TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/20 W173 2167611-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.03.2020
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Entscheidungsdatum

20.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W173 2167611-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.7.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) stellte am 7.10.2014 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz in Österreich.

2. Bei der am 7.10.2014 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Burgenland gab der BF im Wesentlichen an, er sei im Iran in XXXX am XXXX geboren, spreche Dari und Farsi und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Er habe seit seiner Geburt bis zu seiner Ausreise im Iran gelebt. Er habe drei Jahre die Grundschule in XXXX besucht und als Schuster gearbeitet. Zu seiner Familie zählte der BF seinen Vater ( XXXX - XXXX Jahre), seine Mutter XXXX ( XXXX Jahre), seinen Bruder XXXX ( XXXX Jahre) und seine drei Schwestern ( XXXX mit XXXX Jahren, XXXX mit XXXX Jahren und XXXX mit XXXX Jahren) auf. Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass sein Vater aus gesundheitlichen Gründen Afghanistan verlassen habe. Der BF habe nicht mehr im Iran bleiben können, da ihm die Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe. Er habe weder zur Schule gehen noch offiziell arbeiten dürfen. Er habe vor vier Monaten den Iran verlassen und sei nach Österreich geflohen. Hier möchte er eine bessere Zukunft haben. Bei einer Rückkehr in sein Heimatland befürchte er im Iran keine Zukunft zu haben.

3. Im Rahmen der Befragung am 28.10.2014 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gab der BF an, alle Angaben in der Erstbefragung seien richtig, vollständig und wahrheitsgetreu erfolgt. Seine Eltern würden gemeinsam im Iran in XXXX leben. Er habe letzten Freitag telefonisch Kontakt gehabt. Unter der vom BF angegebenen Telefonnummer konnte keine ordnungsgemäße Verbindung hergestellt werden. Nach Vorhalt der Röntgenuntersuchung seiner linken Hand durch die belangte Behörde, wonach daraus jedenfalls seine Volljährigkeit resultiere, beharrte der BF darauf, XXXX Jahre alt zu sein. Er sei am XXXX geboren. Das habe ihm sein Vater gesagt.

4. Mit Verfahrensanordnung vom 1.12.2014 wurde auf Basis des eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachtens der XXXX als Geburtsdatum für das Mindestalter des BF festgesetzt. Mit Schreiben vom 15.12.2016 legte der BF Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse sowie Zertifikate über die bestandenen Deutschprüfungen für das Niveau A1 (13.12.2016) und A2 (7.3.2017) vor.

5. Am 21.6.2017 wurde der BF vom BFA, Regionaldirektion Oberösterreich, niederschriftlich einvernommen. Bislang habe er die Wahrheit gesagt und alles sei korrekt rückübersetzt worden. Der BF behauptete XXXX Jahre alt zu sein ( XXXX ). Als Geburtsdatum gab er nach den afghanischen Kalender XXXX an. Er führte weiter aus, schiitischer Moslem zu sein und Farsi, Dari und ein wenig Deutsch zu sprechen. Er sei im Iran geboren und habe dort zwei Jahre die Schule besucht. Mit neun Jahren sei er nach Herat in Afghanistan zurück und habe dort die Schule besucht. Wegen der Krankheit seines Vaters sei die Familie, als er cirka 10 Jahre gewesen sei, wieder nach XXXX in den Iran gegangen. Dort habe er dann acht Jahre bei einem Schuster als Hilfsarbeiter gearbeitet. Mit neun Jahren habe er das letzte Mal in Afghanistan im Dorf XXXX , Provinz Herat gewohnt. Er habe sich dort ein Jahr aufgehalten. Er habe in Afghanistan keine Verwandten. Er kontaktiere jede Woche einmal seine Eltern im Iran. Mit seinen Geschwistern habe er keinen Kontakt. Ihnen sei sein Aufenthaltsort unbekannt. Er habe Probleme mit dem Bruder gehabt. Der BF und seine Cousine väterlicherseits ( XXXX ) seien befreundet und verliebt gewesen, wovon die Eltern nichts gewusst und Vermählungsgespräch zwischen dem Bruder des BF ( XXXX ) und dieser Cousine initiiert hätten. Trotz Weigerung der Cousine sei es zur Vermählung mit seinem Bruder gekommen. Wegen des guten Verhältnisses zwischen dem BF und seiner Cousine habe der Bruder Probleme gehabt, die in Streit in seiner Ehe geendet hätten. Eines Tages habe die Cousine seinem Bruder und Ehemann von ihrer Liebe zum BF erzählt und es so nicht mehr weitergehen könne. Der BF habe dies dem Bruder bestätigt, sei vom ihm geschlagen und getreten worden. Der BF sei dann zwei Tage nicht zuhause gewesen und habe von der Mutter von der Anzeige seines Bruders erfahren, wonach der BF mit seiner Ehefrau eine Beziehung gehabt habe. Näheres über die Anzeige wisse er nicht. Der BF habe sich illegal im Iran aufgehalten. Die Mutter habe dem BF eine Reise in die Türkei vorgeschlagen. Dem sei der BF nachgekommen und sei aus dem Iran ausgereist. Er habe auch keine Probleme mit Privatpersonen wie bspw. Blutfehden, Racheakt in Afghanistan.

