Afghanistan, http://www.xinhuanet.com/english/2018-01/24/c_136920684.htm, Zugriff 29.3.2018
- Xinhua (14.1.2018): Clash between Taliban, IS kills 1, wounds 2 in N. Afghan province, http://www.xinhuanet.com/english/2018-01/14/c_136895177.htm, Zugriff 29.3.2018
- Xinhua (16.12.2017): 5 civilians killed as Afghan forces fight for retaking Tabar valley in northern Afghanistan, http://www.xinhuanet.com/english/2017-12/16/c_136830853.htm, Zugriff 29.3.2018
- Xinhua (16.8.2017): Mass grave in northern province exposes IS brutality in Afghanistan, http://www.xinhuanet.com/english/2017-08/16/c_136530502.htm, Zugriff 29.3.2018"
II. Lage der Hazara
2. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 27.06.2016 zur Situation der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan (a-9695-1):
"Chris Johnson, die in den Jahren 1996 bis 2004 unter anderem als Mitarbeiterin in der im Bereich Entwicklungszusammenarbeit tätigen NGO Oxfam und der Forschungseinrichtung Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) in Afghanistan tätig war, schreibt in einer aus dem Jahr 2000 stammenden Studie zu Hazarajat, dass dieses Gebiet die Provinz Bamiyan sowie Teile von benachbarten Provinzen umfasse. Die exakten Grenzen des Hazarajat seien umstritten, doch würden diese für den Zweck der Studie mit jenen des Gebietes alten Schura gleichgesetzt, das die folgenden Distrikte umfasse: Schebar, Bamiyan, Panjao, Waras, Yakawlang (Provinz Bamiyan); Balchab (Jowzjan); Dar-e-Souf (Samanghan); Lal o Sari Jangal (Ghor); Dai Kundi, Sharistan (Uruzgan); Malistan, Jaghori, Nawor (Ghazni); Behsud I und Behsud II (Wardak). Obwohl es auch möglich sei, historisch von einem noch größeren Gebiet Hazarajat zu sprechen, würden alle genannten Distrikte im Allgemeinen als Teil des Hazarajat anerkannt, und diese Definition des Gebietes entspreche auch den Realitäten der Arbeit der Hilfsorganisationen. Das Hazarajat stelle das am stärksten mono-ethnische Gebiet Afghanistans dar. Die Bevölkerung des Gebiets setze sich überwiegend aus Imami-Schiiten zusammen, obwohl es dort auch einige Ismaili-Schiiten sowie auch sunnitische Hazara gebe. Das am stärksten ethnische gemischte Gebiet innerhalb des Hazarajat sei die Provinz Bamiyan, deren Bevölkerung sich zu 67% aus Hazara, 15% aus Tadschiken, 14% aus Sayyed und zu knapp 2% aus Paschtunen sowie 2% aus Quizilabasch zusammensetze. Insgesamt habe es in den zwei Jahrzehnten vor Veröffentlichung der Studie eine Zunahme an ethnischen Spannungen gegeben, die sich nicht von der politischen Entwicklung loslösen lasse.
Doch auch innerhalb der ethnischen Gruppe der Hazara gebe es Gegensätze und ein System von Untergruppen, das derart komplex sei, dass sich das Ausmaß, in dem sich die Mitglieder dieser Gruppen als eigene Gruppe angesehen hätten, je nach Zeit in Abhängigkeit von den in dem Gebiet aktiven politischen Bewegungen unterschiedlich gewesen sei. Die Gruppenzugehörigkeit gehe sowohl aus Mustern traditioneller Führung in Bezug auf Land, Familie und Religion ab und diese Führungsmuster könnten sich überschneiden. Am ambivalentesten sei der Status der Sayyed, welche die traditionelle religiöse Führung der Hazara bilden und rund vier bis fünf Prozent der Bevölkerung des Hazarajat ausmachen würden. Sie würden ihre Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückführen und seien ursprünglich Araber gewesen. Während Ehen zwischen Hazara-Männern und Sayyed-Frauen selten seien, komme es häufig zu Eheschließungen zwischen Sayyed-Männern und Hazara-Frauen. Manchmal würden sich Sayyed selbst als Hazara bezeichnen und auch von anderen als solche bezeichnet. In anderen Fällen würden sich die Sayyed als eigene Gruppe bezeichnen.
In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) die Situation von Hazara wie folgt:
?Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen' (SFH, 13.09.2015).
Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums (US Department of State, USDOS) zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr 2015) hält fest, dass im November 2015 unbekannte Bewaffnete mindestens 14 Hazara-Männer aus Bussen in der Provinz Zabul entführt hätten. Über deren Verbleib hätten bis Dezember 2015 keine Informationen vorgelegen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen. Mit Stand November 2015 seien die übrigen vier Geiseln weiterhin vermisst gewesen. Im März 2015 sei es im ganzen Land zu Protesten gekommen, bei denen Demonstrierende die Regierung aufgefordert hätten, die 31 im Februar entführten Hazara freizubekommen. Im November 2015 seien in Städten im ganzen Land Proteste ausgebrochen, nachdem Aufständische mit mutmaßlichen Verbindungen zum Islamischen Staat (IS) sieben Hazara in der Provinz Zabul enthauptet hätten, darunter zwei Frauen und ein neunjähriges Mädchen. Die Demonstrationen seien ein Ausdruck öffentlichen Unmuts gegen die Unfähigkeit der Regierung gewesen, mit der Bedrohung durch Aufständische fertig zu werden und hätten ein Licht auf die Ängste der Hazara vor weiteren Anschlägen geworfen.
Weiters berichtet das USDOS von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung von Hazara in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden, als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Wie das USDOS weiter bemerkt, seien ethnische Hazara, Sikhs und Hindus zusätzlich zur allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung weiterhin von Diskriminierung bei der Jobeinstellung und bei der Zuteilung von Arbeiten betroffen.
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnische gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können. 13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere während der Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Spionage für die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen.
UNAMA führt folgende Beispiele für Entführungen und anschließende Tötungen von Hazara an: Am 23.02.2015 seien im Bezirk Shajoy der Provinz Zabul 30 Hazara-Insassen zweier öffentlicher Busse, die von Herat nach Kabul unterwegs gewesen seien, entführt worden. Drei der Entführungsopfer seien während ihrer Gefangenschaft getötet worden, während zwei offenbar aufgrund von natürlichen Ursachen verstorben seien. Zwischen Mai und August 2015 seien die übrigen Geiseln freigelassen worden, nachdem es Berichten zufolge zu einem Austausch mit einer Gruppe von Häftlingen gekommen sei. Am 13.10.2015 hätten regierungsfeindliche Kräfte sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter zwei Frauen, zwei Jungen und ein Mädchen, die sich auf der Autobahn zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Distrikt Jaghuri (Provinz Ghazni) befunden hätten, entführt. Stammesälteste hätten sich vergeblich um deren Freilassung bemüht. Die Hazara seien im Distrikt Arghandab der Provinz Zabul festgehalten worden, bis Kämpfe zwischen revalisierenden regierungsfeindlichen Gruppen, darunter auch der Gruppe, zu denen die Entführer gehört hätten, ausgebrochen seien. Im Zeitraum von 6. bis 8. November hätten die reguierungsfeindlichen Kräfte allen sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter auch den Kindern, die Kehlen durchgeschnitten. Dieser Vorfall habe Demonstrationen in der Stadt Kabul ausgelöst, bei denen mehr Schutz für die Hazara-Gemeinde gefordert worden sei."
3. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. RASULY vom 17.02.2016 zur Lage der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W119 2102332-1:
"[...]
Die Lage der Hazara seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001:
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes wurde Ende 2001 in einer Konferenz in Bonn festgelegt, dass alle Ethnien Afghanistans, einschließlich der Hazara, an der staatlichen Macht beteiligt werden müssen. So haben die Hazara und andere schiitische Gruppen seit Ende 2001 im afghanischen Staat einen stellvertretenden Staatspräsidenten, fünf Ministerposten und jeweils einen stellvertretenden Minister im Staatssicherheits-, Verteidigungs- und Innenministerium. Außerdem haben sie mehrere Schlüsselpräsidien in diesen Ministerien. Der stellvertretende Armee-Chef ist derzeit ein Hazara namens General Morad Ali Morad. General Morad hat weitgehende Befehlsbefugnisse und befehligt derzeit in verschiedenen Provinzen wie Kunduz, Baghlan oder Helmand die Operationen gegen die Taliban. Die Hazara-Parteien, allen voran die Hezb-e Wahdat, kontrollieren derzeit die Hauptsiedlungsgebiete der Hazara im Rahmen der staatlichen Authorität.
Diese Gebiete sind: Bamiyan, Daykundi, die Distrikte Jaghuri, Malistan, Nawur, Jaghatu, Teile von Qarabagh usw. in der Provinz Ghazni, die Hazara-Wohnbezirke in Mazar-e Sharif und einige Distrikte der Provinzen Samangan, wie Dara-e Suf, Hazara-Siedlungsgebiete in der Provinz Sara-e Pul und in der Provinz Balkh, sowie die von Hazara bewohnten Distrikte und Dörfer in der Provinz Maidan Wardak, v.a. Hessa-i-Awal-i Behsud, Behsud-i Markazi und Daymirdad. Die Hazara sind in Kabul im politisch-kulturellen Leben und im Bildungs- und Wirtschaftsbereich maßgebend vertreten. Sie betreiben mehrere Fernsehsendungen und haben dutzende Privatuniversitäten und Institute im Land. Sie stellen in den staatlichen Universitäten im Verhältnis zu ihrer Anzahl mehr Studenten als jede andere Ethnie des Landes, weil sie durch ihre leidgeprüfte Geschichte die derzeitigen Möglichkeiten besser wahrnehmen.
