TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/31 W173 2169891-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.03.2020
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Entscheidungsdatum

31.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W173 2169891-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 7.8.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz in Österreich.

2. Bei der am 20.10.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Niederösterreich gab der BF an, er sei am XXXX in Teheran geboren, afghanischer Staatsangehöriger und Hazara schiitischen Glaubens. Er habe in Teheran sechs Jahre die Schule besucht. Sein Vater sei vor fünf Jahren (2010) verstorben. Neben seiner Mutter ( XXXX - XXXX Jahre) würden sein Bruder ( XXXX - XXXX Jahre) und seine Schwester ( XXXX - XXXX Jahre) im Iran leben. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen und habe dort keine Verwandten. Er habe den Iran vor einem Monat verlassen, da ihm die iranischen Behörden mitgeteilt hätten, dass er abgeschoben werde, wenn er nicht für die syrische Armee kämpfe. Im Protokoll war bei den Sprachkenntnissen des BF als Muttersprache Frasi mit der Kategorie zur Sprachkenntnis "gut" in Wort und Schrift angeführt. Als gesprochene Sprache wurde weiters Dari angegeben, wobei darin die Sprachkenntnisse als "schlecht" und für dessen Beherrschung in Wort und Schrift "ja" und "nein" angekreuzt waren. Für Englisch waren bei den Sprachkenntnissen die Kategorie "mittel" und für die Beherrschung in Wort und Schrift "nein" angekreuzt.

Am 2.11.2015 wurden namentlich genannten Personen der Caritas vom Amt für Jugend und Familie der Stadt XXXX zur gesetzlichen Vertretung des minderjährigen BF in Asyl- und Fremdenverfahren ermächtigt.

3. Am 29.6.2017 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF legte im Zuge der Einvernahme Schulbesuchsbestätigungen des Bundesrealgymnasiums und wirtschaftskundliches BRG für Berufstätige XXXX und ein Schreiben vom 20.6.2016 von Mag. XXXX . für Geschichte und politische Bildung an der kirchlich pädagogischen Hochschule in XXXX vor. Darin wurde von ihr bestätigt, dass der BF im Sommersemester 2016 an der genannten Hochschule in ihrer Lehrveranstaltung als Referent tätig gewesen sei. Er habe dabei den Lehramts-Studierenden einen Einblick in aktuelle Flucht- und Migrationsthemen gegeben und einen gegenseitigen Austausch über länderspezifische Perspektiven und interkulturelle Kommunikation ermöglicht. Der BF habe dabei seine kommunikativen Fähigkeiten vor einer großen Studierendengruppe sowie seine Offenheit und Interesse an der Lebenswelt der Studierenden gezeigt.

In der Einvernahme vor der belangten Behörde führte der BF zu seinem Gesundheitszustand aus, psychisch und physisch gesund zu sein. Er stehe nicht in ärztlicher Behandlung. Er sei am XXXX geboren. Sein Geburtsdatum in seiner Zeitrechnung wisse er nicht. Er spreche Farsi, Dari, Englisch und ein bisschen Deutsch. In Österreich habe er statusbedingt noch nicht viel machen können. Er habe keine Verwandten in Österreich. Der BF gab an, dass sich seine gesamte Familie (Mutter und Geschwister) in Teheran befinde und er keine Ahnung habe, wann die Familie Afghanistan verlassen habe. Sein Vater sei an einem Herzinfarkt im Iran vor sechs oder sieben Jahren verstorben. Er habe in Afghanistan einen Onkel, mit dem er nicht in Kontakt stehe. Zur Tätigkeit seiner Eltern führte der BF aus, dass sein Vater alt und in Pension gewesen sei und seine Mutter im Iran jede Arbeit wie Putzarbeit oder Obst- und Gemüsewaschen angenommen habe. Er habe sechs oder sieben Jahre lang die Schule in Teheran besucht. In den Ferien habe er jedoch jede Arbeit angenommen und verschiedene Arbeiten wie Töpfern oder bei einem Imbiss als Hilfsarbeiter ausgeübt. Über seine Fluchtgründe befragt führte der BF aus, nach Österreich wegen seiner Angst um seine Sicherheit geflohen zu sein. Er habe das Gefühl gehabt, dass er im Iran nicht mehr sicher gewesen sei. Die Polizei im Iran habe ihm als Minderjährigen gedroht, ihn nach Afghanistan abzuschieben, wenn nicht nach Syrien gehe, um in den Krieg zu ziehen und um gegen den IS zu kämpfen. Er sei diskriminiert und mehrfach von der iranischen Polizei festgenommen worden. Auf die Frage zu seinem offiziellen Aufenthaltstitel im Iran gab der BF an, einen iranischen Aufenthaltstitel gehabt zu haben, da er im Iran offiziell und legal gearbeitet habe. Auch seine Familie habe einen offiziellen Aufenthaltstitel im Iran gehabt. Er sei schlepperunterstützt aus dem Iran ausgereist. Auf die Frage, was bei seiner ersten Einvernahme "falsch" protokolliert worden sei, verwies der BF auf seine Sprachkenntnisse in Dari. Dari sei nämlich seine Muttersprache. Eine Protokolländerung habe er nicht veranlasst, da er nicht Deutsch habe können und der Dolmetscher alles kurz und bündig zusammengefasst habe. Auf die weitere Frage, wovon seine Familie im Iran lebe, gab der BF an, dass seine Mutter arbeite. Seine Schwester studiere Ziviltechnik im Iran. Was sein 22-jähriger Bruder beruflich mache, wisse er nicht. Er habe im Internet über viele Länder recherchiert und bei seiner Ankunft in Österreich kein Geld mehr gehabt, um weiter zu reisen. Er habe den Iran verlassen, weil sein Leben in Gefahr gewesen sei. Er sei anders als sein Bruder dort öfters festgenommen worden. Über das Leben seines Bruders sei er sehr gut informiert. Er selbst sei noch nie in Afghanistan gewesen. Anders als in Afghanistan sei er in Österreich sicher. Er wolle hier sein Leben sichern, aber habe wegen seines Status noch nicht viel machen können. Er sei zur Schule gegangen, habe die Sprache gelernt und mache Sport.