Aufgefordert, seine Fluchtgründe anzugeben, führte der BF aus, wegen der Krankheit des Vaters wieder in den Iran wegen der besseren Versorgung zurückgereist zu sein. Aus dem Fernsehen sei ihm bekannt, dass in Afghanistan Kinder gestohlen würden. Auf die Frage, ob noch Verwandte im Heimatdorf leben würden, gab der BF an, dass alle im Iran seien. Selbst seine Großeltern hätten im Iran gewohnt, seien aber schon verstorben. Seinen Eltern hätten das Heimatdorf vor seiner Geburt verlassen. Er habe niemanden in Afghanistan, kenne dort niemanden und sei nur ein Jahr in Afghanistan gewesen. Die Frage, ob seine Eltern Geschwister in Afghanistan hätten oder gehabt hätten, beantwortete der BF mit nein. Nach Afghanistan sei er nicht zurück, da er dort niemanden habe und seine Brüder könnten ihn dort ausfindig machen. Zudem habe er im Iran Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan gehabt. Für die Vorlage der Anzeige wurde dem BF eine Frist bis zum 5.7.2017 eingeräumt. Der BF bestätigte auch, sämtliche seiner Fluchtgründe angegeben zu haben. Nach Auskunft seiner Mutter lebe seine Cousine, auch nach der Anzeige noch immer mit seinem Bruder und streite mit ihm. Ihre Kinderlosigkeit beweise, dass sie mit der Beziehung nicht einverstanden sei. Abgesehen von Küssen habe er mit seiner Cousine keinen intimen Kontakt gehabt. Im Iran würden bei einer außerehelichen intimen Beziehung eines Mannes mit einer verheirateten Frau der Mann und die Frau gesteinigt bzw. gebe es manchmal auch nur die Todesstrafe. Seine Eltern seien gegen die Anzeige gewesen, da ihnen die Folgen für den BF bewusst gewesen seien. Zur Frage der Folgen seiner Rückkehr nach Afghanistan gab der BF an, dort niemanden zu haben. Die Stadt Herat sei zwar sicher, es würden aber auch dort Anschläge passieren. Er sei damals 10 Jahre gewesen, könne sich fast nicht mehr erinnern und habe dort niemanden. Es könnte ihn auch dort sein Bruder finden. Es könnte alles passieren und er wisse nicht, was sein Bruder machen würde. Sein Bruder warte bis er den BF finde, um seine Anzeige zu Ende bringen zu können, sodass auch seine Gattin gesteinigt werden könnte, womit sein Bruder einverstanden sei. Er habe keine Verwandten in Österreich. Er besuche in Österreich keine Schule, sondern nur einen Deutschkurs. Er spiele in Österreich Volleyball und habe zu den österreichischen Spielern Kontakt. Am 10.7.2017 übergab der BF eine Bestätigung zu seinem wöchentlichen Training 1 bis 2 Mal für Volleyball des Vereins Sportunion XXXX . Darin wurde auch ausgeführt, dass der BF gut integriert sei und an Freizeitaktivitäten teilnehme. Er kommuniziere auch über soziale Medien mit den Mitgliedern in deutscher Sprache. Zudem teilte der BF mit Schreiben vom 7.7.2017 mit, die Anzeige seines Bruders nicht übermitteln zu können. Sein Bruder habe mit dem BF ein persönliches Problem und händige die Anzeige auch nicht seinen Eltern aus, um sie an den BF zu übermitteln. Selbst die Polizei übergebe die Anzeige nicht, da er nicht persönlich anwesend und daher der Akt geschlossen worden sei.