Die Hazara und andere Schiiten haben in Großstädten wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eigene islamische Bildungseinrichtungen für die schiitische Islam-Lehre. Diese werden vom Iran finanziert und mit Lehrkräften unterstützt. Die Hazara als Schiiten dürfen zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans seit dem Sturz des Taliban-Regimes ungestört und in vollem Umfang schiitische Rituale, wie den wichtigsten Feiertag Ashura, den Gedenktag an den Märtyrertod Imam Husain, mit Prozessionen auch in den nicht schiitischen Bezirken in Kabul und Mazar-e Sharif und in anderen Städten zelebrieren, ohne von den Sunniten gestört und lächerlich gemacht zu werden. Früher haben sie nur in ihren Moscheen unter sich gefeiert. Ca. ein Drittel der Parlamentsabgeordneten in Kabul sind Hazara bzw. Schiiten und sind mit den sunnitischen Abgeordneten gleichberechtigt am politischen Prozess beteiligt. Somit sind die Hazara an der Staatsgewalt maßgebend beteiligt. Sie waren bis zum Sturz des Taliban-Regimes im Jahre 2001 in diesem Ausmaß in Afghanistan nie an der staatlichen Macht beteiligt.
Sie sind nicht nur an der Zentralgewalt beteiligt, sondern sie stellen auch die Gouverneure und die Sicherheitskommandanten in den Provinzen Bamiyan, Daikundi und in allen anderen hauptsächlich von den Hazara bewohnten Distrikten in Ghazni und in Maidan Wardak. Alle bedeutenden Distrikte wie Jaghuri, Malistan, Jaghatu, Nawur und Teile von Qarabagh in Ghazni werden von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat behördlich verwaltet. Auch in Maidan Wardak werden die Hauptsiedlungsgebiete von Hazara, wie Hisa-i-Awal-i Behsud, Behsud-e Markazi und Day Mirdad, von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat kontrolliert und verwaltet. Mit ihrer neuen Stellung, ihrer Widerstandsfähigkeit und ihren Möglichkeiten befinden sich die Hazara in Afghanistan seit Ende 2001 nicht mehr in einer Opferrolle. Sie sind im Stande, sich kollektiv mit ihren Möglichkeiten im Rahmen des Staates zu verteidigen. Allerdings kommt es vor, dass immer wieder Taliban auf den Hauptstraßen zwischen den Provinzen im Süden, Westen und auf dem Weg nach Maidan Wardak und Bamiyan Reisebusse anhalten und bestimmte Reisende mitnehmen. Die meisten dieser Geiseln auf diesen Strecken sind Hazara. In den Jahren 2013 bis 2015 ist es mehrere Male vorgekommen, dass auf dieser Strecke Hazara aus den Reisebussen gezerrt und mitgenommen worden sind. Einige von ihnen wurden freigelassen, Dutzende wurden getötet. Diese Aktionen der Taliban richten sich nicht nur gegen die Hazara, sondern die Taliban töten und entführen auch Paschtunen, Usbeken und Tadschiken. Bei jeder dieser Aktionen erwecken die Taliban den Anschein, als wäre sie nur gegen die jeweilige Volksgruppe, deren Mitglieder sie gerade entführt und getötet haben, gerichtet. Die Hauptroute von Kabul über den Salang-Pass nach Norden, Baghlan - Mazar-e Sharif - Kunduz, wird hauptsächlich von Paschtunen, Tadschiken und Usbeken befahren. Die Strecke zwischen Baghlan und Kunduz ist sehr gefährlich und die Reisenden versuchen, bis 14 Uhr die Strecke Baghlan nach Kunduz zu passieren, weil nachmittags die Taliban die Route immer wieder kurzfristig unter ihre Kontrolle bringen. Sie zerren willkürlich Personen aus Reisebussen und Taxis und nehmen sie als Geiseln mit. Einige dieser Personen werden von den Taliban später getötet. Dies sind großteils Tadschiken und Usbeken. Die meisten von den Taliban kontrollierten Gebiete in Afghanistan werden von Usbeken, Paschtunen und Tadschiken bewohnt. In diesen Gebieten werden die Menschen willkürlich bestraft und Personen, die einmal für die Regierung gearbeitet haben, geraten unter die Verfolgung und Unterdrückung der Taliban. Die Provinzen und Distrikte, wo hauptsächlich die Hazara wohnen, werden von diesen kontrolliert. Sie haben bis jetzt ihre Siedlungsgebiete soweit geschützt, dass die Taliban dort nicht eindringen konnten. Aber Distrikte wie Gisab in Uruzgan und Nirkh in Maidan Wardak, die auch von Paschtunen bewohnt werden, sowie einige Dörfer, die in den mehrheitlich von Paschtunen oder Usbeken bewohnten Gebieten liegen, werden nicht von den Hazara-Parteien kontrolliert. Manche dieser Gebiete werden immer wieder von den Taliban kurzfristig kontrolliert.
