Entscheidungsdatum
24.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W173 2168942-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 8.8.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.5.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) reiste illegal in Österreich ein und stellte am 10.01.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.
2. Bei der am 10.1.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Niederösterreich gab der BF an, er sei am XXXX in XXXX , Afghanistan geboren, afghanischer Staatsangehöriger und Paschtune sunnitischen Glaubens. Er spreche muttersprachlich Paschtu sowie gut Dari und Englisch in Wort und Schrift. Er habe 12 Jahre die Grundschule absolviert. Er habe zuletzt im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar gewohnt. Dort würden auch seine Eltern und seine drei Geschwister [1 Schwester (7 Jahre) und 2 Brüder ( XXXX 9 Jahre und XXXX 13 Jahre)] in einem Haus mit Garten wohnen. Die Familie lebe von der eigenen Landwirtschaft. Über seinen Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, seine Heimat aufgrund des dort herrschenden Krieges, der fehlenden Sicherheit und der Taliban vor 7 Monaten von Nangahar aus verlassen zu haben. Der Entschluss zur Ausreise sei im Dezember 2013 gefallen. Er sei in Afghanistan als Dolmetscher für die Amerikaner tätig gewesen. Seine Familie und er seien aufgrund seiner Tätigkeit von den Taliban bedroht worden. Er habe sogar drei Drohbriefe erhalten. Außerdem seien die Taliban mehrmals zu ihnen nach Hause gekommen, als er nicht zu Hause gewesen sei. Sein Leben sei in Gefahr gewesen, deshalb sei er gezwungen gewesen, die Flucht zu ergreifen.
3. Mit Schreiben vom 8.7.2016 wurde vom BF ein Zertifikat über eine bestandene Deutschprüfung auf dem Niveau A2 vorgelegt. Weiters wurden mit Schreiben vom 18.10.2016 Kopien diverser in Englisch abgefasste Schreiben zur Tätigkeit des BF als Dolmetscher beim US-amerikanischen Militär übermittelt.
4. Am 3.7.2017 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Oberösterreich, niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an, aus der dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Kunar in Afghanistan zu stammen. Er sei am XXXX dort geboren und spreche Dari, Paschtu, Englisch und ein wenig Urdu. Gesundheitlich gehe es ihm gut. Er könne die lateinische Schrift lesen. Vom BF wurden eine Tazkira im Original, 4 Empfehlungsschreiben, 2 Zertifikate, ein Ausweis, Fotos sowie ein Drohbrief in Kopie vorgelegt. Über seinen Lebenslauf befragt, gab der BF an, mit 7 Jahren in die Schule gekommen zu sein. 12 Jahre lang habe er die Schule besucht. Ein Jahr sei er zuhause gewesen. 8 Monate lang habe er einen Englisch-Kurse besucht. Dann habe er eine Prüfung für die Amerikaner zum Dolmetschen absolviert und dann 2 Jahre für die Amerikaner gearbeitet. Vom 13.7.2011 bis zum Juni 2013 sei er für die Amerikaner Dolmetscher tätig gewesen. Danach habe er Anfang Juli 2013 flüchten müssen. Am 7.7.2013 habe er sich zur Flucht entschlossen.
Seine Eltern und Geschwister würden in XXXX in der Provinz Nangarhar, zwei Onkel mütterlicherseits in seinem Geburtsort XXXX in der Provinz Kunar leben. Er habe sich nur in Kandahar aufgehalten und Kabul durchgequert. Vor drei Tagen habe er zuletzt Kontakt zu seinen Angehörigen gehabt. Die Arbeit als Dolmetscher habe er Anfang Juni 2013 beendet.
Über die Gründe für seine Ausreise befragt, gab der BF an, vom 13.7.2011 bis Anfang Juni 2013 für die Amerikaner als Dolmetscher tätig gewesen zu sein. In dieser Zeit sei er ab Beginn seiner Tätigkeit in der Provinz Kandahar und Anfang Juni 2013 in der Provinz Zabol gewesen. Er habe am Funkgerät immer wieder gehört, dass die Taliban gesagt hätten, zuerst die Dolmetscher, die als Mund und Augen der Amerikaner eingestuft worden seien, umzubringen. Mehrmals seien sie (die afghanische Nationalarmee und die amerikanische Armee) auf dem Weg zu ihren Kontrollposten attackiert worden. Die Taliban hätten nicht gewollt, dass er bei den Amerikanern als Dolmetscher tätig sei. Mehrmals mündlich und einmal mit einem Drohbrief seien seine Eltern bedroht worden. Im Drohbrief seien seine Eltern bedroht worden, dem Sohn, wenn er weiter bei den Amerikanern als Dolmetscher arbeite und sie ihn erwischen würden, den Kopf abzuschneiden. Es obliege seinen Eltern, ihren Sohn zu den Amerikanern zu schicken oder zu ihnen in den heiligen Krieg gegen die Amerikaner. Bei diesem Drohbrief sei der BF nicht zuhause gewesen. Als er von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe ihm sein Vater diesen Brief gezeigt und ihm gesagt, dass sein Leben hier in Afghanistan in Gefahr sei. Die Taliban würden ihn überall in Afghanistan finden und umbringen. Deswegen habe er Angst gehabt und sein Land verlassen. Weitere Gründe für seine Ausreise habe er nicht. In Österreich mache er gerade seinen Pflichtschulabschluss. Er gehe von 8 bis 14 Uhr in die Schule und habe auch an 3 Tagen Nachhilfe. Wenn er Zeit habe, treffe er seine Freunde, Österreicher und Afghanen, und gehe ins Fitnessstudio.