6. Mit Bescheid vom 25.7.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde in Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Zu Spruchpunkt I. führte die belangte Behörde aus, dass die Probleme des BF im Iran nicht geeignet wären, eine Asylgewährung zu rechtfertigen, da sie sich nicht auf den Herkunftsstaat des BF, Afghanistan, beziehen würden. Auch eine Rückkehr sei für den BF zumutbar. Der BF sei 22 Jahre alt, gesund und verfüge über acht Jahre Berufserfahrung als Schuster. Bei einer Rückkehr nach Herat könnte ihn auch seine Familie finanziell unterstützen.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 26.7.2017 wurde dem BF die ARGE-Rechtsberatung Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Mit Schreiben vom 7.8.2017 erhob der BF in vollem Umfang Beschwerde gegen den Bescheid vom 25.7.2017. Der Bescheid leide an inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Verfahrensmängeln. Der bisherige Sachverhalt sei nicht im ausreichenden Maß erhoben worden. Die Länderfeststellungen seien unzureichend und veraltet. Die belangte Behörde habe den Antrag des BF auf internationalen Schutz abgewiesen, da sie das Vorbringen als unglaubwürdig erachte. Die diesbezügliche Beweiswürdigung sei unschlüssig. Schon auf Grund des Umstandes, dass sich der BF nur ein Jahr in Afghanistan aufgehalten habe und sonst im Iran aufgewachsen sei, sei der BF Verfolgung ausgesetzt. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Behörde eine Rückkehr des BF nach Afghanistan als zumutbar erachte. Hätte die Behörde ein ordentliches Ermittlungsverfahren durchgeführt, hätte sie zum Schluss kommen müssen, dass das Vorbringen des BF, in seinem Herkunftsland einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, glaubwürdig sei. Dem BF drohe durch die außereheliche Beziehung mit einer verheirateten Frau eine Straftat nach afghanischem Recht, wofür einer er bei einer Rückkehr mit Auspeitschung bestraft werden würde. Ob sein Bruder auch in Afghanistan eine Anzeige erstattet habe, könne der BF nicht angeben. Der BF sei daher von staatlicher Verfolgung bedroht. Als Mann im wehrfähigen Alter sei der BF Zwangsrekrutierungen ausgesetzt. Zudem gehöre der BF der Minderheit der Tadschiken an. Er sei auch schon auf Grund seines Aufenthaltes in Österreich als westlich geprägt einzustufen und auch aus diesem Grund in Afghanistan Verfolgung ausgesetzt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei auch auszuschließen, da es für Stammesgesellschaften mit nahen Familiennetzen kein Problem darstelle, jemanden zu finden. Angesichts der prekären Sicherheitslage hätte die belangte Behörde dem BF auch zumindest subsidiären Schutz gewähren müssen. Auch stelle die Rückkehrentscheidung einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des BF dar, da dieser äußerst engagiert sei, möglichst schnell und gut Deutsch zu lernen und Angebote zur Eingliederung in die österreichische Gesellschaft wahrzunehmen. Er sei beispielsweise Mitglied in einem Volleyballverein.

8. Am 18.6.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung und einer für die Sprache Dari bestellten Dolmetscherin durch.

Der BF gab an, er wisse sein Geburtsdatum nicht, habe es von seinen Eltern gehört und akzeptiere den XXXX . Im Alter von neun Jahren habe er für ein Jahr in Herat die öffentliche Schule besucht. Er sei schiitischer Tadschike, in XXXX im Iran geboren und seine Eltern würden aus Herat stammen. Die Verwandten seiner Eltern würden im Iran leben. Sein Vater habe sechs Schwestern und sei der einzige Junge. Auf Vorhalt der erkennenden Richterin, in der vorhergehenden Einvernahme, wonach sein Vater keine Geschwister habe, gab der BF an, davon nichts mehr zu wissen. Er habe nur angegeben, dass er keine Verwandte in Afghanistan habe. Der BF bestätigte, dass sein Vater aus Afghanistan stamme. Er spreche Farsi und habe Dari von seiner Familie gelernt. In Österreich habe er etwas Deutsch gelernt. Insgesamt sei er zwei Jahre im Iran in XXXX in eine staatliche Schule mit anderen Iranern und ein Jahr in Afghanistan zur Schule gegangen. Danach habe er im Iran als Schuster zu arbeiten begonnen. Da es seinem Vater gesundheitlich nicht gut gegangen sei, und in Afghanistan eine schlechte gesundheitliche Versorgung vorgeherrscht habe, hätte seine Familie - als er 10 Jahre alt gewesen sei - wieder in den Iran nach XXXX zurückkehren müssen. Seine Eltern würden im Iran leben und er habe einmal in der Woche Kontakt. Er sei in XXXX im Iran aufgewachsen und habe immer dort gelebt.

Zum Alter seiner Eltern gab der BF an, sein Vater sei ungefähr 50 Jahre. Das Alter seiner Mutter schätze er auf XXXX und XXXX Jahre. Auf den Vorhalt zu seiner Altersangabe in der vorherigen Einvernahme, wonach seine Mutter XXXX Jahre sei, gab der BF an, irgendetwas gesagt zu haben. Dies rechtfertigte der BF damit, nicht einmal sein eigenes Alter gewusst zu haben. Mit seinen Eltern telefoniere er einmal in der Woche. Es gehe ihnen gut. Sein Vater versorge die Familie mit Obstverkauf. Sie hätten eine Aufenthaltsberechtigung im Iran und hätten diese erst nach einigen Monaten, als der BF den Iran verlassen habe, bekommen. Seinem bereits verstorbenen Großvater XXXX , der in Afghanistan gelebt habe, sei es nicht möglich gewesen, nach Afghanistan zurückzukehren, da er einen Sohn gehabt habe, der im Iran gelebt habe. Er habe mit der Familie des BF im Iran gelebt. Die Geschwister seines Vaters würden alle aus Herat stammen. Davon gehe er aus. Sein Vater habe sechs Schwestern, von denen eine verstorben sei und der Rest im Iran lebe. Der BF habe drei Schwestern und einen älteren Bruder, der XXXX oder XXXX Jahre alt sei. Außer seinen Eltern, die von seinem Aufenthalt wüssten, habe er zu seinen Geschwistern keinen Kontakt. Darüber hinaus seien seine Geschwister nicht von seinem Aufenthalt informiert.