Die Taliban sind Anhänger der arabischen Fundamentalisten, allen voran Saudis, die gegen den Iran und damit gegen die Schiiten eingestellt sind. Daher kommt es immer wieder vor, dass die Taliban ihre Opfer, wenn sie Schiiten sind, zur Schau stellen. Aber sie bringen mehr Paschtunen und Usbeken um, deren Gebiete sie leicht unter ihre Kontrolle bringen können. In diesen Gebieten kommt es häufig vor, dass die Taliban willkürlich Menschen verfolgen, töten und die Jugendlichen, wenn sie benötigt werden, rekrutieren. Eine Zwangsrekrutierung seitens der Taliban ist dort möglich, wo sie vorherrschen.
Diese Gebiete liegen in den von Paschtunen und Usbeken bewohnten Provinzen, wie Nangarhar, Kandahar, Kunar, Kunduz, Faryab, Helmand usw. Wenn die Jugendlichen sich nicht dort befinden oder sich der Zwangsrekrutierung der Taliban entziehen und in Großstädte oder ins Ausland flüchten, werden sie von den Taliban nicht weiter gesucht. Allerdings können diese Jugendlichen nicht mehr in ihre Heimatregion zurückkehren, wenn die Taliban weiterhin dort vorherrschend sind. Zwangsrekrutierung ist nicht weit verbreitet, weil viele Jugendliche aus Gründen der Arbeitslosigkeit und ethnischer Solidarität sich den Taliban anschließen. Auch gibt es Regionen, deren Bevölkerung aus Gründen des Paschtunwali - dem Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen - es in "Krisenzeiten" für notwendig erachtet, den Taliban freiwillig Soldaten bereitzustellen. Die meisten Opfer der Taliban sind von 2013 bis Februar 2016 in den von Paschtunen bewohnten Provinzen Kandahar, Nangarhar, Kunar, Helmand, Logar, Wardak und in den Provinzen Kunduz, Faryab, Baghlan und Badakhshan zu verzeichnen, wo hauptsächlich Usbeken, Tadschiken und Paschtunen wohnen. Die Taliban haben im Oktober 2015 die Stadt Kunduz eingenommen und in wenigen Tagen den UNO-Berichten zufolge mehr als 800 Menschen getötet. Die getöteten Zivilisten waren Tadschiken und Usbeken. Derzeit werden die meisten Distrikte von Nangarhar von den Taliban kontrolliert und von ihnen werden immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. [...]"
III. Situation von Rückkehrern aus Iran und Pakistan
4. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 12.06.2015 zur Situation von afghanischen Staatsangehörigen (v.a. Angehörigen der Volksgruppe der Hazara), die aus dem Iran oder Pakistan nach Afghanistan zurückkehren (a-9219):
"[...]
In einem im August 2014 veröffentlichten Artikel für die British & Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), ein Dachverband von in Afghanistan tätigen britischen und irischen Hilfsorganisationen, berichtet die freiberufliche Forscherin und Autorin Vanessa Thevathasan über die Lage junger afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran und Pakistan. Laut Thevathasan seien viele nach ihrer Rückkehr aufgrund des anhaltenden Konflikts und der schlechten Sicherheitslage zu Binnenvertriebenen geworden. Sie seien gezwungen, in Zelten zu leben, und hätten nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser.
Die Mehrheit der AfghanInnen sichere sich den Lebensunterhalt durch Subsistenzlandwirtschaft und informellen Handel. In den Städten seien die meisten entweder selbstständig oder GelegenheitsarbeiterInnen. Die Verankerung dieses informellen Sektors sowie der Mangel an grundlegenden Diensten habe Afghanistans Fähigkeit untergraben, der Forderung der internationalen Gemeinschaft nach einer organisierten Rückkehr und Reintegration afghanischer Flüchtlinge nachzukommen. Die Situation sei besonders für zurückkehrende afghanische Jugendliche hart [...]
Stars and Stripes, eine Nachrichtenwebsite, deren Aufgabe es laut eigenen Angaben ist, die US-Militärgemeinde mit unabhängigen Nachrichten und Informationen zu versorgen, schreibt in einem Artikel vom Jänner 2015, dass sich immer noch mehr als 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im Ausland aufhalten würden, vor allem in den Nachbarländern Pakistan und Iran. Angesichts wirtschaftlicher Probleme und der zunehmenden Gewalt sei das Ausmaß der freiwilligen Rückkehr auf 16.000 Personen im Jahr 2014 zurückgegangen. Im Jahr zuvor seien noch mehr als doppelt so viele Personen zurückgekehrt.