4. Am 10.7.2017 wurde von der gesetzlichen Vertretung des BF eine Stellungnahme übermittelt, in der ausführt wurde, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan der besonders vulnerablen sozialen Gruppe der verlassenen Kinder zuzurechnen wäre und daher als Flüchtling im Sinne der GFK anzusehen sei. Darüber hinaus sei dem BF eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar, da dessen gesamte Familie im Iran lebe und er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Es bestehe bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan als Minderjähriger die Gefahr der Zwangsrekrutierung für den BF. Als Harzara sei für den BF eine Rückkehr unzulässig. Der BF habe in Kabul, wie in ganz Afghanistan, keinerlei familiäre Beziehungen.

5. Mit Bescheid vom 7.8.2017, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde in Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Im Bescheid traf die Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Eine asylrelevante Verfolgung des BF in Afghanistan liege nicht vor. Das diesbezügliche Vorbringen des BF beziehe sich nur auf den Iran. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei dem gesunden und arbeitsfähigen BF zumutbar. Er habe im Iran im Beisein seiner Familie gelebt und auch dort gearbeitet. Er sei mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut. Der BF verfüge darüber hinaus im Iran über ein soziales und familiäres Netzwerk, welches ihn wirtschaftlich unterstützen könne. Der BF laufe im Fall seiner Rückkehr nicht in Gefahr, in eine ausweglose Situation zu geraten.

6. Mit Schreiben vom 29.8.2017 erhob der BF, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, in vollem Umfang Beschwerde gegen den Bescheid vom 7.8.2017 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften. Aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara drohe dem BF in Afghanistan asylrelevante Verfolgung. Dem BF würde unterstellt werden, für den Iran im Syrienkonflikt gekämpft zu haben. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würden ihm sunnitische Extremisten eine feindliche politische Einstellung wegen seines westlichen Lebensstils und seines langen Aufenthaltes im Iran bzw. im Ausland vorwerfen. Der BF sei daher asylrelevant verfolgen. Dazu wurde auch auf verschiedene Berichte verwiesen. Es sei für den BF aufgrund der äußerst prekären Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, und der hohen Anschlagsdichte nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich, Opfer derartiger Gewaltakte zu werden. Auch wäre der BF in Afghanistan völlig auf sich alleine gestellt und verfüge als Hazara nicht über eine Stammeskultur, wie etwa die Paschtunen. Er sei mit der Örtlichkeit nicht vertraut und habe überhaupt keinen Bezug zu Afghanistan. Darüber hinaus sei der BF um seine Integration in Österreich bemüht und besuche ein Bundesgymnasium.

Dem BF sei daher der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen. In eventu sei dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen sowie festzustellen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. In eventu sei auch festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz beim BF vorliegen würden. Jedenfalls sei eine mündliche Verhandlung durchzuführen, allenfalls möge der angefochtene Bescheid zur Gänze behoben und an das Bundesamt zurückverwiesen werden.