Zu seinen Gründen für die Ausreise aus dem Iran brachte der BF im Wesentlichen vor, dass er Probleme mit seinem Bruder gehabt habe. Er und seine Cousine väterlicherseits (Tochter seiner Tante väterlicherseits) seien ineinander verliebt gewesen. Die Familie habe nichts über die Liebe zwischen ihnen gewusst, bis dann sein Bruder um die Hand dieser Cousine angehalten habe. Er habe sich nicht eingemischt, da er zu jung gewesen sei. Er sei damals 19 Jahre alt gewesen. Er habe sich nicht getraut, etwas zu sagen. Es sei in seiner Familie kulturell so, dass man nicht gegen den älteren Bruder und den Vater sprechen könne. Er sei so erzogen worden. Nachdem die Cousine mit seinem Bruder verheiratet gewesen sei, habe der BF ihr keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Er habe versucht, sich von ihr fernzuhalten. Sie sei immer zu ihm gekommen. Sein Bruder habe Verdacht geschöpft und nicht gewollt, dass seine Frau sich besser mit dem BF verstehe, als mit ihm selbst. Sie hätten miteinander Spaß gehabt, sie habe mit dem BF gelacht und habe mehr mit dem BF gesprochen. Sonst sei nichts gewesen. Aber das sei in seiner Kultur etwas Abnormales. Nach einem Streit habe die Frau seinem älteren Bruder ( XXXX ) alles erzählt. Vor der Ehe seien sie sich sehr nahegestanden und hätten Körperkontakt gehabt. Er habe vor deren Ehe mit der Cousine keinen Sex gehabt. Sie hätten einander geküsst und sich umarmt. Er wisse nicht, was seine Cousine seinem Bruder alles erzählt habe. Als er dann zu Hause gewesen sei, habe XXXX ihm eine Ohrfeige gegeben. Seine Eltern seien anwesend gewesen. Sein Bruder habe ihn gefragt, ob er mit XXXX (der Ehefrau) eine Beziehung habe. Der BF habe das bejaht. Dann habe er angefangen, den BF zu verprügeln. Seine Eltern hätten ihm geholfen, dass er wegkomme. Er sei zwei Tage nicht nach Hause gegangen. In dieser Zeit sei der BF mit seiner Mutter in Kontakt gestanden. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass XXXX bei der Polizei eine Anzeige gegen ihn eingebracht habe. Seine Eltern seien nicht erfreut darüber gewesen, dass er mit XXXX eine Beziehung gehabt habe. Auf den Vorhalt, dass seinen eigenen Aussagen zufolge diese Beziehung mit der Vermählung zu Ende gewesen sei, gab der BF an, dass sein Bruder sich habe gekränkt gefühlt. Deswegen habe er den BF auch angezeigt. Zum Vorhalt, dass im Iran die Scheidung möglich sei, gab der BF an, dass es in seiner Familie üblich sei, sich nicht scheiden zu lassen. Als er mit seiner Cousine eine Beziehung gehabt habe, seien der BF und die Cousine zwischen XXXX und XXXX Jahren gewesen. Sie hätten zwar Körperkontakt, aber keinen Sex gehabt. Die Hochzeit des Bruders liege rund 5 Jahre zurück, er wisse es nicht genau in welchem Jahr. Sein Bruder habe ihn angezeigt und er sei gezwungen gewesen, das Land zu verlassen. Er habe angezeigt, dass der BF und die Cousine etwas miteinander gehabt hätten. Was der Bruder genau bei der Polizei formuliert und angezeigt habe, wisse der BF nicht. Aber seine Mutter habe ihm erzählt, dass der Bruder ihn angezeigt habe. Ob die Anzeige jemand gesehen habe, wisse er nicht. Es wisse auch nicht, ob die Anzeige erfunden sei. Aber unter der Voraussetzung, dass sein Bruder eine Anzeige gegen ihn im Iran erstattet hätte, dann wäre diese für seinen Bruder wichtiger gewesen, als nach Afghanistan wegen der fehlenden Aufenthaltsberechtigung abgeschoben zu werden. Seine Mutter habe ihm gesagt, sie wisse auch nicht, was mit dem BF passieren würde, deswegen müsse er in die Türkei gehen. In der Türkei habe ihn seine Familie unterstützt. Im Iran sei es sehr schlimm, wenn eine verheiratete Frau mit einem anderen Mann eine außereheliche Beziehung habe.