Zurückkehrende Flüchtlinge hätten Zugang zu einer Reihe internationaler Hilfsmaßnahmen, etwa Zuschüssen von rund 200 US-Dollar als Hilfe zur Deckung von Transport- und Reintegrationskosten, temporären Unterkünfte, Unterweisungen in den Bereichen rechtliche Hilfe und (Aus )Bildung, sowie Impfungen für Kinder. Die afghanische Regierung habe zurückkehrenden Flüchtlingen und anderen vertriebenen Personen Land zugewiesen, allerdings sei die Fähigkeit der Regierung, andere Dienste wie (Aus )Bildung und Gesundheitsversorgung bereitzustellen, begrenzt.
Einem für die Provinz Herat zuständigen Offiziellen zufolge würden Flüchtlinge alles verlieren, wenn sie versuchen würden, wieder nach Afghanistan zu kommen. Die afghanische Regierung verfüge nicht über die nötigen Ressourcen, um allen zu helfen.
[...]
Die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), eine unabhängige Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul, geht in einem Bericht vom Juli 2009 auf die Erfahrungen junger AfghanInnen bei ihrer Rückkehr aus Pakistan und dem Iran ein. Wie der Bericht anführt, sei die soziale Ablehnung durch AfghanInnen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben seien, eine schwierige Erfahrung für einige RückkehrerInnen der zweiten Generation gewesen. Es gebe zwei wichtige Gründe, warum Flüchtlinge der zweiten Generation bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit dieser sozialen Exklusion konfrontiert seien: Zum einen könnten einige Flüchtlinge als ?Eindringlinge' in die afghanische Gesellschaft angesehen werden, zum zweiten könnte es sich um das erste Mal handeln, dass sie als AfghanInnen mit tiefgreifenden ethnischen und Stammes-Unterschieden unter ihren Landsleuten konfrontiert würden.
Rund ein Viertel der befragten RückkehrerInnen, die meisten aus dem Iran, aber auch einige aus Pakistan, hätten berichtet, dass sie bzw. Familienangehörige oder Freunde von anderen AfghanInnen wegen ihrer Rückkehr aus einem anderen Land geächtet worden seien. Bei den RückkehrerInnen, die dies berichtet hätten, habe es sich vor allem um alleinstehende, gebildete und weibliche Personen gehandelt. Zurückgekehrte Frauen seien relativ einfach anhand ihrer Kleidung auszumachen und ihre Erscheinung und ihr Verhalten könnten im Widerspruch zu den lokalen kulturellen Erwartungen und sozialen Codes stehen. Bei diesen RückkehrerInnen handle es sich eindeutig um ?AußenseiterInnen', die leichte Ziele für Schikanierungen seitens anderer AfghanInnen darstellen würden. Insbesondere dann, wenn Flüchtlinge der zweiten Generation sich sehr stark in die pakistanische oder iranische Lebensweise integriert hätten und nicht wüssten, was für AfghanInnen "normal" sei, bzw. sich nicht dementsprechend verhalten könnten, könnten sie als ?verwöhnt', ?Nichtstuer' oder ?nicht afghanisch' betrachtet werden.
Im Großen und Ganzen scheine es eine generelle negative Einstellung gegenüber einigen RückkehrerInnen zu geben, denen von einigen in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen werde, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben. Einer der Gründe für diese Vorwürfe sei Angst im Zusammenhang mit der Konkurrenz um Ressourcen. RückkehrerInnen der zweiten Generation, bei denen es wahrscheinlich sei, dass sie sich in einer besseren sozioökonomischen Lage befinden würden als Personen, die in Afghanistan geblieben seien, würden von ihren Landsleuten, die ihr ?Territorium' in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen würden, manchmal als unerwünschte Eindringlinge angesehen. Darüber hinaus scheine es eine stereotype Wahrnehmung von zurückgekehrten Mädchen und Frauen zu geben, wonach diese ?freier' seien. Dies hänge mit der generellen Wahrnehmung der AfghanInnen von pakistanischen und iranischen Frauen zusammen. Afghanische Flüchtlinge der zweiten Generation würden diese Frauen oftmals als ?freier' ansehen, sowohl in negativer (z.B. Scham in Verbindung mit einem weniger moralischen Verhalten) als auch in positiver Hinsicht (z.B. besserer Zugang zu Bildung und Arbeit). Die jungen RückkehrerInnen, die in Pakistan und im Iran aufgewachsen seien, würden von den in Afghanistan Verbliebenen ähnlich betrachtet.
Wie der Bericht weiters anführt, werde Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen von Flüchtlingen der zweiten Generation noch intensiver erlebt als von Flüchtlingen der ersten Generation oder AfghanInnen, die bereits Erfahrungen in Afghanistan gemacht hätten und sich dieser Realität bewusster seien
[...]