7. Der BF wurde vom LG für Strafsachen in XXXX auf Grund von Suchtgiftdelikten mit Urteil vom 19.3.2018, Zl 6Hv17/18a-21, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollzug unter einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft. Im genannten Urteil war festgehalten, dass dem BF die allgemeine Zugänglichkeit des XXXX Stadtparkes bekannt gewesen sei, er dort am 14.2.2018 Suchtgift verkauft sowie zum persönlichen Gebrauch besessen habe.

8. Am 4.9.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung und einer für die Sprache Farsi bestellten Dolmetscherin durch. Der BF bezeichnete sich als gesund und gab an, er sei am XXXX in Teheran geboren und schiitischer Hazara. Dies entspreche im Iran dem XXXX . Er sei afghanischer Staatsbürger. Seine Eltern würden aus der afghanischen Provinz Urzugan, die in der Mitte von Afghanistan liege, stammen. Er wisse dies jedoch nur ungefähr, da es ihn nicht interessiert habe. Sein Rechtsvertreter merkte an, dass seine Eltern immer nur vom Krieg in Afghanistan gesprochen hätten. Der BF gab weiter an, Farsi, Dari und Englisch zu sprechen. Er lerne auch Deutsch und habe 2016 einen Test auf dem Niveau A2 bestanden. Er habe das Gymnasium in Österreich besucht. Der BF legte ein Zertifikat über die bestandene Deutschprüfung auf Niveau A2 vor. Er lerne auch selbständig über das Internet. Englisch habe er im Unterricht in der öffentlichen Schule im Iran und auch selbständig gelernt. Er habe sechs oder sieben Jahre die Schule besucht. Er verfügte nicht über eine Berufsausbildung. Er habe im Iran eine Aufenthaltsberechtigung gehabt. Auch seine Familie verfüge auch jetzt noch über eine Aufenthaltsberechtigung im Iran. Nur in den Schulferien habe er unterschiedliche Tätigkeiten ausgeübt, wie etwa als Verkäufer oder als Töpfer. Er habe auch im Restaurant gearbeitet. Er könne gut Schreiben und Rechnen. Er sei in Teheran aufgewachsen und immer dort gewesen. Er habe auch andere große Städte im Iran besucht. Zur iranischen Kultur führte der BF aus, dass die Iraner gastfreundlich und ab und zu agressiv seien, gerne streiten würden und gut kochen könnten. Sie würden kein gutes Verhältnis zu den Afghanen haben. Sonst falle ihm zur iranischen Kultur nichts ein. Der BF zählte weiter einige Örtlichkeiten im Iran auf. In Shiraz seien zwei berühmte Dichter namens Arfes und Sadi begraben. Sein Vater sei mittlerweile aufgrund eines Herzinfarktes verstorben. Er habe die meiste Zeit am Bau gearbeitet. Seine Mutter sei Hausfrau gewesen und habe sonst nichts gearbeitet. Sein 22-jähriger Bruder helfe der Mutter bei den Arbeiten im Haushalt, da seine Mutter Probleme mit dem Bein habe. Sein Bruder habe sonst in einer Firma gearbeitet, wobei er dazu nicht genau informiert sei. Seine 26-jährige Schwester habe im Iran Architektur studiert. Sie arbeite aber im Iran nicht als Architektin. Die Mutter und seine Geschwister würden sich in Teheran aufhalten. Er stehe mit ihnen in Kontakt und es gehe ihnen gut.

In Afghanistan sei er noch nie gewesen. Er sei nicht nach Afghanistan gegangen, da dort die Lage prekär sei. Bei einem Aufenthalt innerhalb des iranischen Gebietes verliere er den Aufenthaltstitel nicht. Wenn er nach Afghanistan gegangen wäre, hätte er seinen Aufenthaltstitel für den Iran verloren. In Österreich sei er illegal eingereist, sodass er den Aufenthaltstitel für den Iran verlieren könnte. Die Aufenthaltskarte für den Iran müsse jährlich verlängert werden. Er habe sie auf dem Weg verloren. Über Afghanistan wisse er nur drei Dinge: die Hauptstadt, einige Städte und die Sicherheitslage.

Aus dem Iran sei er 2015 ein Monat geflohen, da er sonst nach Afghanistan abgeschoben oder in den Krieg nach Syrien geschickt worden wäre. Er sei drei- bis viermal von der iranischen Polizei festgenommen und vor diese Alternativen gestellt worden. Ob davon auch sein Bruder betroffen sei, sei ihm unbekannt. Einen Teil der Flucht habe er selbst finanziert und einen Teil seine Familie. Zur Frage, warum er nicht auf Grund seiner afghanischen Wurzeln nach Afghanistan geflüchtet sei, gab der BF an, dass dort die Lage prekär sei. Die dort aufhältigen Taliban, die er nur von der Zeitung und den Nachrichten im Internet kenne, würde die Volksgruppe der Hazara umbringen. Aus Angst um sein Leben im Iran sei er alleine nach Österreich geflohen, da er als jüngster Sohn der Familie nicht für diese verantwortlich sei. Sein älterer Bruder sei ohnehin noch im Iran. Die Flucht habe cirka ein Monat gedauert. Der BF führte dazu sein Problem mit der Polizei an. Sein Zielland sei eigentlich Finnland gewesen. Der Fluchtweg sei sehr gefährlich gewesen. Der Rechtsvertreter des BF verwies dazu auf Probleme mit dem Bein des BF, das sich im Zuge seiner Flucht verschlechtert habe.