Auf die Frage, was er bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab der BF an, "Zuerst, habe ich niemanden in Afghanistan und würde dort keine Arbeit finden". Weiters führte er aus, viele junge Männer würden das Land verlassen und in den Iran oder nach Pakistan gehen. Er würde auf der Straße landen. Er habe dort keine Anknüpfungspunkte und keine Unterstützung. Er sei in die Türkei gegangen, um von dort in ein europäisches Land zu kommen, das ihn beschütze, wo er sich lange aufhalten könne, auf Dauer bleiben und arbeiten könne. Er brauche Schutz und Unterstützung, um die Sprach zu lernen und eine Ausbildung zu machen, um eine Arbeit zu finden. In der Türkei hätte er sich kein Leben aufbauen können. Es gebe dort keine Möglichkeit, auf eigenen Beinen zu stehen, zu arbeiten und mit dem Leben weiterzumachen. Er befürchte auch, dass sein Bruder, falls er von seinem Aufenthalt in Afghanistan erfahren würde, ungeachtet des Verlustes seiner Aufenthaltsberechtigung im Iran nach Afghanistan kommen und ihn umbringen würde. Als er sich in Afghanistan aufgehalten habe, habe er in den Nachrichten von Kindesentführungen gehört und deshalb habe er vor Afghanistan Angst. Bei einer Rückkehr nach Kabul oder Herat befürchte er, als Schiit besonders gefährdet zu sein, zumal die meisten Attentate auf Schiiten ausgeübt werden würden. Er kenne auch die afghanische Kultur nicht, da er im Iran sozialisiert worden sei und sich nicht in Afghanistan zurechtfinden würde. Wenn er sich in Afghanistan aufhalte, würden sich seine Eltern gezwungen sehen, sich um ihn zu kümmern und würden versuchen, ihn zu unterstützen. Es bestünde daher die Möglichkeit, dass sein Bruder über seinen Aufenthalt in Afghanistan erfahren würde. Trotz Telefonate mit seinen Eltern würde sein Bruder von seinem Aufenthalt in Österreich nichts wissen.

In Österreich versuche er derzeit die Sprache zu lernen. Er habe Deutschkurse absolviert und spiele Volleyball im Verein. Zurzeit sei er eher zuhause, da die Kurse kostenpflichtig seien. Der BF gab an, dass er eine Ausbildung als Friseur machen wolle. Im Zuge der Verhandlung wurden vom BF ein Bericht zu einem Anschlag in Herat vom 1.8.2017, diverse Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen - zuletzt vom 6.11.2017 auf Niveau B1/2 für Asylwerber, sowie ein Zertifikat über eine bestandene Deutschprüfung auf dem Niveau A2 und A1 vorgelegt.

Zu den in Zuge der Anberaumung der mündlichen Verhandlung übermittelten Länderberichten führte die Vertretung des BF in der mündlichen Verhandlung am 18.6.2018 zusammengefasst aus, dass sich die Sicherheitslage in den letzten Monaten in Afghanistan immer mehr verschlechtert habe, zumal regierungsfeindliche Kräfte überall im Land aktiv seien. Der BF habe seine Kindheit mit Ausnahme eines Jahres im Iran verbracht. Als Schiit sei er auch aus religiösen Gründen von einer Verfolgung bedroht. Er habe in Afghanistan keine Familienangehörige und kein familiäres Netz, welches ihn unterstützen könne. Durch steigende Rückkehrerzahlen in Ballungszentren habe sich die angespannte Lage verschlimmert. Der BF sei auch noch nie in Kabul oder anderen größeren Städten in Afghanistan gewesen. Eine Rückkehr würde beim BF zur Mittellosigkeit führen, ohne Aussicht auf einen Einstieg in die afghanische Gesellschaft. Dem BF sei daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

9. Mit Parteiengehör vom 27.2.2019 wurden dem BF die aktuellen Länderberichte mit Stand vom 30.1.2019 zur Kenntnis gebracht und die Möglichkeit zur Stellungnahme gewährt.

10. Mit Schreiben vom 11.3.2019 wurde zu den übermittelten Länderberichten (Stand 31.1.2019) sowie die UNHCR-Richtlinien (Stand 30.8.2018) eine Stellungnahme übermittelt, in der ausgeführt wird, dass die Lage in Afghanistan extrem angespannt sei. Die Provinzhauptstädte stünden unter zunehmenden Druck wegen der großen Anzahl an IDPs, die sich in den Städten niederlassen würden. Die hohe Anzahl an IDPs führe zu einer drastischen Verschärfung der Lebens- Arbeits- und Versorgungsbedingungen in den Städten. Insbesondere in den nördlichen und westlichen Gebieten Afghanistans wie Balkh, Ghor, Faryab, Badghis, Herat und Jowzjan breche das wesentliche Standbein, die Landwirtschaft, aufgrund der vorherrschenden Trockenzeit zusammen. UNHCR hebe hervor, dass sich die Sicherheitslage in Kabul selbst stark verschlechtert habe und darüber hinaus von einer negativen Entwicklungsprognose auszugehen sei. Kabul sei als innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Frage zu stellen. Der BF wäre im Falle seiner Rückkehr wesentlichen Sicherheitsrisiken und Einschränkungen in seiner Bewegungsfreiheit ausgesetzt. Angriffe, die oft von mehreren Faktoren abhängend könnten nicht in verlässlicher Weise vorausgesehen werden. Insbesondere führe das Aufsuchen öffentlicher Stellen sowie die Teilnahme an politischen Prozessen, wie beispielsweise an Wahlen, das reale Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, mit sich.