Über den genauen Namen seiner Organisation und Tätigkeit befragt, gab der BF an, dass er als Sprachvermittler unterwegs gewesen sei. Wenn die Amerikaner z.B. etwas sicherstellen hätten müssen, habe er zwischen den Amerikanern und Afghanen gedolmetscht. Zusätzlich sei er dabei gewesen, anderen Autofahrern, wenn eine Kolonne von amerikanischen Fahrzeugen gekommen sei, zu sagen, wie sie sich zu verhalten hätten. Auch zwischen der afghanischen Nationalarmee und der amerikanischen Armee habe er dolmetschen müssen. Am Anfang sei der bei der US Army in den Provinzen Zabol, Kandahar, AFOB XXXX und dann bei den Navy Seals gewesen zu sein. Es habe sich um eine Base gehandelt, die in der FOB XXXX gewesen sei. Während FOB XXXX für die ganze Provinz Kandahar zuständig gewesen, habe sich die Zuständigkeit von FOB XXXX auf die Provinz Zabol erstreckt. Beispiele für Projekte dieser Organisationen könne er nicht nennen, da er dies vergessen habe. Die Organisation befinde sich ca. 1.200 Kilometer von seiner Wohnadresse entfernt. Er sei manchmal mit dem Bus angereist und manchmal geflogen. Ein befreundeter Dolmetscher namens XXXX habe ihn dort vorgestellt. Nach einem Vorstellungsgespräch habe er eine Prüfung machen müssen und sei für drei Monate auf die Warteliste gestanden. Dann sei er zu einer Gruppe gekommen, die ihn nach Kandahar mitgenommen habe, wo die Prüfung stattgefunden habe. Bei der Firma seien nur Dolmetscher gewesen. Es seien ca. 10.000 Afghanen dort gewesen. Als Name seines Vorgesetzten nannte der BF XXXX , der Chef der Firma gewesen sei und in den USA lebe. Für seine Dolmetschertätigkeit habe er einen 8-monatigen Englischkurs absolviert. Sein Ansprechpartner sei XXXX gewesen.
Zur Einfahrt in sein Camp befragt, gab der BF an, dass es für ihn leicht gewesen wäre, in das Camp zu kommen. Dies sei für die Bevölkerung nicht der Fall gewesen, da dort ein Panzer und links und rechts ein Minarette mit einem Wachposten gestanden seien. Rundherum sei mittels eines Zaunes abgesichert worden. In jeder Gruppe seien 2 Dolmetscher gewesen, die jeweils 12 Stunden Dienst gehabt hätten. Im Dienst sei er im Camp in einem Zelt in der staubigen Wüste gewesen. Dieser habe sich jeweils von 0 bis 12 Uhr oder von 12 bis 24 Uhr erstreckt. Seine von seiner Beschäftigung informierte Familie sei auch damit zufrieden gewesen. Er habe auch im Monat 600 US$ verdient.
Am 2.6.2013 habe er diesen Drohbrief bekommen. Auf die Frage der belangten Behörde zum Inhalt dieses Drohbriefes, ersuchte der BF, ob er diesen lesen könne. Auf den Vorhalt, den Inhalt wissen zu müssen, gab der BF an, dass der an ihn adressierte Brief auf seine Arbeit bei den Amerikanern Bezug nehme und er Sklave der Amerikaner sei. Es stehe auch darin, wo er wohne. Wenn er seine Tätigkeit bei den Amerikanern nicht beende, würde ihm der Kopf abgeschnitten. Dieser Brief sei in der Moschee des Dorfes abgelegt worden. Nachdem ihn der Imam gefunden habe, habe er ihn dem Vater des BF gegeben. Als der BF zuhause gewesen sei, habe ihm sein Vater den Brief gezeigt. Er sei sehr traurig gewesen und habe Angst gehabt. Daraufhin seien er und die ganze Familie nach Nangarhar gezogen. Der Vorfall sei bei der Polizei gemeldet worden, die aber nichts unternommen hätte. Sein Vorgesetzter habe den Vertrag beendet und sie hätten nicht reagiert.
Der BF führte weiter an, alle Dolmetscher, die mit den Amerikanern gearbeitet hätten, seien bedroht und einige sogar umgebracht worden. Keiner seiner Kollegen sei mehr in Afghanistan. Alle seien weggegangen. Insgesamt sei er 6 bis 7 Mal bedroht worden. Die Bedrohungen seien telefonisch an seinen Vater gerichtet worden. Auf den Vorhalt, warum er erst nach Erhalt des Drohbriefs, den Entschluss gefasst habe, zu fliehen, gab der BF an, dass es zuvor nur telefonische Drohungen gegeben habe. Erst mit dem Drohbrief habe er die Drohungen ernst genommen. Seine Eltern würden jetzt in Jalalabad leben. Nach seiner Flucht habe es weitere 5 bis 6 Drohungen gegeben. Die letzte Drohung sei im Mai 2017 gewesen. Sie hätten per Telefon nach dem BF gefragt und ob er noch immer bei den Amerikanern arbeiten würden. Danach habe es keine Bedrohung mehr gegeben. Der Originaldrohbrief sei in Afghanistan bei seinem Vater. Auf den Vorhalt, warum die Taliban den BF in seinem Dorf ausfindig machen hätten können, nachdem dessen Arbeitsplatz 1.200 Kilometer entfernt gewesen sei, gab dieser an, dass die Dorfbewohner den Taliban gesagt hätten, dass er für die Amerikaner arbeite. Es gebe für ihn keinen sicheren Platz in Afghanistan. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Nach einer Rückübersetzung bestätigte der BF die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls mit seiner Unterschrift.
5. Mit Schreiben vom 18.7.2017 beauftragte das BFA eine Dolmetscherin für die Sprache Paschtu mit der Übersetzung der vorgelegten Tazkira und des Drohbriefs. Der Übersetzung des Drohbriefs ist unter anderem zu entnehmen, dass dieser mit dem (umgerechnet) 2.6.2014 datiert wurde. Im Drohbrief war Nachfolgendes ausgeführt:
"An Dich, XXXX , Sohn von XXXX , Bewohner des Dorfes XXXX !
Hiermit warnen wird Dich für Deine Tätigkeit als Dolmetscher für die Ungläubigen. Du verhilfst damit den Ungläubiben zum Sieg und arbeitest zu ihren Gunsten.
