TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/16 Ra 2018/01/0287

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Veröffentlicht am 16.06.2020
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Index

L10017 Gemeindeordnung Gemeindeaufsicht Gemeindehaushalt Tirol
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)

Norm

B-VG Art117
B-VG Art117 Abs4
B-VG Art130 Abs1 Z2
GdO Tir 2001 §21 Abs1 lita
GdO Tir 2001 §33
GdO Tir 2001 §36 Abs1
GdO Tir 2001 §36 Abs3
GdO Tir 2001 §39 Abs1
GdO Tir 2001 §39 Abs2
GdO Tir 2001 §39 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des J J in P, vertreten durch Dr. Christian Ortner, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Wilhelm-Greil-Straße 14, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 27. April 2018, Zl. LVwG-2018/23/0639-8, betreffend Beschwerde wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in einer Angelegenheit nach der Tiroler Gemeindeordnung 2001 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Gemeinderat der Gemeinde P, vertreten durch Dr. Andreas Ruetz, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Museumstraße 28), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Der Revisionswerber hat der Gemeinde P Aufwendungen in der Höhe von € 553,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (Verwaltungsgericht) die Maßnahmenbeschwerde des Revisionswerbers in Bezug auf dessen Entfernung aus dem Gemeindeamt P am 27. Februar 2018 infolge sitzungspolizeilicher Anordnung des Bürgermeisters der Gemeinde P als Vorsitzender des Gemeinderates der Gemeinde P (belangte Behörde) als unbegründet ab, verpflichtete den Revisionswerber gegenüber der Gemeinde P zum Kostenersatz und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2        Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung folgenden, im Wesentlichen wiedergegebenen Sachverhalt zugrunde:

Der Revisionswerber habe mehrfach Ausschnitte von selbst aufgezeichneten Tonaufnahmen von Gemeinderatssitzungen der Gemeinde P auf einer näher genannten, von ihm betriebenen Facebook-Seite zum freien Download bzw. Streamen zur Verfügung gestellt. Der Zugriff auf diese Tonaufzeichnungen sei unbeschränkt und ohne Anmeldungsschritte für alle Internetnutzer möglich.

Am 27. Februar 2018 habe im Gemeindeamt der Gemeinde P eine öffentliche Sitzung des Gemeinderates unter Vorsitz des Bürgermeisters stattgefunden. Als Tagesordnungspunkt sei die Beschlussfassung für eine Verordnung nach § 74 Tiroler Raumordnungsgesetz 2016 (TROG 2016) angesetzt gewesen.

Der Revisionswerber sei zu dieser Sitzung erschienen, um ihren Ablauf zum Zwecke der Veröffentlichung auf seiner Facebook-Seite aufzuzeichnen. Er habe im Zuhörerbereich Platz genommen, ein Tonaufnahmegerät in Form und Größe eines USB-Sticks eingeschaltet und dieses in seine Brusttasche gesteckt. Der Bürgermeister habe dies bemerkt und den Revisionswerber gefragt, ob er die Gemeinderatssitzung aufnehme. Nachdem der Revisionswerber dies ausdrücklich bejaht habe, habe ihn der Bürgermeister unter Hinweis auf § 36 Tiroler Gemeindeordnung 2001 (TGO) aufgefordert, die Tonaufzeichnung zu unterlassen, was der Revisionswerber ausdrücklich verweigert habe. Auch die nochmalige Aufforderung des Bürgermeisters sei erfolglos geblieben.

Daraufhin habe der Bürgermeister die Gemeinderatssitzung unterbrochen und den Revisionswerber zum Verlassen des Sitzungssaals aufgefordert. Dieser Aufforderung sei der Revisionswerber ebenfalls nicht nachgekommen. Infolgedessen habe der Bürgermeister einen als Ordner anwesenden Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsunternehmens beauftragt, den Revisionswerber aus dem Sitzungssaal zu entfernen. Der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes habe den Revisionswerber dreimal aufgefordert, den Sitzungssaal bzw. das Gemeindeamt zu verlassen, was der Revisionswerber wortlos und kopfschüttelnd verweigert habe. Folglich habe der Ordner den Revisionswerber am Oberarm ergriffen, ihn hochgezogen und aus dem Gemeindeamt geführt. Nach Ergreifen seines Oberarms durch den Ordner habe der Revisionswerber keinen physischen Widerstand geleistet und sei selbst aus dem Sitzungszimmer und dem Gemeindeamt gegangen. Hinter dem Revisionswerber sei die Eingangstür des Gemeindeamtes verschlossen und die Gemeinderatssitzung fortgesetzt worden. Der anwesende Ordner sei im Bereich der Eingangstüre stehen geblieben.

3        Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, sofern der Gemeinderat eine Verordnung nach raumordnungsrechtlichen Bestimmungen beschließe, wie vorliegend für die Sitzung am 27. Februar 2018 auf der Tagesordnung angesetzt, setze er Akte, die der Staatsfunktion der Verwaltung zuzurechnen seien. Dabei handle es sich um eine hoheitliche Maßnahme. Insofern sei der Gemeinderat in Bezug auf die vorliegend zu behandelnden Ereignisse als Behörde anzusehen.