Zwar würden Balkh und Herat als stabile und friedliche Provinzen gewertet, aber auch dort komme es zu Zwischenfällen. Im Jahr 2017 seien sowohl in Kabul als auch in Herat heilige Orte, wie schiitische Moscheen angegriffen worden. Auch der IS sei mittlerweile in Herat aktiv. Zum Stand Dezember 2017 hätten u.a. die Provinzen Herat, Kabul und Balkh die höchste Anzahl an Binnenvertriebenen zu verzeichnen gehabt. Die meisten Binnenvertriebenen würden aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten stammen und in die größeren Städte innerhalb derselben Provinz fliehen. In diesen Städten käme es jedoch häufig zu einem Kampf um Ressourcen zwischen den Binnenvertriebenen und der aus den Städten selbst stammenden Bevölkerung. Mehr als 80% der Binnenvertriebenen seien auf Nahrungsmittel- und humanitäre Hilfe angewiesen. Wegen des hohen Konkurrenzdrucks komme es zu Konflikten und seien Binnenvertriebene Diskriminierung ausgesetzt.

Vor dem Hintergrund der prekären Sicherheits- und sich zuspitzenden Versorgungslage in den afghanischen Städten, insbesondere im Hinblick auf Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, befinde sich der BF in einer besonders vulnerablen Situation. Die bereits lange Abwesenheit aus Afghanistan, die fehlenden familiären Anknüpfungspunkte vor Ort, die fehlende Ortskenntnis, vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Versorgungssituation in den großen Städten, die fehlenden finanziellen Eigenmittel bzw. fehlendes Eigentum im Sinne von Grundbesitz, welchen der BF als Unterkunft nutzen könnte, würden kumulativ dazu führen, dass der BF jedenfalls nicht in der Lage dazu sei, den für ein zumutbares Leben notwendigen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Der BF sei im Iran geboren und habe lediglich als Jugendlicher ein Jahr in Herat verbracht. Seine Familie lebe im Iran, er habe keinerlei verwandtschaftliche oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Er verfüge über keinerlei Ortskenntnisse in Afghanistan. Wie sich aus den Länderfeststellungen ergehe, sei die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan nach wie vor prekär. Im Falle einer Rückkehr wäre der BF daher zumindest vorerst komplett auf sich alleine gestellt. Eine finanzielle Unterstützung durch seine im Iran verbliebene Familie wäre nicht möglich. Notorisch sei, dass ein staatliches Auffangnetz (im Sinne eines sozialstaatlichen Systems) in Afghanistan keineswegs vorhanden sei. Es sei daher unwahrscheinlich, dass dem BF sozialstaatliche Leistungen zukommen würden, die ihn im Zuge seiner Ansiedlung in Afghanistan unterstützen würden. In Gesamtschau sei daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten konfrontiert wäre. Demzufolge könne im Falle der Rückkehr des BF nach Afghanistan nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der BF in Afghanistan eine Verletzung von Art, 3 EMRK drohen würden. In eventu sei ihm daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

11. Mit Schreiben vom 19.12.2019 legte der BF eine Bestätigung über seine freiwillige Mitarbeit von September 2018 bis Dezember 2018 im Seniorenzentrum XXXX vor. Er hat dabei Bewohner zu Veranstaltungen und bei Spaziergängen begleitet und auch im Küchendienst mitgeholfen.

12. Zum übermittelten Länderbericht (Stand: 13.11.2019) teilte die Vertretung des BF (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH) mit Schreiben vom 13.1.2020 mit, es sei eine mündliche Verhandlung zur Erörterung der veränderten Lage in Afghanistan und des seit der Verhandlung vom 18.6.2018 veränderten Privatlebens des BF erforderlich. Es wurde auf die sich in den letzten Jahren sich verschlechternde Lage der Volksgruppe der Hazara verwiesen und diese erörtert. Es habe sich die Lage am Arbeitsmarkt für viele junge Afghanen weiter verschärft. Der Arbeitsmarkt sei durch Informalität und Instabilität geprägt. Soziale Kontakte und Netzwerke würden eine Rolle spielen. Lebensmittelunsicherheit infolge der Dürre dauere an. Eine Neuansiedelung sei in Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat nur dann zumutbar, wenn es starke familiäre oder soziale Netzwerke gebe, die bei der Arbeitssuche oder sonstigen ökonomischen Problemen unterstützend beistehen könnten. Insbesondere die Situation für Hazara habe sich in den letzten Jahren verschärft. Ihnen sei die Neuansiedelung nicht zumutbar. Apostasie, Blasphemie und Konversion sei mit Todesstrafe verbunden. Die Lage der Frauen habe sich verschlechtert. Afghanistan verfüge über kein zentrales Bevölkerungsregister. Es würden aber Rückkehrer registriert und wegen der hohen sozialen Kontrolle sei keine Anonymität zu erwarten. Rückkehrer würden schnell von Nachbarn identifiziert, sodass eine anonyme Rückkehr nicht gewährleistet sei.