Wir warnen dich, den Finger von dieser schmutzigen Tätigkeit zu lassen und sich den Heiligen Kriegern anzuschließen.
Wenn Du Deine Finger von dieser schmutzigen Tätigkeit nicht lässt, werden die Heiligen Krieger (Mujahiddin) Deinen Kopf von Deinem Leib abtrennen.
Unterschrift
Rundstempel
Islamische Emirate Afghanistan
Provinz Kunar-Distrikt XXXX "
6. Mit Bescheid vom 8.8.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Im Bescheid traf die Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Der BF unterliege in Afghanistan keiner individuellen Verfolgung durch die Taliban im Fall seiner Rückkehr. Hierzu führte die Behörde beweiswürdigend aus, der BF habe seine Tätigkeit als Dolmetscher beendet, sodass es zu keiner Bedrohung der Taliban mehr kommen könne. Auch der Angriff auf die amerikanische und afghanische Armee habe nicht dem BF persönlich gegolten. Ein Umzug in eine andere Stadt und Ausübung eines anderen Berufes hätte das Problem dauerhaft beendet. Auch aus sonstigen Umständen habe beim BF keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen einer politischen Überzeugung festgestellt werden können. Als junger, arbeitsfähiger Mann könne der BF seinen Lebensunterhalt bei einer Rückkehr nach Kabul bestreiten. Eine Rückkehr nach Kabul oder eine andere Stadt sei dem BF zumutbar. Die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung würden das private Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich überwiegen. Es seien keine Umstände ersichtlich, die für eine gegenteilige Entscheidung im Hinblick auf den Artikel 8 EMRK sprechen würden. Die Rückkehrentscheidung sei zulässig. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei nicht zu erteilen. Mit der Rückkehrentscheidung sei eine Frist für die freiwillige Ausreise festzulegen. Mit Verfahrensanordnung vom 9.8.2017 wurde dem BF der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.
7. Mit Schreiben vom 23.8.2017 erhob der BF, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, in vollem Umfang Beschwerde gegen den Bescheid vom 8.8.2017. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass sein Vorbringen zur Tätigkeit als Dolmetscher und die Drohungen der Taliban von der Behörde zu Unrecht als unglaubwürdig gewertet worden seien. Er sei vom 13.7.2011 bis Juni 2013 als Dolmetscher bei den Amerikanern tätig gewesen. In dieser Zeit sei er ab Beginn seiner Tätigkeit in der Provinz Kandahar und Anfang Juni 2013 in der Provinz Zabol gewesen. Er habe am Funkgerät immer wieder von den Taliban gehört, zuerst die Dolmetscher umzubringen, die der Mund und die Augen der Amerikaner wären. Mehrmals seien sie - die afghanische Nationalarmee und die amerikanische Armee - auf dem Weg zu ihren Kontrollposten attackiert worden. Die Taliban seien gegen Dolmetscher bei den Amerikanern gewesen. Mehrmals seien seine Eltern mündlich und einmal mit einem Drohbrief bedroht worden. Nach dem Drohbrief hätten die Taliban dem BF, wenn er weiter bei den Amerikanern als Dolmetscher arbeite und sie ihn erwischen hätten, den Kopf abgeschnitten. Es sei an den Eltern gelegen, ihren Sohn zu den Amerikanern oder zu ihnen in den heiligen Krieg gegen die Amerikaner zu schicken. Dieser Drohbrief sei in der Moschee hinterlegt und vom Imam, der ihn gefunden habe, dem Vater des BF übergeben worden. Nachdem der BF von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe ihm sein Vater diesen Brief gezeigt und ihm gesagt, sein Leben sei hier in Afghanistan in Gefahr. Die Taliban würden ihn überall in Afghanistan finden und töten. Der BF und seine Familie seien nach Nangarhar gezogen. Nach Anzeige bei der Polizei sei nichts geschehen. Nach Ansicht der Taliban habe der BF mit Ungläubigen zusammengearbeitet und sei als Feind der Taliban betrachtet worden. Nach anfänglichen telefonischen Drohungen sei dieser Drohbrief gekommen. Der BF habe gespürt, dass es nun sehr ernst werde und sein Leben in Gefahr sei. Es genüge, wenn bekannt werde, als Moslem Christen geholfen zu haben, um in Gefahr zu sein. Mitarbeiter internationaler Organisationen und der US-Streitkräfte seien einem besonderen Risiko ausgesetzt, Opfer von Übergriffen zu werden. In diesem Zusammenhang wurde in der Beschwerde auf eine Anfragebeantwortung von ACCORD aus dem November 2014 Bezug genommen. Auch in Kabul sei der BF nicht sicher, wohin er keine Kontakte habe. Der Geheimdienst der Taliban würde ihn auch in anderen Provinzen Afghanistans aufspüren. Da er aufgrund der drohenden Rache der Taliban keinesfalls in seine Heimatprovinz Kunar bzw. Nangarhar zurückkehren könne, wäre er in Kabul gänzlich auch sich alleine gestellt, weshalb ihm Obdachlosigkeit drohen würde. Durch die Abschiebung nach Afghanistan wäre er somit einem realen Risiko menschenunwürdiger Behandlung ausgesetzt. Es würde somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen, weshalb ihm gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei.
8. Mit Schreiben vom 22.2.2019 übermittelte der BF ein Zeugnis zur Integrationsprüfung (Sprachkompetenz/Werte-Orientierungswissen) für das Sprachniveau B1 vom 5.2.2019 sowie Kursbesuchsbestätigungen für Deutschkurs B1/Teil 1 und 2.