Der BF führte zu seinem Aufenthalt in Österreich aus, eine Zeit lang gelernt und gearbeitet zu habe. Derzeit sei er für steierische Gemeinde XXXX tätig, arbeite in den Wäldern und pflücke Obst. Dazu überreichte der BF eine Bestätigung der Marktgemeinde XXXX vom 31.8.2018, in der die gemeinnützige Tätigkeit des BF im dritten Quartal 2018 bestätigt wurde. Er spiele ein- bis zweimal in der Woche mit den befreundeten Asylwerbern im Asylheim Fußball zu spielen.

Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben. Er wisse nichts über seine Heimat. Seine Eltern hätten ihm wenig über alte Zeiten in Afghanistan erzählt. Sie hätten mit ihm nur über die Landwirtschaft, die Jahreszeiten, über das Wetter über die Häuser und die Anbaugewohnheiten gesprochen.

Sein begangenes Suchtgiftdelikt rechtfertigte der BF damit, sich in einer schwierigen Situation befunden zu haben. Es habe sich um einen Fehler gehandelt. Er habe für seine arabische Freundin am Valentinstag nichts kaufen können. Er habe sie kennengelernt, als er in Supermarkt habe arbeiten müssen, wo er die Strafe wegen Schwarzfahren habe abarbeiten müssen.

Abschließend führte der BF aus, psychische Probleme in Form von Einschlafproblemen und Nachdenkens zu haben. Auf dem Fluchtweg habe er auch noch Probleme mit seinem rechten Bein gehabt, zumal er in Griechenland weit zu Fuß gegangen sei. Seither habe er Schmerzen, die vor allem beim Fußballspiel oder beim Aufwachen am Morgen auftreten würden.

Zu Länderberichten wurde eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen eingeräumt.

9. In der Stellungnahme vom 5.9.2018 wurde auf die Situation der Hazara in Afghanistan verwiesen, die gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt seien. Dem BF drohe daher aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe asylrelevante Verfolgung. Rückkehrer würden in Afghanistan vor große Herausforderungen gestellt und seien vermehrt von Armut, Hunger und Obdachlosigkeit betroffen. Personen, die als "westlich" angesehen würden, hätten ein erhöhtes Risikoprofil. Der BF trage Tattoos, westliche Kleidung, habe wechselnde Partnerinnen, faste und bete selten, trinke Alkohol und habe auch schon Schweinefleisch gegessen. Zusätzlich würde er aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in Europa als "westlich" angesehen werden. Ihm würde eine regierungsfeindliche oder islamfeindliche Gesinnung unterstellt.

Er sei im Iran geboren und habe kein dringend notwendiges Wissen über Herrschaftsterritorien der Taliban, sichere Verkehrswege für Hazara, welche Warnsignale welche Bedeutung hätten, wer für wen kämpfe und wo man Schutz suchen könne. Er wisse nichts über Afghanistan und hätte lediglich die Hauptstadt nennen und die Bedrohung durch die Taliban beschreiben können. Dazu wurde auf die Ausführungen im Gutachten Stahlmann verwiesen. Seine Sozialisierung sei im Iran erfolgt, was sich aus der Verhandlung ergeben habe.

Auch sei auf die psychischen und physischen Probleme des BF hinzuweisen. Der BF habe seit einem halben Jahr Schlafstörungen und habe Problem mit dem rechten Bein. Zu beiden gesundheitlichen Beeinträchtigungen würden noch ärztliche Bestätigungen nachgereicht werden. Er sei somit nicht vollständig gesund und könne sich kein Leben in einem komplett neuen Land aufbauen. Auch drohe dem BF asylrelevante Verfolgung, da ihm unterstellt werden würde, dass er im Syrienkonflikt für den Iran gekämpft habe. Auch sei die Sicherheitslage in Afghanistan weiter schlecht, weswegen ihm zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Dazu wurde auf verschiedene Quellen verwiesen. Nach den UNHCR Guidelines 2018 sei eine IFA in Kabul grundsätzlich ausgeschlossen. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan prekär. Dem BF sei zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Gegen eine Rückkehrentscheidung würden die Integrationsbemühungen des BF sprechen, er habe bereits eine Deutschprüfung auf dem Level A2 absolviert und ein paar österreichische FreundInnen. Sein psychischer Zustand erschwere ihm die Integration. Er wohne in einem winzigen Ort in der Steiermark, weit entfernt von der Großstadt. Auf den BF wurden mehrere Gefährdungspotentiale gleichzeitig zutreffen. Der BF sei Hazara, ein im Iran geborener Afghane, der dort aufgewachsen und sozialisiert worden sei, ein westlich orientierter Mann, der psychische und physische Probleme habe.