13. Auf Grund des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Stellungnahme vom 13.1.2020 mit der Behauptung, das Privatleben des BF hätte sich seit der letzten Verhandlung geändert, wurde eien mündliche Verhandlung am 10.3.2020 vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführt. In dieser gab der BF an, im Hinblick auf die Stellungnahme vom 13.1.2020 mit seiner Rechtsvertretung keinen Termin gehabt zu haben und es habe sich auch seit der letzten mündlichen Verhandlung überhaupt nichts in seinem Privatleben geändert. Er sei noch immer ledig, alleine und wohne in der Asylunterkunft. Er versuche, eine Lehrstelle als Friseur zu finden, was ihm bisher nicht gelungen sei, da er keinen positiven Bescheid habe. Die Deutschprüfung für das Niveau B1 habe er schriftlich nicht bestanden. Die nächste Prüfung sei für 24.4.2020 angesetzt. Sein Großvater väterlicherseits, XXXX , habe mit ihnen im gemeinsamen Haushalt gelebt und sei im Iran verstorben. Er sei auch nach Herat mit der Familie des BF gezogen, als der BF cirka neun Jahre alt gewesen sei. Auf Grund der Erkrankung seines Vaters sei die Familie wieder in den Iran gezogen. Der BF bestätigte, weiter zu seinen in XXXX im Iran lebenden Eltern Kontakt zu haben, denen es gut gehe. Zu seinen weiteren Verwandten im Iran sich befindenden Verwandten habe er keinen Kontakt. Der BF lebe von der Grundversorgung. Er habe auch schon gemeinnützig und ehrenamtlich in einem Altenheim gearbeitet. Er habe in der Küche als Küchen- und Putzhilfe gearbeitet. In Österreich trainiere er zwei bis dreimal pro Woche im Volleyballverein. Er bereite sich auf den Führerschein mittels einer von einem Freund erhaltenen CD mit seinem Laptop vor. Er sei auch um eine Lehrstelle bemüht und werde dabei unterstützt. Wegen des fehlenden positiven Bescheides könne er keinen Lehrvertrag unterzeichnen. Er habe noch keine Lehrstellenzusage. Er habe keine Verwandten in Österreich. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte er die dortige schlechte Sicherheitslage. Er gehöre auch der Minderheit der Schiiten an, die in Afghanistan getötet würden. Er kenne in Afghanistan niemanden und habe dort nur ein Jahr verbracht. Er sei im Iran aufgewachsen. Er habe keine Unterstützer und kenne die Gesetze nicht. Wie könnte er dort überleben. Er habe einfach Angst, dorthin zu gehen. Auf die Frage, warum die Familie nach der Genesung seines Vaters nicht wieder nach Herat zurückgegangen sei, gab der BF an, dass die Familie im Iran besser lebe und sein Vater leichter eine Arbeit finde. In Afghanistan sei der BF wegen der Kleidung und seiner Sprache diskriminiert worden. Im Iran habe er keine Probleme gehabt. Der Dolmetscher bestätigte, dass der BF eine Färbung von persischer Sprache habe, aber typischen Herati-Dialekt, nämlich aus der Provinz Herat in Afghanistan spreche. Bei Farsi spreche man von einer Verfärbung. Der Dolmetscher bestätigte auf nochmalige Nachfrage, dass der BF den Herati-Dialekt sehr gut spreche. Der Rechtsvertreter verwies auf die Entscheidung des VfGH E3369/2019 vom 12.12.2019. Es bedürfe danach außergewöhnliche Umstände, die es ermöglichen nach Afghanistan zurückzukehren. Der BF habe einen Großteil seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht.

Der BF übergab im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 10.3.2020 Fotokopien zu seinem Volleyballverein, bei dem er seit fast vier Jahren Mitglied sei. Der Verein heiße " XXXX -Verein". Es habe ihn ein Freund dort vorgestellt. Die überreichten Unterlagen umfassten auch ein mit 5.3.2020 datiertes Empfehlungsschreiben, unterzeichnet von mehreren Personen in Zusammenhang mit der Sektion Volleyball der Union XXXX , wobei zu den fünf Asylwerbern, denen ein kostenloses Training ermöglicht worden sei, der BF zähle. Ein weiteres mit 9.3.2020 datiertes Empfehlungsschreiben in Zusammenhang mit dem genannten Volleyballverein wurde von Herrn Ing. Heimo Frank als unterzeichnet, in dem der BF als zielstrebig, zuverlässig und anpassungsfähig beschrieben wurde. Die Geschäftsstellenleiterin des AMS Traun für den Bezirk XXXX , Frau XXXX , bestätigte im Schreiben vom 1.3.2020 die Lehrstellungsuche des BF beim AMS. Sie beschrieb den BF als sehr aufgeschlossenen jungen Mann, der sehr engagiert und sogar bereit sei, über die Bezirksgrenzen hinaus eine Lehrstelle zu finden. Sie sei sowohl aus arbeitsmarktpolitischer als auch aus persönlicher Sicht überzeugt, dass der BF das notwendige Potential und die Motivation mitbringe, um sich am Arbeitsmarkt entsprechend zu integrieren. Ebenso beschrieb Frau Prof.Mag. XXXX , die auf ihre Unterstützung des BF beim Deutschlernen und auf ihre mehrjährige Auslandserfahrung verwies, den BF im Schreiben vom 4.3.2020 als talentiertesten B1/B2 Studierenden und als intelligenten jungen Menschen, der die Chance verdiene, die österreichische Gesellschaft zu bereichern. Im Schreiben der VH Linz vom 13.2.2020 wurde die Anmeldung des BF für die Integrationsprüfung B1 für 24.4.2020 bestätigt. Im Empfehlungsschreiben vom 9.3.2020 wurde von Frau XXXX das Training des BF beim Mixed-Volleyballverein bestätigt. Sie unterstütze den BF auch bei der Lehrstellensuche. Auch die Deutschkenntnisse würden sich laufend verbessern.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des BF

