Entscheidungsdatum
19.03.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W272 2152232-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 22.08.2018, Zahl XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 26.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 01.03.2017 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status für Asylberechtigte gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I), jedoch wurde ihm gem. § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II). Es wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 21.03.2018 erteilt (Spruchpunkt III).
Dabei führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass dem BF bei einer Rückkehr in sein Heimatland die Lebensgrundlage nicht gänzlich entzogen wäre, zumal er noch über soziale und familiäre Netzwerke in Afghanistan verfüge. Es könne jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der prekären Lage in seiner Heimatprovinz nicht einer besonderen Gefährdungslage ausgesetzt wäre. Eine Rückführung nach Afghanistan erscheine demnach derzeit nicht zumutbar, weil er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde.
2. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.03.2020 wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des genannten Bescheides als unbegründet abgewiesen.
3. Am 01.02.2018 brachte der Beschwerdeführer fristgerecht einen Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ein.
4. Im Rahmen des Parteiengehörs vom 22.01.2018 wurde dem BF mitgeteilt, dass aufgrund seiner Verurteilungen des Landesverwaltungsgerichtes XXXX vom 30.11.2017, wegen des Vergehens und Verbrechens nach dem Suchtmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr unter Gewährung einer Probezeit von drei Jahren, ein Aberkennungsverfahren eingeleitet worden sei. Dabei wurden dem BF die aktuellen Länderfeststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Österreich übermittelt und Fragen zu seiner Lebenssituation und zur aktuellen Situation in Österreich gestellt. Dabei wurde der BF auf die Möglichkeit zur Stellungnahme und Vorlage von Bescheinigungs- bzw. Beweismittel hingewiesen.
5. Mit Stellungnahme vom 05.02.2018 wurde eine Stellungnahme durch den rechtsfreundlichen Vertreter des BF übermittelt. Dabei wurden die im Zuge des Parteiengehörs gestellten Fragen beantwortet und Unterlagen zur Integration vorgelegt:
.) Teilnahmebestätigung "Mann sein in Österreich" vom 02.08.2016;
.) Teilnahmebestätigung an einem Alphabetisierungskurs vom 04.10.2016 bis 24.112016;
.) Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs vom 11.01. bis 12.07.2016;
.) Teilnahmebestätigung Erste Hilfe Kurs vom 15.03.2017 bis 04.04.2017;
.) Teilnahmebestätigung am Werte und Orientierungskurs vom 20.04.2017;
.) Teilnahmebestätigung "Workshop zur Sexualpädagogik" vom 18.04.2017;
.) Teilnahmebestätigung "Basisbildung für junge Flüchtlinge" vom 27.04.2017;
.) Teilnahmebestätigung JRS vom 03.07.2017;
.) Terminbestätigung AMS betreffend ehrenamtliche Tätigkeit im Sommer 2017;
.) Zeitbestätigung über die Teilnahme an einer ÖIF Informationsveranstaltung am 08.07.2017;
.) Prüfungszeugnis A1, ÖIF vom 10.10.2017;
.) Einladung des AMS zu einer Informationsveranstaltung am 13.11.2017;
.) ÖSD Zertifikat A2 vom 04.01.2018;
.) Terminbestätigung AMS vom 08.02.2018 und der Terminvergabe für den 08.02.2018
6. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.08.2018 wurde der dem Beschwerdeführer zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und die zuletzt mit Bescheid erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter vom 01.03.2017 gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Der Antrag vom 01.02.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde abgewiesen (Spruchpunkt III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt VI.) und dass die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VII.). Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Abs. 3 Z. 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Begründet wurde die Entscheidung zusammenfassend damit, dass aufgrund der Tatsache, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen würden in Kombination mit den rechtskräftigen Verurteilungen wegen des Vergehens/Verbrechens nach dem SMG sowie der begangenen Körperverletzung, ein Verfahren zur Aberkennung des dem BF zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten einzuleiten gewesen sei. Dieser Status sei dem BF mit Bescheid vom 01.03.2017 aufgrund der allgemein instabilen Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz Nangarhar und in Anbetracht dessen, dass ihm aufgrund seines damalig jugendlichen Alters eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zugemutet werden könne, zuerkannt worden. In Bezug auf die unmittelbare Herkunftsprovinz des BF sei den aktuellen Länderinformationen folgend nach wie vor von einer allgemeinen Gefährdungslage auszugehen. Dies wäre jedoch nicht für das gesamte Staatsgebiet in gleicher Weise zutreffend und sei etwa eine Rückkehr nach Mazar-e-Sharif, Herat oder Kabul aktuell