10.Am 8.11.2018 teilte die StA XXXX unter der Aktenzahl, 60 BAZ 717/18h-1, mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den BF wegen § 27 SMG eingestellt worden sei.

11.In der Stellungnahme zum Länderbericht zu Afghanistan (Stand 13.11.2019), der unter einer Einräumung einer Stellungnahmefrist übermittelt wurde, wurde mit Schreiben vom 13.1.2020 vorgebracht, dass beim BF seit der letzten Verhandlung die gebotene Aktualität nicht mehr vorliege. Die Glaubwürdigkeit des BF sei in Bezug auf seine innere Einstellung zu seiner religiösen Überzeugung zu prüfen und ein persönlicher Eindruck maßgeblich. Es müsse sich das Gericht selbst in einer mündlichen Verhandlung diesen Eindruck verschaffen. Dazu wurde auf die Religionszugehörigkeit des BF als afghanischer Staatsbürger und Hazara zum schiitschen moslemischen Gauben verwiesen. Seine Familie und damit der BF hätten sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch Private und mangelnde Schutzfähigkeit bzw. Schutzwilligkeit seines Heimatlandes sowie mangels einer tauglichen innerstaatlichen Fluchtalternative verlassen. Im Iran würden noch die Mutter und die Geschwister leben. Die Sicherheitslage für die ethische Minderheit der Hazara habe sich in Afghanistan massiv verschlechtert. Die Angriffe würden sich nicht nur auf die Kulturstätten, sondern auch auf den zivilen Lebensraum dieser Volksgruppe. Dem BF sei eine innerstaatliche Fluchtalternative unzumutbar.

Für die innerstaatliche Fluchtalternative seien die Einschätzungen von UNHCR und EASO maßgebend. Nach UNHCR seien Unterkunft, grundlegende Versrogung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung sowie notwendige Lebensgrundlagen erforderlich. Nach EASO Country Guidance 2019 seien die afghanischen Großstädte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sicher und legal erreichbar und könnten dort Personen generell aufgenommen werden. Dies könne jedoch nicht auf Kabul zutreffen. Nach EASO sei aber bei langer Abwesenheit aus Afghanistan und ohne relevantes Unterstützungsnetzwerk eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar. Dazu wurde auf die Probleme beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Ernährungssicherheit hingewiesen. Trotz in Europa erworbener Ausbildung sei es Rückkehrern nicht möglich, ohne intakten Netzwerken Arbeitsplätze zu finden und sich das Leben zu finanzieren. Die Situation habe sich insbesondere für schiitische Hazara in den letzten Jahren verschärft, sodass deren Neuansiedelung nicht zumutbar sei. Auch wenn es an einem zentralen Bevölkerungsregister fehle, würden Rückkehrer schnell identifiziert, sodass nach langer Abwesenheit eine anonyme Rückkehr nicht gewährleistet sei.

Zudem habe der BF vorgebracht, nicht mehr viel mit dem Islam zu tun zu haben und daher vom Islam abgefallen zu sein. Der BF lebe eine sehr moderne Lebensweise und sei sogar tätowiert. Apostasie und Abkehr vom Islam sei mit einer Todesstrafe verbunden. Es bestehe ein hohes Gefährdungspotential für Personen, die vom Islam abgefallen seien. In der Folge wurde wieder vorgebracht, der BF sei auf Grund der Volks- und Religionszugehörigkeit in Afghanistan asylrelevant verfolgt. Der BF habe keinerlei soziales Netzwerk in Afghanistan. Er könne sich den für ein zumutbares Leben notwendigen Lebensunterhalt nicht erwirtschaften, finde keine Unterkunft und habe keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser und Ernährung. Kabul scheide als Fluchtalternative aus. Es müssten die persönlichen Umstände des BF berücksichtigt werden. Es wurde auf die Judikatur in Deutschland verwiesen. Weiters erfolgten Ausführungen zu den Taliban, wobei der Schluss gezogen wird, dass ihre Gegner in ganz Afghanistan ausfindig gemacht werden könnten. Es wurde die Schutzunfähigkeit und -willigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden und die Menschenrechtslage erörtert. Es folgten Ausführungen zu den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. Die Maßnahmen seien höchstwahrscheinlich unzureichend zur Versorgung der bedürftigen Personen. Rückkehrer drohe Obdachlosigkeit und könnten nicht die lebensnotwenigsten Bedürfnisse durch Arbeit und Unterstützung decken. Die Gefahr steige, wenn es sich um besonders vulnerable Gruppen handle. Dies treffe ganz besonders auf schiitische Hazara zu, die ein besonderes Risiko hätten in den afghanischen Großstädten Opfer innerstaatlich Konflikte zu werden.