Der BF ist am XXXX in XXXX im Iran geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der tadschikischen Volksgruppe an und ist schiitischer Moslem.

Der BF ist im Kreis seiner traditionellen afghanischen Familie, die aus der Provinz Herat stammt, mit Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie ist nach XXXX in den Iran gezogen und von dort wieder mit dem BF zurück nach Afghanistan in die Provinz Herat, in den Distrikt XXXX ), ins Heimatdorf XXXX . Da der Vater dort in Afghanistan erkrankte, zog die Familie wegen der vergleichsweise besseren gesundheitlichen Versorgung im Iran wieder zurück in den Iran nach XXXX , wo der Vater sich von seiner Krankheit erholte. Von einer Rückkehr nach Herat sah die Familie des BF ab, da das Leben im Iran für sie besser und leichter Arbeit zu finden war. Der Vater ist als Obstverkäufer tätig und ernährt die Familie. Die Familie verfügt über eine Aufenthaltsberechtigung im Iran.

Der BF hat eine über drei Jahre hinausgehende, mehrjährige in öffentlichen Schulen absolvierte Schulbildung, die er teilweise im Iran in XXXX wie auch während seines Aufenthaltes in Afghanistan in der Provinz Herat erworben hat. Nach der Rückkehr mit seiner Familie in den Iran nach XXXX hat der BF mehrere Jahre im Schustergewerbe gearbeitet.

Der BF hat den Iran auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen und über die Türkei nach vier Monaten Österreich erreicht, wo er illegal einreiste und am 7.10.2014 einen Antrag auf internationalem Schutz stellte.

Der BF ist ein junger, gesunder, arbeitsfähiger, lediger Mann und in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er hat in Österreich ehrenamtlich im Sozialbereich in einem Altenheim gearbeitet, wo er auch Arbeitserfahrung als Küchen- und Putzhilfe gesammelt hat. Der BF ist zielstrebig, zuverlässig, anpassungsfähig, sehr aufgeschlossenen und sehr engagiert. Er verfügt über das notwendige Potential und die Motivation zur Integration am Arbeitsmarkt. Er ist auch intelligent und sprachlich talentiert. Er ist EDV-technisch versiert.

Der BF spricht sehr gut Dari in Form eines typischen Herati-Dialekts, der aus der Provinz Herat in Afghanistan stammt. Sein Farsi ist gekennzeichnet mit der iranischen Färbung. Der BF spricht Deutsch auf dem Niveau A2.

Der BF hat zu seinen Eltern in XXXX im Iran Kontakt. Es geht ihnen gut. Sie unterstützen den BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan.

Der BF hat keine Verwandten in Österreich. Der BF, der seit seiner Einreise in Österreich von der Grundversorgung lebt und nicht selbsterhaltungsfähig ist, trainiert an mehreren Tagen in der Woche beim Volleyballverein in XXXX , wo er bereits seit vier Jahren spielt und mit dessen Mitglieder er in sozialen Kontakt steht. Er möchte Friseur werden und ist auf der Suche nach einer Lehrstelle. Er versucht, seine Deutschkenntnisse zu verbessern und die Prüfung auf Niveau B/1 zu schaffen. Der BF möchte sich auf die Führerscheinprüfung vorbereiten, wofür der BF eine CD seines Freundes auf seinem Laptop verwendet.

1.2 Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF ist in Afghanistan keiner persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt. Für ihn besteht keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan.

Der BF ist auch nicht auf Grund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt. Der BF ist mit der afghanischen Kultur vertraut.

Dem BF ist eine Rückkehr nach Afghanistan und eine Ansiedelung in der Stadt Mazar-e-Sharif oder der Stadt Herat zumutbar. In diesen genannten afghanischen Städten Mazar-e-Sharif oder Herat bestünde für den BF nicht ein so hohes Maß an willkürlicher Gewalt, dass er allein durch seine Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)

2016 2017 2018 2019

Jänner 2111 2203 2588 2118

Februar 2225 2062 2377 1809

März 2157 2533 2626 2168

April 2310 2441 2894 2326

Mai 2734 2508 2802 2394

Juni 2345 2245 2164 2386

Juli 2398 2804 2554 2794

August 2829 2850 2234 2443

September 2493 2548 2389 -

Oktober 2607 2725 2682 -

November 2348 2488 2086 -

Dezember 2281 2459 2097 -

insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrun

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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