durchaus möglich. Der BF sei ein junger Mann im arbeitsfähigen Alter und sei ihm zumutbar durch eigene Erwerbstätigkeit - und sei es nur durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten - für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Wie sich aus seiner Einvernahme ergebe, sei sein Vater verstorben, seine Mutter und seine Geschwister blieben bei seiner Ausreise in seinem Heimatdorf XXXX , im Distrikt Hesarak in der Provinz Nangarhar zurück. Dass der BF mit seinen Familienangehörigen nicht mehr in Kontakt stehe, habe er nicht plausibel darlegen können. Auch seien die seinerzeitigen Gründe für die Erteilung des subsidiären Schutzes insofern nicht mehr gegeben, da ihm nun als erwachsener junger Mann im arbeitsfähigen Alter sehr wohl eine innerstaatliche Fluchtalternative in den genannten Großstädten zuzumuten sei. Ebenso sei ihm zumutbar durch eigene Erwerbstätigkeit für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Überdies könne der BF Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen, sodass er zumindest eine kleine Unterstützung für die Zeit gleich nach seiner Heimkehr in Afghanistan hätte. Des Weiteren sei davon auszugehen, dass der BF nach seiner Ausreise (Herbst 2015) aus seinem Heimatland vorwiegend in einer afghanischen Community gelebt habe und er somit seinem Kulturkreis keinesfalls derart entrückt sei, dass ihm eine Wiedereingliederung nicht möglich wäre. Auch sei er der Sprache seines Heimatlandes mächtig und würden ihm all diese Gegebenheiten letztlich bei seiner Reintegration zugute kommen. Bei einer Gesamtschau könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gegenwärtig einer spürbar besonderen Gefährdung in Afghanistan ausgesetzt wäre. Die Erlassung des Einreiseverbotes stütze die Behörde auf das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen, die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall sowie die Tatbegehung während offener Probezeit.
7. Mit Schriftsatz vom 11.05.2019 erhob der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dabei wurde im Wesentlichen die bisherigen Verfahren vorgebracht. Zudem wurde auf diverse Berichte verwiesen und auf die schwerwiegende Menschenrechtslage in Afghanistan hingewiesen und hinsichtlich der Sicherheitslage in Kabul darauf verwiesen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul ausgeschlossen werde. Zur Situation von Rückkehrern wurde auszugsweise aus dem Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 zitiert und gefolgert, dass dem BF eine Rückkehr nicht zumutbar sei. In Bezug auf die vom BF begangenen Straftaten habe es die Behörde unterlassen eine individualisierte Gefährlichkeitsprognose zu treffen. So habe die Behörde lediglich erschwerende Umstände jedoch nicht den Lebens- und Wertewandel des BF berücksichtigt. Eine Gefahr des Rückfalls bestehe demnach nicht. Weiters verlangte die Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der BF beantragte, dass das BVwG den angefochtenen Bescheid zur Gänze behebe und feststelle, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht abzuerkennen sei und daher dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukomme, und falls nicht alle zu Lasten des BF gehenden Rechtswidrigkeiten im angefochtenen Bescheid in der Beschwerde geltend gemacht wurden, diese amtswegig aufzugreifen bzw. allenfalls einen Verbesserungsauftrag zu erteilen, um die die nicht mit der Beschwerde geltend gemachten Beschwerdepunkte ausführen zu können, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückzuverweisen, den Bescheid hinsichtlich des Spruchpunktes IV., das Einreiseverbot ersatzlos zu beheben, in eventu das auf sechs Jahre befristetet Einreisverbot auf eine angemessene Dauer herabzusetzen.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.01.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
Mitvorgelegt wurde:
.) Arbeitsvertrag vom 24.02.2019;
.) Lohnabrechnung vom 23.02.2019;
.) Arbeitszeugnis vom 22.12.2019
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan am XXXX geboren, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Der BF ist im November 2015 als unbegleiteter Minderjähriger illegal nach Österreich eingereist. Der Beschwerdeführer; zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten am 01.03.2017 war der BF 17 Jahre alt.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Nangarhar, im Distrikt Irasak (phonetisch), im Dorf XXXX (phonetisch). Er ist in Afghanistan geboren und aufgewachsen. Der Beschwerdeführer hat die Schule besucht. Er kann lesen, schreiben und verfügt über mathematische Kenntnisse. Zudem arbeitete der BF in der Landwirtschaft und bewirtschaftete gemeinsam mit seinen Angehörigen die im Eigentum der Familie stehenden Felder, wo sie Mais, Gemüse und Weizen anbauten und hatten sie Tiere; Kuh, Hunde und Vögel. Der Beschwerdeführer spricht Paschtu und Dari, Arabisch und etwas Deutsch. Der Beschwerdeführer verfügt über Familienangehörige im Herkunftsland. Der Beschwerdeführer ist mit der sozialen und kulturellen Umgebung in Afghanistan vertraut.