[...]
In einer im September 2013 eingereichten Masterarbeit an der japanischen Ritsumeikan Asia Pacific University geht Ahmadi Yaser Mohammad Ali ebenfalls auf die Lage afghanischer RückkehrerInnen aus dem Iran ein. Die nötigen Informationen für die Arbeit wurden unter anderem mittels Interviews mit 17 Haushaltsvorständen (im Alter von 24 bis 70) in zwei Stadtvierteln von Kabul, in denen viele RückkehrerInnen aus dem Iran leben würden, gesammelt. Wie Ali anführt, hätten sich viele der Befragten darüber beschwert, dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus dem Iran habe. Allerdings sei dieses Problem vor allem von Flüchtlingen der zweiten Generation angesprochen worden.
Mit Verweis auf den weiter oben bereits zitierten AREU-Bericht von 2009 erläutert Ali, dass Flüchtlinge der zweiten Generation aufgrund der Diskriminierung, mit der sie im Iran konfrontiert gewesen seien, unter großem Druck gestanden hätten, in der Öffentlichkeit iranisches Persisch zu sprechen. Wegen ihres Akzents würden sie bei ihrer Rückkehr leicht als RückkehrerInnen ausgemacht, was zu sozialer Ausgrenzung führen könne. Einem Bericht der Afghanischen Unabhängigen Menschenrechtskommission zufolge seien diese RückkehrerInnen auch mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert. In manchen Fällen seien sie aufgrund ihres Akzents und ihrer Kleidung ihrer Rechte beraubt worden.
Wie Ali weiters anführt, habe die afghanische Regierung im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, das die Diskriminierung von RückkehrerInnen verbiete. Trotz dieses Dekrets seien sich alle Befragten einig gewesen, dass RückkehrerInnen aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert würden. Im Gegensatz dazu sei in der nationalen afghanischen Entwicklungsstrategie der afghanischen Regierung aus dem Jahr 2008 angeführt worden, dass es kein Muster von Diskriminierungen von RückkehrerInnen gegeben habe, auch wenn die Reintegration dieser Personen eine Herausforderung darstelle [...]"
5. Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen ASEF vom 15.09.2017 zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran und aus Pakistan:
"[...]
Berichten der internationalen Hilfsorganisationen zufolge leben geschätzte drei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan sowie zirka 2,5 Millionen im Iran. Darunter befinden sich viele im Exil geborene Afghanen der zweiten und dritten Generation.
Besonders im Iran sind afghanische Staatsangehörige nicht erwünscht, wo sie sehr benachteiligt sind und kaum über eine Perspektive verfügen. Bereits seit November 2013 schickt der Iran tausende Afghanen zum Kampf gegen die IS nach Syrien. Im Gegenzug verspricht die iranische Regierung afghanischen Flüchtlingen das Bleiberecht im Iran oder finanzielle Anreize. Einigen Afghanen soll aber auch mit der Abschiebung gedroht worden sein, falls sie sich weigern sollten, nach Syrien zu gehen. Am 2. Mai 2016 verabschiedete das Teheraner Parlament ein Gesetz, wonach im Falle eines Todes die Angehörigen der afghanischen Kämpfer die iranische Staatsbürgerschaft erhalten. Damit bestätigte die iranische Regierung erstmals die Existenz ausländischer Söldner.
Zur Situation von Rückkehrern in Afghanistan:
Afghanische Rückkehrer geraten beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan in gravierende Schwierigkeiten. Diese verfügen über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwert die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr der meisten in ihre Heimatregionen. Es wird berichtet, dass viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut verlassen müssen und in die Städte ausweichen, insbesondere nach Kabul, wo es ihnen nach der Rückkehr auch wirtschaftlich schlechter geht als im Exilland.
Es darf nicht ungesagt bleiben, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit bemerken, dass sie weitgehend von den Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen - falls überhaupt vorhanden - ausgeschlossen werden. Damit ist gemeint, dass es für Rückkehrer besonders schwierig ist, sich ohne etwaige Verwandte oder Freunde zu Recht zu finden und Zugang zu Arbeitsstätten zu bekommen. Ihnen fehlt somit jeglicher Zugang zu nützlichen Ressourcen. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan gelten sie als Fremde im eigenen Land. Darüber hinaus müssen die meisten Jugendlichen, die aus dem Iran und Pakistan zurückkehren bzw. abgeschoben werden und über keine Fachausbildung verfügen, mit dem Problem der Arbeitslosigkeit kämpfen. Auf Grund der unsicheren Lage fühlen sich viele Unternehmer dazu gezwungen, ihre Firmen zu schließen. Dies führt ebenfalls zu einer schwierigen Situation am Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich, dass tausende junge Menschen derzeit auf dem Weg sind, außerhalb von Afghanistan Möglichkeiten nach wirtschaftlichem Überleben zu suchen. Jene Rückkehrer, die im Land verbleiben, geraten oft in die Drogenszene und leben zum Teil in Parkanlagen und in nicht bewohnbaren Häusern. Auf Grund dieser Umstände ist die Kriminalitätsrate, vor allem unter jungen Menschen, stark gestiegen. Diese Situation der jungen Rückkehrer hat dazu geführt, dass die afghanische Regierung vor allem die Nachbarländer gebeten hat, afghanische Flüchtlinge nicht abzuschieben.