9. Mit Schreiben vom 1.3.2019 wurde vom BF eine Bestätigung des Integrationszentrums XXXX der Caritas vorgelegt, wonach der BF seit 2018 in verschiedenen Tätigkeitsfeldern des Integrationszentrums mitgewirkt habe. Er habe bei Projekten wie Integrationsfest, "Straßenaktion Aufgedeckt" oder Heimatsharing mitgewirkt und sei bei der Vorbereitung und in der Durchführung eine große Hilfe gewesen. Der BF habe das Integrationszentrum im Alphabetisierungsclub sowie bei Dolmetsch- und Bürotätigkeiten unterstützt. Im Alphabetisierungsclub sei der BF eine großartige und verlässliche Hilfe beim Übersetzen der Arbeitsanweisungen und Erklärungen gewesen. Er habe aber auch selbstständig Hilfestellungen für die Kursteilnehmer/Innen gegeben und sei stets sehr geduldig im Umgang mit den Lernenden gewesen. Durch seine offene, interessierte und hilfsbereite Art sei er zu einer wichtigen ehrenamtlichen Stütze für das Integrationszentrum XXXX geworden.
10. Im Zuge der Anberaumung der mündlichen Verhandlung wurden dem BF die Länderberichte unter Einräumung einer Stellungnahmemöglichkeit übermittelt. Mit Schreiben vom 18.3.2019 führte der BF aus, dass diese ein sehr breit gestreutes und großteils auch sehr aktuelles Informationsmaterial umfasse, das die derzeitige Lage und auch sein Problem im Großen und Ganzen gut wiedergebe. Es ergebe sich, dass die Sicherheitslage und die politische Lage weiterhin unstabil seien. Menschenrechtsverletzung, Straflosigkeit Korruption usw. seien alltäglich. In Afghanistan sei der BF aufgrund seiner Tätigkeit als Dolmetscher für die Amerikaner einer Verfolgung ausgesetzt. Nach Ansicht der Taliban habe er mit Ungläubigen zusammengearbeitet.
Nach den UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018 hätten Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden seien oder diese vermeintlich unterstützen, - abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles - einen Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen. Davon seien Dolmetscher betroffen. Nach den Länderberichten zähle die Heimatprovinz Kunar zu den relativ volatilen Provinzen des Landes. Dort kämen eine hohe Anzahl an Zivilisten aufgrund explosiver Kampfmittelrückstände und indirekter Waffeneinwirkung ums Leben. Ebenso habe sich in der Provinz Nangarhar die Sicherheitslage verschlechtert. In den letzten Jahren würden Aufständische der Taliban und des IS in abgelegenen Distrikten versuchen Fuß zu fassen. Nangarhar sei 2017 die Provinz mit den meisten registrierten Anschlägen gewesen.
Nach UNHCR sei eine interne Schutzalternative auch in den von aktiven Kampfhandlungen zwischen regierungsnahen und regierungsfreundlichen Kräften oder zwischen verschiedenen betroffenen Gebieten nicht gegeben.
Aus den Länderberichten ergebe sich eindeutig, dass Kabul als interne Schutzalternative nicht gegeben sei (vgl UNHCR Richtlinien, Seite 14); ebenso würden Herat und Mazar-e Sharif als Fluchtalternative ausscheiden.
Die Sicherheitslage in Afghanistan sei nach wie vor unbeständig und die Zivilbevölkerung trage weiterhin die Hauptlast des Konflikts. Von dem Konflikt seien weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszenten und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, hätten sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen (AGEs) und den afghanischen Kräften intensiviert. Die aktuellen Länderberichte würden im Wesentlichen die bisherigen Ausführungen bestätigen.
Die Rückkehr- und Sicherheitslage habe sich nicht verbessert. Es sei gegenteiliges der Fall. Die Dürre habe das Land noch zusätzlich destabilisiert. Aufgrund der anhaltenden Gewalt, der fehlenden Beschäftigung und der anhaltenden Dürre hätten tausende Familien und zehntausende Menschen das Land verlassen oder seien in große Städte wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif gezogen. Die Situation sei nach wie vor dramatisch. Es gäbe zu wenig Trinkwasser, nichts zu essen und kein Dach über den Kopf. Es sei die schlimmste Dürre Afghanistans seit Menschengedenken.
Die Ernährungssicherheit sei krisenhaft und sich in der rauen/kalten Wintersaison wahrscheinlich weiter zuspitzen werde. Insgesamt würden die Provinzhauptstädte Afghanistans inzwischen mehr als 54 Prozent der Binnenvertriebenen beherbergen, was den Druck auf überlastete Dienstleistungen, Infrastruktur und den Wettbewerb um Ressourcen ankommender und aufnehmende Gemeinschaften weiter verschärfen würde. Sie würden in prekären Verhältnissen leben und weder eine langfristige Perspektive noch die Mittel dafür haben, Stabilität wiederzuerlangen. Trotz der rasch bereitgestellten Hilfe würden Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung fehlen.
Mit dem wenigen Geld, das sie verdienen würden, würden sie sich von Brot und Tee ernähren, da sie nicht in der Lage seien, Obst, Gemüse oder Fleisch zu kaufen. Es sei nicht schwer vorstellbar, dass die bereits jetzt am stärksten Gefährdeten, die Rückkehrer und Binnenvertriebenen, auch von der Dürre am stärksten betroffen sein würden. Diese könnten es sich oft nicht leisten, sich an Orten mit Zugang zu lebensnotwendigen Gütern wie Wasser niederzulassen, sondern würden sich in Randgebieten ansiedeln, weil sie nirgendwo sonst hingehen könnten. Die Bedingungen in den Notunterkünften seien nach wie vor sehr schlecht und die Not sei vor allem für die neu eingetroffenen Binnenvertriebenen in den Städten Qala-e-Naw und Herat angesichts der bevorstehenden Wintersaison akut. Es gebe für vertriebene Menschen nur äußerst begrenzt Beschäftigungsmöglichkeiten, unzureichende Unterbringungen und Rechtssicherheit. Es sei bei der Beurteilung einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf die objektiven und subjektiven Gegebenheiten abzustellen.