12.Auf Grund des Vorbringens wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 10.3.2020 anberaumt. In dieser gab der BF auf die Frage nach Krankheiten an, dass es ihm körperlich gut gehe, aber in keinem guten psychischen Zustand zu sein, da er sehr unter Druck stehe. Er habe bisher die Wahrheit gesagt. Auf die Frage, was sich seit der letzten Verhandlung geändert habe, gab der BF an, dass sich nichts Wesentliches geändert habe. Auf Nachfrage sprach der BF von Depressionen und daher keinen offiziellen Deutschkurs besucht zu haben. Aber er lerne zu Hause selbständig. Er habe einige Freunde, die aus Afghanistan und Afrika stammen würden. Mit Österreichern stehe er nicht in Kontakt. Er wohne in XXXX in XXXX in der Nähe des Flughafens und lebe von der Grundversorgung. Er sei meistens zu Hause, wo er seine Freizeit verbringe. Er lerne deutsch und englisch selbständig. Insbesondere Englisch gefalle ihm sehr gut. Er habe zu seiner Familie Kontakt, die seit einem Jahr in der Türkei wegen der schlechten Wirtschafts- und Sicherheitslage und des Konfliktes zwischen dem Iran und Amerika seien. Da seine Schwester arbeite, gehe es ihnen finanziell besser. Auf die Frage, ob er im Hinblick auf die letzte Stellungnahme vom 13.1.2020 mit seiner Rechtsvertretung Rücksprache gehalten habe, verneinte dies der BF und gab an, von einer solchen Stellungnahme überhaupt nichts zu wissen. Er sei schiitischer Moslem und bleibe auch dabei, auch wenn er nicht seinen Glauben praktiziere. Er habe ein Tattoo. Dazu zeigte der BF sein auf der linken Hand sichtbares Tattoo mit drei sich überlappenden Dreiecken und sein auf der rechten Hand sichtbares Schriftzeichen " XXXX ". Weitere Tattoos habe er nicht. Als er Tattoos in Europa gesehen habe, habe er sich auch tätowieren lassen. Das eine Tattoo habe keine Bedeutung. " XXXX " sei ein Spitzname und entspreche dem Namen XXXX , der ihm gefalle. Mit Drogendelikten habe er seit langem nichts mehr zu tun. Er konsumiere und verkaufe keine Drogen mehr. In Österreich habe er keine Ausbildung absolviert. Er habe in der deutschen Sprache das Niveau A2 erreicht, wofür er ein Zertifikat habe. Seine Flucht vom Iran nach Griechenland konnte der BF in deutscher Sprache gut schildern. Zu seiner Zukunft in Österreich führte der BF aus, sich bei einer HTL anzumelden, da er sich für Metall- und Holzarbeiten interessiere. Über Berufe in diesem Bereich wisse er nichts. Er habe aber einen Freund um Hilfe gebeten. Der BF engagiere sich weder sozial, noch sei er bei einem Verein.

In Fall der Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben wegen der schlechten Sicherheitslage und des Terrors gegen die Schiiten. Er habe in Afghanistan niemanden und habe dort nicht gelebt. Er habe keine Verwandten in Afghanistan. Er sei im iranischen Umfeld aufgewachsen und seine Familie habe wie Iraner gelebt. Auf die Frage der erkennenden Richterin, wie Iraner leben würden und was für Iraner und Afghanen typisch sei, gab der BF an, dass es große Unterschiede zwischen der iranischen und afghanischen Lebensart gebe. Der Umgang sei ganz anders. Er sei im Iran auf verschiedenen Arten diskriminiert worden. Dies beziehe sich auf den finanziellen Hintergrund und auf die Aufenthaltsberechtigung, die viel Geld gekostet habe. Seine Familie sei vor cirka 30 Jahren in den Iran gezogen. Er sei in seiner afghanischen Kernfamilie aufgewachsen. Als Afghanen präge ihn nichts Besonders. Er habe als Afghane viel im Iran gelebt und sei diskriminiert und beschimpft worden. Auch wenn ihm sein afghanischer Name und seine Nationalität nicht gefalle, sei er in Wahrheit Afghane. Unabhängig von der iranischen Lebensweise würde man als Afghane diskriminiert. Es gebe große Unterschiede. Der Dolmetscher bestätigte, dass der BF im Großen und Ganzen die iranische Sprache - Persisch spreche, jedoch aus Afghanistan stamme. Auf die Frage der erkennenden Richterin an den BF, aus welcher Gegend er stamme, sprach der BF davon, dass seine Eltern aus der Provinz Urzugan stammen würden. In der Türkei sei er nicht geblieben, da es in Österreich viel besser sei. Zu seinem begangenen Suchtmitteldelikt gab der BF an, einen Fehler gemacht zu haben, den er nicht mehr begehe.