Der Beschwerdeführer ist sowohl psychisch als auch physisch gesund und nimmt keine Medikamente. Der Beschwerdeführer leidet an keiner schwerwiegenden oder gar lebensbedrohenden gesundheitlichen Beeinträchtigung. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.
Der BF ist in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Herkunftsland.
1.2 Zum Leben in Österreich:
Der BF war zunächst, nach illegaler Einreise in das österreichische Staatsgebiet und Antragsstellung auf internationalen Schutz am 26.11.2015, als Asylwerber in Österreich aufhältig.
Nach Zustellung des Bescheides vom 01.03.2017 war er als subsidiär Schutzberechtigter aufhältig und erhielt zunächst eine bis 01.03.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung. Der BF war minderjährig. Eine Rückführung nach Afghanistan war nicht zumutbar, weil es mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK dargestellt hätte.
Eine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status als Asylberechtigter wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes am 04.03.2020 als unbegründet abgewiesen.
Ein Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes wurde 01.02.2018 - zwei Monate nach dem 18. Geburtstag - gestellt und dieser mit dem gegenständlichen Bescheid abgewiesen und der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt.
Der Beschwerdeführer weist folgende rechtskräftige Verurteilungen auf:
Bezirksgericht XXXX , GZ. XXXX , vom 11.05.2017 wegen § 83 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat bedingt verurteilt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren (Jugendstrafhaft)
Landesgericht XXXX , GZ. 009 HV 135/2017m, vom 30.11.2017 wegen §15 StGB, § 28 a (1) 3. Fall SMG, § 28 (1) 2.Fall SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr bedingt verurteilt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren (Jugendstrafhaft). Zudem wurde eine Bewährungshilfe angeordnet
Der Beschwerdeführer ist seit November 2015 in Österreich aufhältig. Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Familienangehörigen. Er hat einen Freundeskreis. In seiner Freizeit geht er ins Fitnesscenter und trifft seine Freunde. Zu Beginn seines Aufenthaltes war der Beschwerdeführer nicht selbsterhaltungsfähig und lebte von der Grundversorgung. Im Jahr 2018 arbeitete der BF sechs Monate lang als Küchenhilfe und Abwäscher. Der BF arbeitet derzeit bei zwei Firmen ( XXXX ) als Reinigungskraft. Seit Februar 2019 verfügt der BF über einen Arbeitsvertrag als Saisonarbeiter im Hotel- und Gastgewerbe. Seit Dezember 2018 befindet sich der BF nicht mehr in der Grundversorgung. Im Jahr 2016 besuchte er einen Alphabetisierungskurs und einen Workshop "Mann sein in Österreich". Seit März 2017 absolvierte er einen Erste-Hilfe-Kurs, nahm an einem Werte und Orientierungskurs, einem Workshop zur Sexualpädagogik, an einer Basisbildung für junge Flüchtlinge sowie an diversen Informationsveranstaltungen teil. Der BF hat im Oktober 2014 ein Zeugnis A1 und im Jänner 2018 das ÖSD Zertifikat A2 absolviert. Der BF spricht Deutsch.