Der BF habe in dieser Zeit seines Aufenthaltes (seit Jänner 2015) sich schon ganz gute Deutschkenntnisse (B1 Niveau) angeeignet. Er habe bereits die Integrationsprüfung bei XXXX XXXX und erledige regelmäßig ehrenamtliche Tätigkeiten beim "Integrationszentrum XXXX ". Er helfe bei den Dolmetsch- und Bürotätigkeiten. Auch nehme er an vielen Projekten und Veranstaltungen teil. In seiner Freizeit gehe er trainieren. Durch all diese Aktivitäten habe er bereits viele soziale Kontakte hier in Österreich knüpfen können. In Österreich habe er bereits viele Freunde gefunden und sich schon sehr gut in die hiesige Gesellschaft integriert. Er habe in Österreich ein schützenswertes Privatleben. Die lange Dauer des Asylverfahrens könne ihm nicht angelastet werden. Er sei seit mehr als vier Jahren in Österreich und verfüge über ein schützenswertes Privatleben. Er sei stets bemüht und lasse sich nichts zu Schulden kommen. Es gebe keinen zwingenden Grund, der die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde. Es sei eine Interessensabwägung zu seinen Gunsten vorzunehmen. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat stehe seine Entfremdung entgegen. Er könne sich nicht mehr integrieren, werde als Westlicher eingestuft und habe auch keinerlei Aussicht auf eine lebenserhaltende Tätigkeit. Aufgrund der anhaltenden Gewalt, der Fluchtgründe, der fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten und der anhaltenden Dürre, und der daraus resultierenden Fluchtbewegungen nach Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, werde es ihm kaum bis gar nicht möglich sein, eine Arbeit zu finden, sich zu ernähren bzw. ein Dach über den Kopf zu haben. Somit sei keine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben und stelle eine Abschiebung eine Verletzung des Art 3 EMRK dar.
11. Am 21.5.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung und einem Dolmetscher für die Sprache Paschtu durch. Der BF gab an, gesund zu sein. Bei den bisherigen Einvernahmen sei alles in Ordnung gewesen. Er heiße XXXX , sei am XXXX in Afghanistan geboren, stamme aus der Provinz Kunar, aus dem Bezirk XXXX , Dorf XXXX und sei afghanischer Staatsbürger. Er sei Paschtune, seine Muttersprache sei Paschtu und er sei sunnitischer Moslem. Er spreche Paschtu, Dari, Englisch und etwas Deutsch. Paschtu sei seine Muttersprache und Dari habe er in Afghanistan in der Schule gelernt. Er habe acht Monate lang einen Englisch-Kurs besucht. Zusätzlich habe er von seinem Onkel mütterlicherseits die englische Sprache gelernt, der ein Dolmetscher gewesen sei. Er habe nach acht Monaten eine Prüfung abgelegt. Dann habe er als Dolmetscher arbeiten können. Sein Onkel sei auch gut gewesen. Den Englischkurs habe er in Kabul besucht, wo auch sein Onkel gewesen sei. Sein Onkel sei in Kabul im von ihm besuchten Kurs als Lehrer tätig gewesen. Er habe den Kurs fünf Tage die Woche besucht, jeden Tag drei Stunden. Er habe schnell lernen können, da sein Onkel ihm außerhalb des Kurses geholfen habe. Es sei ein privates Sprachinstitut, namens XXXX in Kabul gewesen. Sein Onkel heiße XXXX . In der Schule, die er 12 Jahre besucht habe, hätten sie in Englisch nicht viel gelernt. Den Englischkurs habe er durchgezogen und die anschließende Prüfung bestanden. Nach der Prüfung habe er begonnen zu arbeiten. Die Prüfung sei für seine Dolmetschertätigkeit gewesen. Die Prüfung bei den Amerikanern habe er im Sinne eines Vorstellungsgespräches absolviert, das am 13.7.2011 gewesen sei. Er sei von einer Vermittlungsfirma XXXX vermittelt worden. Nach einer 3-monatigen Wartezeit habe er mit der Arbeit begonnen.
Zur Tätigkeit führte der BF weiter aus, mit den amerikanischen Streitkräften in die Dörfer gegangen zu sein. Dort hätten sie sich mit dem Dorfrat unterhalten, wobei er zwischen dem Dorfrat und den Amerikanern und auch zwischen der afghanischen Nationalarmee und den amerikanischen Soldaten gedolmetscht habe. Sie hätten über verschiedene Themen geredet. Beispielsweise über Sicherheit oder Hilfe. Es sei auch über Probleme im Dorf gesprochen worden. Er sei in der Provinz Kandahar tätig gewesen, wobei ihm die Dorfnamen nicht mehr in Erinnerung seien. Begonnen habe er in der Kandahar. Später habe sich seine Tätigkeit auch auf die Provinz Zabul erstreckt. Cirka Ende Juni 2013 habe er seine Arbeit mit den Amerikanern beendet. Er sei nicht mit mehr als Dolmetscher tätig gewesen, da sein Vertrag ausgelaufen sei. Außer seiner Dolmetschertätigkeit habe er keinen Beruf ausgeübt.
Es habe beim Dolmetschen keine fixen Arbeitszeittabellen gehabt. Jederzeit hätten sie wegfahren müssen, unabhängig davon, ob das in der Nacht gewesen sei oder am Tag. So habe es sich in Kandahar abgespielt. Bei Angriffen von Feinden auf ein Dorf hätten sie auch dort hinfahren müssen unabhängig von der Zeit. Er sei immer auf Abruf bereitgestanden. Beispielsweise sei zwei, drei Tage nichts in der Basis zu tun gewesen. Sie hätten zu einem großen Camp, namens FOB XXXX gehört, das weit weg von der Hauptstadt und in einer unbewohnten Wüste gelegen sei.