Auf Frage seiner Rechtsvertretung zur finanziellen Unterstützungsmöglichkeit seiner Familie sprach der BF davon, dass diese nicht bestehe. Er habe in Österreich nicht selbständig gearbeitet. In Afghanistan habe er niemanden und sei noch nie dort gewesen. Er spreche auch nicht die Landessprache. Er habe im Iran sehr wenig gearbeitet. Vielmehr habe er nur im Sommer in den Schulferien am Imbissstand und in einer kleinen Firma, die Statuen erzeugt habe, gearbeitet. Er habe nur als Helfer gearbeitet und sehr wenig Geld verdient. Im Iran habe seine Mutter und seine Schwester mit Arbeit die Familie ernährt. Sie hätten keine fixe Anstellung gehabt. Ihr Verdienst habe für das Leben gereicht. Er habe sieben Jahre im Iran die öffentliche Schule besucht, wo er gut rechnen gelernt habe. Seine schlechten Englischkenntnisse verbessere er in Österreich. Der Vertreter des BF stellte am Ende der Verhandlung einen Antrag auf Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zur Feststellung eventuell vorliegender Krankheiten des BF aus dem Bereich der Neurologie und Psychiatrie zum Nachweis der besonderen Vulnerabilität des BF. Zur Frage seines Vertreters, wie sich seine Depressionen äußern würden, gab der BF an, ganz ruhig zu sein, sich niedergeschlagen zu fühlen und meistens über seine Zukunft nachzudenken. Das Gedankenkreisen würde nie weggehen. Auf die erkennende Richterin machte der BF einen sehr konzentrierten und fokussierten Eindruck. Der BF gab abschließend an, keine Medikamente zu nehmen, auch nichts gegen seine Leiden zu tun und keinen Arzt aufsuchen, da er die deutsche Sprach nicht gut könne und sich die Fahrkarte nicht leisten könne. Er habe aber die Absicht, einen Arzt aufzusuchen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF ist am XXXX in Teheran im Iran geboren und afghanischer Staatsangehöriger.

Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Der BF spricht auch Farsi, Englisch und Deutsch auf gutem Niveau.

Der BF ist in Teheran im Kreise seiner afghanisch geprägten schiitischen Familie, die aus der afghanischen Provinz Urzugan stammt, aufgewachsen und sozialisiert worden. Sie hat vor der Geburt des BF diese Provinz verlassen und ist in den Iran nach Teheran gezogen. Sein Vater hat dort auf dem Bau gearbeitet und seine Mutter war Hausfrau. Der BF hat einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Nach dem krankheitsbedingten Tot des Vaters im Jahr 2010 hat der BF bis zu seiner Ausreise im Iran gelebt. Sein älterer Bruder hat im Iran in einer Firma gearbeitet und der im eigenen Haushalt tätigen Mutter, die an gesundheitlichen Problemen am Bein litt, geholfen. Die ältere Schwester, die im Iran Architektur studierte, hat im Iran nicht gearbeitet. Der Familie ging es im Iran gut. Seine Familienmitglieder verfügten über eine Aufenthaltsberechtigung für den Iran.

Der BF hat in Teheran 6 bis 7 Jahren eine öffentliche iranische Schule besucht. Er hat schon während der Schulsommerferien nebenbei in einer Töpferei bzw. im Verkaufs- und Gastgewerbe gearbeitet. Über die Schulsommerferien während seines 6 bis 7-jährigen Schulbesuchs hinausgehend hat der BF im Iran auch noch offiziell und legal auf Grund seiner Aufenthaltsberechtigung gearbeitet. Er hat auch in einer kleinen Firma, die Statuen erzeugt gearbeitet. Er erlitt im Iran als Afghane Diskriminierungen.