Wenn Rückkehrer über kein soziales Netzwerk verfügen und auch keine finanzielle Unterstützung zugesichert bekommen, sind sie gezwungen, in Zelten zu leben und haben zudem nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser. Die Situation ist insbesondere für junge afghanische Rückkehrer hart, zumal die afghanische Regierung nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um diese beim Aufbau einer Existenzgrundlage zu unterstützen. Viele Afghanen haben Afghanistan aufgrund des langjährigen Krieges verlassen, können aber, obwohl es in manchen Gebieten wieder sicher ist, wegen der wirtschaftlichen Lage nicht mehr dorthin zurückkehren.
Rückkehrer aus dem Iran berichten über soziale Ablehnung durch jene Afghanen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben sind. Oftmals werden Rückkehrer als ?Eindringlinge' oder ?Fremde' angesehen. Im Großen und Ganzen gibt es eine generelle negative Einstellung gegenüber Rückkehrern, denen von den in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen wird, dem Krieg entflohen zu sein und das Land und die Bevölkerung im Stich gelassen zu haben und selbst ein wohlhabendes Leben im Ausland geführt zu haben. Vor allem Flüchtlinge zweiter Generation erleben Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen intensiver als die der ersten Generation.
Die Tatsache, dass die Mehrheit der im Iran geborenen Afghanen, vor allem die Dari- bzw. Farsi-sprechenden sunnitischen Tadschiken und schiitischen Hazara, durch ihren Schulbesuch oder durch die Ausübung eines Berufes im Iran die iranische Kultur und Lebensweise angenommen haben, erschwert die Rückführung dieser in die afghanische Gesellschaft. Für viele ist auch die Vorstellung, in ländliche Gebiete Afghanistans zurückzukehren, die meist nur ein sehr grundlegendes Maß an Infrastruktur, sozialen Diensten und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, beängstigend.
Die afghanische Bevölkerung betrachtet Rückkehrer aus dem Iran mit Argwohn und ist der Meinung, dass diese die Identität Afghanistans ändern und das Land ?iranischer' machen. Sie werden auch oft als ?falsche' Afghanen bezeichnet. Dieser Umstand führt oft zu Spannungen zwischen den Rückkehrern und jenen, die während der Kriegsjahre in Afghanistan verblieben sind. Rückkehrer berichten auch über ein unfreundliches Verhalten der Afghanen im Land und dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von Rückkehrern aus dem Iran habe. Auch werden solche Rückkehrer als kulturell nicht authentisch und politisch verdächtig angesehen. Die Aussprache, nämlich der iranische Akzent der Rückkehrer, führt zur sozialen Ausgrenzung, dem zufolge sie mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert sind. Ohne Beziehungen zu dort wohnhaften und mit der dortigen Gesellschaft vertrauten Personen ist es nahezu unmöglich, in Afghanistan Arbeit zu finden. Ihnen wird unter anderem auch vorgeworfen, dass sie zurückgekehrt seien, um von der sich teilweise stabilisierten Lage im Land zu profitieren.
Die afghanische Regierung hat im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, welches die Diskriminierung von Rückkehrern verbietet. Trotz dieses Dekrets werden Rückkehrer aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert. Am schwierigsten erweist sich die Situation für jene, die nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollen, vor allem aus Sicherheitsgründen oder wegen fehlender familiärer Anknüpfungspunkte. Diese Rückkehrer sind besonders verwundbar. Als Fremde im eigenen Land fehlen ihnen die wichtigen Netzwerke, die sie in der afghanischen Stammesgesellschaft brauchen. Eine Unterkunft oder eine Verdienstmöglichkeit zu finden, ist ohne solche Beziehungen viel schwieriger."
6. Auszug aus dem Gutachten der Ländersachverständigen STAHLMANN vom 28.03.2018 u.a. zur Identifizierung und Situation von Rückkehrern aus dem Iran in Afghanistan im Verfahren betreffend einen Asylwerber vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden zur Zl. AZ: 7 K 1757/16.WI.A:
"[Frage des Gerichts:] 12. Sind afghanische Staatsangehörige, die im Iran gelebt hatten und über das westliche Ausland als abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan zurückkehren, als solche in Afghanistan identifizierbar?