Er sei in seinem Heimatdorf XXXX aufgewachsen. Sein Vater heiße XXXX , er sei ca. 70 Jahre alt. Seine Mutter heißt XXXX , sie sei ca. XXXX Jahre alt. Sein Vater sei Bauer gewesen. Von den sich im Familienbesitz befindenden ca. 4000 m² großen Grundstücken sei ein Teil ein Obstgarten gewesen. Es werde Obst- und Gemüseanbau betrieben. Neben der Schule habe er in der Landwirtschaft mitgeholfen. Sein Bruder und seine zwei Schwestern würden gemeinsam mit seinen Eltern in Nangarhar leben. Zwei Onkeln würden sich um die Ernte auf dem Familienbesitz kümmern. Er habe jetzt noch ab und zu Kontakt über das soziale Netzwerk mit seiner Familie. Es gehen ihnen gesundheitlich gut, aber das Leben sei hart und sie hätten Angst. Sie würden dort auch heute noch in Nangahar im Bezirk XXXX im Dorf XXXX leben. Der BF sei am 7.7.2013 aus Afghanistan nach Österreich ca. acht Monate lang geflohen.
Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, die Taliban hätten ihn mit dem Tod bedroht, da er als Dolmetscher bei den Amerikanern tätig gewesen sei. Als er als Dolmetscher bei den Amerikanern aufgehört habe, habe sich das Problem vergrößert. Er habe zurück in sein Heimatdorf gehen müssen. Die Taliban hätten gesagt, dass er mit Ungläubigen gearbeitet habe und ihn diesbezüglich beschuldigt. Als er als Dolmetscher bei den Amerikanern angefangen habe, sei sein Vater bereits mehrmals telefonisch bedroht worden. Die Taliban hätten seinem Vater gesagt, dass er bei den Amerikanern als Dolmetscher aufhören müsse und sich den Taliban anschließen solle. Ansonsten würden sie ihn umbringen.
Auf die Frage, warum die Taliban überhaupt gewusst hätten, dass er Dolmetscher sei, gab der BF an, dass als er bei den Amerikanern als Dolmetscher gearbeitet habe, seine Eltern und Geschwister noch in meinem Heimatdorf gewesen seien. Erst nach dem Erhalt des Drohbriefes durch den Imam hätten seine Eltern das Heimatdorf nach Nangarhar verlassen. Nach der Wiederholung der Frage, gab der BF an, im Dorfbereich würden Gerüchte sich schnell verbreiten. Als er damals als Dolmetscher gearbeitet habe, sei er sporadisch zu Hause gewesen. Jemand von seinen Verwandten habe es weitererzählt, zumal außer seiner Familie niemand gewusst habe, dass er Dolmetscher gewesen sei. Die Frauen würden untereinander sprechen und so habe es sich verbreitet. Jedem im Dorf sei bekannt gewesen, dass er als Dolmetscher arbeite.
Ihre Gegend sei voll von den Taliban und Daesh. Er persönlich kenne die Taliban nur über die sozialen Medien, zumal er noch nie einen von ihnen persönlich gesehen habe. Die Taliban würden in der Nacht kommen und diejenigen angreifen, die verdächtig seien. Unter Tags würden sich die Taliban versteckt und hätten Angst vor der Regierung, die zu dieser Zeit an der Macht sei. Die Taliban seien nachtaktiv. Hinter ihrem Dorf gebe es einen Berg mit Bäumen, wo sich die Taliban tagsüber verstecken würden. Die Regierung bemühe sich, sie zu finden. Es gebe jeden Tag zwischen beiden Kämpfe. Die Regierung traue sich nicht zu den versteckten Taliban. Aber sie würden einfach schießen, da sei alles und auch Raketen hätten. Als kleines Kind habe er das miterlebt. Es habe immer wieder Schießereien gegeben. Ob eine Rakete schon mal gelandet sei, wisse ich nicht. Ob die Dorfbewohner die Taliban je gesehen hätten, wisse er nicht.
Der BF führte weiter aus, dass der Drohbrief von ihrem Dorf-Imam in der Dorfmoschee gefunden und gleich beim Frühgebet an seinem Vater übergeben worden sei. Auf die Frage, ob die Taliban es dem Zufall überlassen hätten, dass der Imam den Brief in der Moschee finde, gab der BF an, dass in der Nacht der Imam nicht in der Moschee sei. Die Taliban hätten diesen Brief in der Nacht vor dem Eingang der Moschee versteckt. In der Früh gehe der Imam als erster in die Moschee und deshalb habe er ihn auch gleich gefunden und gelesen und seinem Vater übergeben, weil sein Name und der seines Vaters auf dem Brief gestanden sei. Auf die Frage, ob die Taliban nicht gewusst hätten, wo er wohne, gab der BF an, dass sie gewusst hätten, in welchem Dorf er wohne. Sie hätten auch gewusst, wo sie wohnen würden, aber er sei nicht zu Hause gewesen. Er sei in der Arbeit gewesen.
Auf die Frage, warum sich die Taliban nicht zum Haus der Familie getraut hätten, gab der BF an, dass die Taliban gewusst hätten, dass er nicht zu Hause sei und hätten deshalb den Brief in die Moschee gebracht. Die Taliban hätten mit dem Brief allen Bescheid sagen wollen, dass er bei den Amerikanern arbeite. Wenn sie ihn umbringen würden, würde sich keiner beschweren. Im Brief gebe es einen Stempel und oben stehe auch, islamischer Emirat Taliban. Die Taliban hätten - wie eine Regierung - ein eigenes System. Jeder kenne den Stempel. Bei einem mit einem Stempel versehenen Drohbrief handle es sich um die letzte Warnung. Als allerletzte Warnung würden sie einen Stempel darauf geben. Vorher habe es nur telefonisch Warnungen gegeben. Sein Vater sei mehrmals bedroht worden. Circa ein Monat nach Beginn seiner Tätigkeit bei den Amerikanern seien die Taliban darüber informiert gewesen und hätten mit telefonischen Bedrohungen gegenüber seinem Vater begonnen. Die erste telefonische Bedrohung hätten sie nicht ernst genommen und an Scherzbold gedacht. Als der Drohbrief am 2.6.2013 angekommen sei, hätten sie es ernst genommen.