Der BF recherchierte im Internet. Als Zielland für seine Ausreise aus dem Iran wählte der BF Finnland. Wegen der Sicherheitslage in Afghanistan und des drohenden Verlustes seiner iranischen Aufenthaltsberechtigung als afghanischer Staatsbürger im Iran sah er jedenfalls von einer Rückkehr in sein Heimatland Afghanistan ab. Er konnte bei seiner schlepperunterstützen Ausreise aus dem Iran teils auf eigens Geld und teils auf die finanzielle Unterstützung seiner Familie zurückgreifen. Nach einer einmonatigen schlepperunterstützen Reise reiste der BF illegal nach Österreich ein und stellte am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalem Schutz, da er über keine weiteren finanziellen Reserven mehr verfügte.

Der BF ist ein volljähriger, junger, gesunder, arbeitsfähiger und lediger Mann. Er ist flexibel, selbstbewusst, offen und kommunikationsfähig. Er kann sich auch vor einer größeren Gruppe gut präsentieren.

Der BF hat gemeinnützig für die steiermärkischen Marktgemeinde XXXX (Bezirk XXXX -Umgebung) im Herbst 2018 im Wald und auf Grünanlagen gearbeitet. Er spielte Fußball mit seinen Freunden aus der Asylunterkunft.

Der BF absolvierte eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2. Der BF besuchte für zwei Semester als außerordentlicher Studierender die Übergangsstufe eines Bundesgymnasiums für Berufstätige in XXXX . Er war auch an der kirchlichen pädagogischen Hochschule in XXXX als Referent vor den dort Studierenden im Sommersemester 2016 tätig. Er versucht seine Deutsch- und Englischkenntnisse zu Hause zu verbessern. Er interessiert sich für eine Ausbildung an der HTL und möchte einen Beruf im Holz- oder Metallbereich ergreifen.

Der BF hat keine Verwandten in Österreich und lebt seit seiner illegalen Einreise in Österreich von der Grundversorgung. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er ist bei keinem Verein und arbeitet nunmehr nicht gemeinnützig.

Er wurde in Österreich strafrechtlich zu einer für eine Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehenen 5-monatigen Freiheitsstrafe vom LG für Strafsachen in XXXX wegen am 14.2.2018 begangenen SMG-Delikten mit Urteil vom 19.3.2018, Zl 6Hv17/18a-21, rechtskräftig verurteilt.

Der BF hat keine Beziehungen zu österreichischen Freunden mehr, sondern pflegt in Österreich Kontakt zu Afghanen und Afrikanern. Er hält sich vorwiegend zu Hause auf.

Er stand mit seiner Familie während ihres Aufenthaltes im Iran in Kontakt. Seine Familie ist mittlerweile vor einem Jahr aus dem Iran wegen der Spannungen zwischen dem Iran und Amerika und der schlechten Sicherheits- und Wirtschaftslage aus dem Iran in die Türkei ausgereist. Es geht ihr finanziell in der Türkei besser. Seine Schwester arbeitet. Der BF steht mit seiner Familie nach wie vor in Kontakt.

1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der BF ist in Afghanistan keiner persönlichen und konkreten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt. Für ihn besteht keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan.

Der BF ist auch nicht auf Grund der Tatsache, dass er sich zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt. Der BF ist mit der afghanischen Kultur vertraut.

Dem BF ist eine Rückkehr nach Afghanistan und eine Ansiedelung in der Stadt Mazar-e-Sharif oder der Stadt Herat zumutbar. In diesen genannten afghanischen Städten Mazar-e-Sharif oder Herat bestünde für den BF nicht ein so hohes Maß an willkürlicher Gewalt, dass er allein durch seine Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

1.3 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)

2016 2017 2018 2019

Jänner 2111 2203 2588 2118

Februar 2225 2062 2377 1809

März 2157 2533 2626 2168

April 2310 2441 2894 2326

Mai 2734 2508 2802 2394

Juni 2345 2245 2164 2386

Juli 2398 2804 2554 2794

August 2829 2850 2234 2443

September 2493 2548 2389 -

Oktober 2607 2725 2682 -

November 2348 2488 2086 -

Dezember 2281 2459 2097 -

insgesamt 28.838 29.866 29.493 18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019)

Jahr Tote Verletzte Insgesamt

2009 2.412 3.557 5.969

2010 2.794 4.368 7.162

2011 3.133 4.709 7.842

2012 2.769 4.821 7.590

2013 2.969 5.669 8.638

2014 3.701 6.834 10.535

2015 3.565 7.470 11.035

2016 3.527 7.925 11.452

2017 3.440 7.019 10.459

2018 3.804 7.189 10.993

2019* 2.563* 5.676* 8.239*

Insgesamt 32114 59561 91675

* 2019: Erste drei Quartale 2019 (1.1.-30.9.2019)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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