Wenn ja:
a) Wodurch ist eine solche Identifizierung möglich?
b) Hat diese Identifizierbarkeit Folgen für das alltägliche Leben dieser Person, insbesondere im Hinblick auf Eingliederung in die Gesellschaft, Finden einer Unterkunft und einer Arbeitsstelle? Gibt es Unterschiede, ob die Person sich in einer Großstadt oder auf dem Land niederlässt? Welche Rolle spielt die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit?
Ja, selbst mir, die ich selbst Fremde und in vielerlei Hinsicht kulturelle und soziale Analphabetin war, war es von Beginn meiner Zeit in Afghanistan an ohne Probleme möglich, Afghanen, die zumindest einige Jahre im Iran gelebt hatten, auch in flüchtigen Begegnungen als solche zu identifizieren. Nach längerem Aufenthalt im Iran müssen Rückkehrer aufgrund dieses Aufenthaltes mit sozio-ökonomischem, sozio-kulturellem sowie sozio-politischem Ausschluss und damit verbundenen Gefährdungen rechnen. Unabhängig von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit oder dem Ort der Ansiedlung ist davon auszugehen, dass sie ohne unterstützungswillige und -fähige Netzwerke keine Chance auf Eingliederung und Überlebenssicherung haben.
Einleitung: Varianten der Migration in den Iran
Auffällige Unterschiede gibt es jedoch zwischen verschiedenen lokalen Kategorien von Iran-Rückkehrern, die sich aus unterschiedlichen Migrationsvarianten ergeben und grob in drei Kategorien einteilen lassen: Arbeitsmigration, zeitlich befristete Zuflucht und langfristiges Exil. All diese Migrationsvarianten sind für die Betroffenen prägend, sie unterscheiden sich jedoch deutlich wahrnehmbar bezüglich der sozialen Verortung in Afghanistan, der relativen Integration im Iran und der Chancen auf Reintegration in Afghanistan. Zustande kommen diese Varianten aufgrund unterschiedlicher Funktionen, welche die Migration erfüllt:
Arbeitsmigranten und hier insbesondere unverheiratete junge Männer gehen meist mit dem Ziel der Unterstützung ihrer Familien in Notzeiten oder für die ökonomische Abfederung spezifischer Herausforderungen wie Hochzeiten oder die Bewältigung von Schulden für begrenzte Zeit in den Iran. (Harpviken 2014, Monsutti 2006) Eine Untergruppe hiervon sind jene, die aus Afghanistan Richtung Europa fliehen und die Flucht unter anderem mit zeitweiser Arbeit im Iran finanzieren. Sozio-ökonomisch bleibt diese Gruppe in der Regel in Afghanistan fest verortet und auch wenn sie lernen, sich im Iran zu orientieren und sprachliche und kulturelle Kompetenz aneignen, führt dies aufgrund der Kürze des Aufenthalts und der sozialen Verankerung in Afghanistan in der Regel nicht zu einer sozio-kulturellen Entfremdung von ihren Herkunftsgemeinschaften und Familien. Diese Gruppe kann am ehesten einer Identifizierung in der Öffentlichkeit entgehen, auch wenn diese wie jede Migrationserfahrung die Betroffenen prägt und die Konfrontation mit einem kulturell, sozial, sprachlich, religiös und nicht zuletzt politisch sehr anderen Umfeld Spuren hinterlässt, die im persönlichen Umgang deutlich werden.
Im Zuge der Kriege hat der Iran jedoch auch Millionen Afghanen als Zufluchtsort gedient. Hieraus haben sich zwei Varianten der Migration entwickelt, von denen nicht nur Einzelne, sondern auch Familien betroffen waren. Die eine entspricht traditioneller Migration als Teil der Strategie des erweiterten Familienverbandes zur Streuung von Optionen der Überlebenssicherung. (Harpviken 2014, Monsutti 2006) Entsprechend dieses Musters bleibt ein Teil der Familie zurück, Ressourcen werden bei Bedarf weiterhin geteilt, und Ansprüche an z.B. Erbteile bleiben bestehen. Auch diese Form der Migration wird als zeitlich befristet verstanden und eine Rückkehr wird von allen Beteiligten erwartet, sobald die Umstände es wieder zulassen.
Anders ist der Fall bei jenen, die diese Form der Migration nicht aufrechterhalten konnten oder wollten und für die der Aufenthalt im Iran zum dauerhaften Exil wurde. Gründe hierfür waren zahlreich. Oft war es der gewaltsame Verlust der Überlebensgrundlage, wie des ererbten Landes, der dafür gesorgt hat, dass erweiterte Familien ins Exil gegangen sind. Manchmal haben Teile der Familienverbände ohne Aussicht auf ein Ende der Kriege ihr Land bewusst aufgegeben und sich für einen unabhängigen und dauerhaften Neuanfang im Exil entschieden. Mitunter haben auch politische Fronten