Auf den Vorhalt, dass der BF zwei Jahre lang telefonisch bedroht worden sei und dies als Scherz betrachtet habe, gab der BF an, dass der Drohbrief sehr ernst gewesen sei. Am 2.6.2013 sei der der Drohbrief an seinen Vater übergeben worden und am 4.6.2013 seien sie in den Bezirk XXXX ins Dorf XXXX gezogen, wo ein Haus gemietet worden sei. Er sei auf seiner Arbeitsstelle in Kandahar gewesen. Sein Vater habe als Taxifahrer gearbeitet. Er sei dort bei einem Taxiunternehmen angestellt gewesen. Auf die Frage, ob sie dort in Sicherheit gewesen seien, gab der BF an, dass seine Familie im Dorf XXXX nicht so in Gefahr gewesen sei wie im Heimatdorf. Er sei von seiner Familie informiert worden, dass sie in Kandahar seien. Als sein Arbeitsvertrag beendet worden sei, sei er kurz in Nangarhar gewesen, habe im Dort XXXX ein Hotelzimmer gemietet und sei von dort geflüchtet. Er habe nicht einmal eine Nacht bei seiner Familie verbracht. Er sei am 7.6.2013 geflüchtet und habe das Land am 7.7.2013 verlassen.
Sein Vater habe ihn telefonisch informiert, dass er den Drohbrief gelesen habe, und habe ihm auch gesagt, dass er nie zurück nach Hause ins ursprüngliche Heimatdorf gehen solle, weil der Drohbrief sehr ernst geklungen habe. Er habe ihm angeordnet, zu bleiben, wo er sei. Er sei nämlich gerade in der Arbeit in Kandahar gewesen. Sein Vater sei wegen dem Drohbrief bei der Polizei gewesen. Es sei aber nichts geschehen, zumal die Polizei nicht viel machen könne und nicht einmal das Hauptquartier aus Angst verlasse. In der Nacht sei es Dunkel und keiner wisse von welchem Ort Schüsse kommen würden und wohin geschossen werde. Im Dorf XXXX sei es hingegen halbwegs sicher.
Befragt, was der Inhalt der vorgelegten Empfehlungsschreiben von den Amerikanern sei, gab der BF an, dass es Empfehlungsschreiben und Auszeichnungen seien, die zum Ausdruck bringen würden, wie hart und fleißig er überall bei den Amerikanern gearbeitet habe. Dies würde sich auf den Dorfrat, die afghanische Nationalarmee und auf die Kontrollen auf den Straßen erstrecken. Es gehe hervor, dass tatsächlich sein Leben in Gefahr gewesen sei. Der BF wurde daraufhin aufgefordert, das vorgelegte Empfehlungsschreiben der Amerikaner vom 11.5.2013 von Englische auf Paschtu zu übersetzen (OZ 59). Der BF führte daraufhin allgemein aus, dass es von seinem Manager XXXX stamme und er seit 22.9.2012 als Dolmetscher für die Sprache Dari und Paschtu tätig sei. Die Einheit heiße Navi Sales und sei die Einheit in der Provinz Zabul gewesen.
In der Folge wurde der BF ausdrücklich aufgefordert den 1.Satz des Unterpunktes 1 zu übersetzen. Dieser Unterpunkt lautete wie folgt: "1.I have known and worked with XXXX since 22 September 2012 and he was selceted to serve as interpreter for SEAL TEAM FOUR due to his ability to effecitvely interpret Pashto and Dari: the concept and meaning of a conversation. SEAL TEAM FOUR relied heavily on XXXX ability to interpret and his knowledge of cultural issues. His skills have proved invaluable in dealing with the multiple Partner Forces across Zabul Provnice. Afghanistan." Dazu führte der BF aus: "Ich XXXX von den Navi Sales bestätige, dass Herr XXXX vom 22.9.2012 bei uns als Dolmetscher/Sprachvermittler angefangen hat. Wir sind sehr stolz auf ihn". Auf Nachfrage der Richterin wurde diese Übersetzung vom BF bestätigt. Den 2. Satz dieses Unterpunktes übersetzte der BF wie folgt: "Während seiner Tätigkeit bei uns war XXXX sehr bemüht. Wir sind sehr stolz, da er in allen gefährlichen Angriffen bei uns zusammen war." Als der BF daraufhin angab den Absatz von Unterpunkt 2 übersetzt zu haben, wurde er aufgefordert den 2. Satz des Unterpunktes 1 zu übersetzen, wobei auf diesen Satz ausdrücklich hingezeigt wurde. Dazu gab der BF an: "Wir sind sehr zufrieden mit seiner guten Mitarbeit in der Provinz Zabul". Auf die Aufforderung zur Übersetzung des letzten Satzes von Unterpunkt 1 führte der BF aus: "Wir sind sehr stolz, was er bei uns in der Provinz Zabul gemacht hat."
Der BF gab an, Ende Juni 2013 die Dolmetschertätigkeit beendet zu haben. Seine Tätigkeit sei befristet gewesen. Mehrere Amerikaner hätten das Land ohnehin verlassen und es habe genug Dolmetscher gegeben. Am 7.7.2013 habe er Afghanistan verlassen, da die Dolmetscher dort einen schlechten Ruf hätten. Die Taliban hätten Dolmetscher als Verräter und Spione bewertet. Ein Dolmetscher könne nicht irgendwo in einer Landwirtschaft arbeiten, weil er erschossen werde. Die Dolmetscher seien in Afghanistan sehr gefährdet und alle Taliban würden auch wissen, wer bei den Amerikanern gedolmetscht habe. Er sei sehr bekannt in seiner Gegend. Wenn man einmal auf der schwarzen Liste der Taliban stehe, habe man keine Chance. Wenn die Taliban wissen würden, dass man Dolmetscher sei, werde man sofort erschossen. Sie hätten Pistolen mit Schalldämpfern. Sie würden nur die Gelegenheit suchen, solche Dolmetscher zu finden und sie gleich erschießen. Manchmal werde der Dolmetscher auch physisch verfolgt, bis die Gelegenheit sich biete, ihn zu erschießen.