Der BF ist im Vergleich zum Zeitpunkt der Erlassung des vorhergehenden Bescheides (aus 2017) älter, erfahrener, hat Berufserfahrungen gemacht, ergänzende Bildungsschritte und selbständig soziale Kontakte geknüpft, darunter auch zu Österreichern die er über die Arbeit und das Fitnessstudio kennengelernt hat.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland:
Im Fall einer Rückkehr an den Ort seiner Geburt und Herkunft, Nangahar, wäre der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der ernsthaften Gefahr durch den Eintritt eines ernsthaften Schadens im Sinne entweder der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder einer Behandlung wie Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt, die auf Faktoren beruht, die den afghanischen Behörden direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind (sei es der Art, dass die Behörden Afghanistan ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren würden, oder der Art, dass diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückginge, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen könnten). Es hat sich in Bezug auf seine Bescheide, in welche ihm der Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt wurde, keine wesentliche Änderung bezüglich der Rückkehr in seine Heimatprovinz ergeben.
Dem BF steht nun jedoch als innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Städte Mazar-e-Sharif oder Herat zur Verfügung, obwohl in diesen beiden Städten eine angespannte Situation vorherrschen. Es ist ihm möglich ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befrieden zu können, bzw. ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF würde bei seiner Rückkehr in eine dieser Städte kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und zumindest vorrübergehend verschiedene Hilfsprogramme in Anspruch nehmen, die in bei der Ansiedlung in Mazar- e Sharif oder Herat unterstützen.
Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm auf Grund der Tatsache, dass er sich etwas über vier Jahre in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.
Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder auf Grund seines Aufenthalts in einem europäischen Land in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Der BF kennt sich mit der sozialen und kulturellen Umgebung in Afghanistan aus. Er ist in Afghanistan geboren, aufgewachsen und hat dort die Schule besucht und gearbeitet. Er kann auch Unterstützung durch internationale und nationale Organisationen erhalten.
Die Städte Mazar-e-Sharif und Herat sind von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug zu erreichen. Und vom Flughafen ist die Stadt sicher zu erreichen.
Der BF hat keine individuellen gefahrenerhöhenden Umstände aufgezeigt, die unter Beachtung seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände eine Gewährung von subsidiären Schutz auch bei einem niedrigen Grad willkürlicher Gewalt angezeigt hätte.
Zur Situation in Afghanistan und zur Situation von Angehörigen der Sunniten und der Paschtunen ergibt sich unter Zugrundelegung der im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, dass keine Gefährdung oder Bedrohung zu erwarten ist:
1.4. Zum Herkunftsstaat:
Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt.
(letzte Aktualisierung 13.11.2019).
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).
Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).
Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).
Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.1.2017) - nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
Abb. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle 2015-2018 in ganz Afghanistan gemäß Berichten des UN-Generalsekretärs (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UN-Daten (UNGASC 7.3.2016; UNGASC 3.3.2017; UNGASC 28.2.2018; UNGASC 28.2.2019))
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Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).
Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).
Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:
Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
2016
2017
2018
2019
Jänner
2111
2203
2588
2118
Februar
2225
2062
2377
1809
März
2157
2533
2626
2168
April
2310
2441
2894
2326
Mai
2734
2508
2802
2394
Juni
2345
2245
2164
2386
Juli
2398
2804
2554
2794
August
2829
2850
2234
2443
September
2493
2548
2389
-
Oktober
2607
2725
2682
-
November
2348
2488
2086
-
Dezember
2281
2459
2097
-
insgesamt
28.838
29.866
29.493
18.438
Abb. 2: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.))
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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):
Abb. 3: Sicherheitsrelevante Vorfälle nach Quartalen und Vorfallsarten im Zeitraum 1.1.2018-30.9.2019 (Global Incident Map, Darstellung der Staatendokumentation; BFA Staatendokumentation 4.11.2019)
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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).
Zivile Opfer
Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).
Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019))
Jahr
Tote
Verletzte
Insgesamt
2009
2.412
3.557
5.969
2010
2.794
4.368
7.162
2011
3.133
4.709
7.842
2012
2.769
4.821
7.590
2013
2.969
5.669
8.638
2014
3.701
6.834
10.535
2015
3.565
7.470
11.035
2016
3.527
7.925
11.452
2017
3.440
7.019
10.459
2018
3.804
7.189
10.993
2019*
2.563*
5.676*