Außer seiner Kernfamilie habe er zwei Onkeln mütterlicherseits in Afghanistan. Beide seien in seinem Heimatdorf. Der Onkel mit den guten englischen Sprachkenntnissen sei wieder ins Heimatdorf zurückgekehrt. Der BF stehe in Kontakt mit seinen Eltern. Im Fall seiner Rückkehr habe er nicht nur in seiner Heimatprovinz, sondern überall in Afghanistan Angst um sein Leben. Seine Angaben würden der Wahrheit entsprechen und deswegen habe er sein Heimatland verlassen. Gerüchteweise würden die Taliban auch jetzt nach ihm suchen. Das habe ihm sein Vater erzählt. Auch jetzt werde sein Vater noch telefonisch bedroht. Sie würden verlangen, dass er sich ihnen anschließe. Die Taliban seien nicht darüber informiert, ob er Afghanistan verlassen habe oder nicht. Auf den Vorhalt, ob niemandem aufgefallen sie, dass er sich seit 2013 nicht in Afghanistan befinde, gab der BF an, dass wenn man auf der schwarzen Liste sei, man keine Chance mehr habe. Dies erstrecke sich nur auf Afghanistan. In Österreich könnten die Taliban nichts unternehmen.
In Österreich habe er jetzt die B1 Prüfung positiv abgeschlossen und möchte auch B2 anfangen. Zurzeit habe er keine andere Beschäftigung. Er gehe ins Fitnessstudio. Ansonsten treffe er sich mit seinen einheimischen, österreichischen Freunden, Sie würden gemeinsam im Fitnessstudio trainieren. Am späten Nachmittag würden sie sich treffen und gemeinsam spazieren und plaudern. Er sei nicht Mitglied in einem Verein. Ehrenamtlich mache er viel, z.B. bei XXXX . Er unterstütze auch beim Dolmetschen. Dari und Paschtu übersetze er auf Deutsch. In Zukunft möchte er als Altenpfleger oder als Sozialarbeiter arbeiten. Mit der Polizei habe er in Österreich keine Probleme gehabt. Befragt, ob er sich erkundigt habe, welche Schritte man tun müsse, damit man im Sozialbereich arbeiten könne, gab der BF an, dass er sich in mehreren Stellen informiert und auch seine Telefonnummer bekannt gegeben habe. Er habe sich an die Sozialberatungsstelle gewandt und auch beim Roten Kreuz nachgefragt.
Auf die Frage des Vertreters des BF, wie er übersetzt habe - wortwörtlich oder zusammengefasst - gab der der BF an, dass er sich bemüht habe, das Gespräch sinngemäß wiederzugeben.
12. Am 2.8.2019 wurde vom BF eine Bestätigung des Integrationszentrums XXXX der Caritas vorgelegt, wonach der BF in verschiedenen Tätigkeitsfeldern des Integrationszentrums mitgewirkt habe. Er habe bei Projekten wie: Integrationsfest, "Straßenaktion Aufgedeckt" oder Heimatsharing mitgewirkt und sei in der Vorbereitung als auch in der Durchführung eine große Hilfe gewesen. Ganz wesentlich habe der BF das Integrationszentrum im Juli 2019 bei diversen Bürotätigkeiten unterstützt. Durch seine offene, interessierte, und hilfsbereite Art sei er zu einer wichtigen ehrenamtlichen Stütze für das Integrationszentrum XXXX geworden.
13. Am 19.11.2019 wurde vom BF eine Teilnahmebestätigung an der Informationsveranstaltung "Freiwilliges Engagement im Sozialbereich" des Unabhängigen Landesfreiwilligenzentrums (ULF) in Linz (13.11.2019) und am Projekt XXXX (14.11.2019) vorgelegt.
14. Mit Parteiengehör vom 17.12.2019 wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt - Afghanistan (Stand 13.11.2019) zur Kenntnisnahme und Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen übermittelt. Der BF sah von einer Stellungnahme ab.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des BF:
Der BF ist am XXXX in Afghanistan in der Provinz Kunar im Dorf XXXX geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Der BF ist in seinem Heimatdorf aufgewachsen.
Der BF ist Paschtune und Moslem mit sunnitischem Glaubensbekenntnis.
Der BF spricht muttersprachlich Paschtu.
Der BF hat 12 Jahre lang die Schule besucht und Dari gelernt.
Der BF ist im Kreis seiner paschtunischen Familie aufgewachsen. Die Familie (Vater, Mutter und Geschwister) des BF lebt im Bezirk XXXX in der Provinz Nangarhar, Afghanistan. Es besteht Kontakt zwischen dem BF und seiner Familie über soziale Netzwerke.
Die Familie des BF besitzt eine Landwirtschaft. Der BF hat nach der Schule in der Landwirtschaft mitgeholfen.
Der BF ist ledig und gesund.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der BF hat in Österreich einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 abgeschlossen und zuletzt im Februar 2019 das Niveau B1 erreicht. Er hat einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Er hat sich für den Pflichtschullehrgang am 27.6.2017 abgemeldet. Der BF hat österreichische Freunde und besucht ein Fitnessstudio. Der BF engagiert sich ehrenamtlich im Integrationszentrum XXXX der Caritas. Er unterstützt die Einrichtung bei Projekten wie einem Integrationsfest, der Straßenaktion "Aufgedeckt" oder "Heimatsharing". Er hat das Integrationszentrum im Juli 2019 bei diversen Bürotätigkeiten unterstützt. Er hat an Veranstaltungen zum freiwilligen Engagement im Sozialbereich und dem Projekt get.up im November 2019 teilgenommen.
Der BF möchte im Sozialbereich arbeiten.
Dem BF ist eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kunar nicht zumutbar. Ihm steht jedoch eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung. Er ist jung, gesund, arbeitsfähig und hat eine 12-jährige Schulausbildung und verfügt auch über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft, bei Sozialprojekten und bei Bürotätigkeiten.
1.2 Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF ist in Afghanistan keiner asylrelevanten persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt.
Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen (aufgrund seiner Tätigkeit als Dolmetscher für die US-amerikanischen Streitkräfte von den Taliban verfolgt worden zu sein) ist unzutreffend.
1.3 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in A