Vorliegend sei die Entfernung durch einen Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes erfolgt, der im Auftrag eines öffentlichen Organs gehandelt habe, sodass dessen Handeln der Behörde zuzurechnen sei. Für die Zulässigkeit einer Maßnahmenbeschwerde genüge die funktionelle Zuordnung des handelnden Organs zur Hoheitsverwaltung. Die Entfernung des Revisionswerbers durch einen Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, der im Auftrag des Bürgermeisters eine sitzungspolizeiliche Maßnahme durchsetze, sei als Ausübung hoheitlicher Gewalt zu werten.

Dem Bürgermeister als Vorsitzenden des Gemeinderats obliege während der Gemeinderatssitzung die Handhabung der Sitzungspolizei, verbunden mit der Berechtigung und Pflicht, für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und des der Würde des Gemeinderats entsprechenden Anstandes im Sitzungssaal zu sorgen. Dementsprechend dienten die in § 39 TGO normierten sitzungspolizeilichen Maßnahmen dazu, den ordnungsgemäßen und störungsfreien Ablauf von Gemeinderatssitzungen zu gewährleisten. Dieser Zweck gebiete es, Störungen der Ordnung bzw. des Anstandes bei Amtshandlungen unmittelbar mit entsprechenden Maßnahmen zu begegnen.

Gemäß § 36 Abs. 1 TGO sei jedermann berechtigt, Gemeinderatssitzungen nach Maßgabe des vorhandenen Platzes zuzuhören und sich Aufzeichnungen zu machen. Fernseh- und Hörfunkaufnahmen und -übertragungen sowie Film- und Lichtbildaufnahmen seien nur mit Genehmigung des Bürgermeisters zulässig. Nach grammatikalischer Auslegung definiere der Begriff „Hörfunkaufnahme“ die Aufnahme von Tönen wie Sprache und Musik zwecks zeitversetzter Sendung im Hörfunk. Allerdings sei bei der Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift auch der jeweilige Schutzzweck zu beachten.

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sei durch die vergleichbare Bestimmung des § 228 Abs. 4 StPO die Herstellung von Fernseh-, Hörfunk-, Film- und Fotoaufnahmen (egal mit welchen technischen Hilfsmitteln) während der Hauptverhandlung am Ort derselben sowie die Übertragung solcher Aufnahmen im Fernsehen, Radio oder in jedem anderen diesen beiden entsprechenden Medium (z.B. Internet) verboten. Diese Rechtsprechung sei auf den gegenständlichen Fall übertragbar, zumal der Schutzzweck des § 36 TGO darin bestehe, den störungsfreien Ablauf einer Gemeinderatssitzung sowie die Freiheit der Willensbildung der Mitglieder des Gemeinderats frei von medialem Druck zu gewährleisten. Bloße Tonaufnahmen durch Zuhörer seien grundsätzlich nicht zustimmungsbedürftig. Wenn allerdings zu befürchten sei, dass die Tonaufnahme zum Zwecke der Veröffentlichung - in welchem Medium auch immer - geschehe, sei von einer zustimmungsbedürftigen Hörfunkaufnahme auszugehen.

Die vom Revisionswerber beabsichtigte Tonaufnahme zum Zwecke der Veröffentlichung auf „Facebook“ sei eine dem Genehmigungsrecht des Bürgermeisters unterliegende Hörfunkaufnahme, die mangels Genehmigung durch den Bürgermeister unzulässig gewesen wäre.

Gemäß § 39 Abs. 4 TGO könne der Bürgermeister nach vorangegangener erfolgloser Ermahnung störende Zuhörer entfernen oder den Zuhörerraum räumen lassen. Unter Störung iS dieser Bestimmung seien nicht nur Handlungen wie Zwischenrufe, Beschimpfungen, Lärmerregungen oder ungebührliches Verhalten zu verstehen, sondern entsprechend dem Normzweck des § 36 TGO jedes Verhalten, das den ordnungsgemäßen und störungsfreien Ablauf einer Gemeinderatssitzung oder die freie Willensbildung der Gemeinderatsmitglieder beeinträchtige. Konkret hätten die beabsichtigte Tonaufnahme zum Einschreiten des Bürgermeisters und die Weigerung des Revisionswerbers nach zweimaliger Ermahnung sogar zur Unterbrechung der Gemeinderatssitzung geführt. Daher seien sowohl die Tonaufnahme an sich als auch die Weigerung, diese zu unterlassen, als Störung zu qualifizieren.

Im Ergebnis sei die Entfernung aus dem Gemeinderatssitzungssaal rechtskonform erfolgt.

Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass es sich bei seiner Entscheidung an der einheitlichen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts orientiert habe.

4        Dagegen richtet sich die vorliegende Revision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis dahin abzuändern, dass die verfahrensgegenständliche Maßnahme kostenpflichtig für rechtswidrig erklärt werde.

Die belangte Behörde erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung und beantragte die kostenpflichtige Zurück- in eventu Abweisung der Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zulässigkeit

5        Die Revision ist zu den in ihrem Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfragen, ob eine (zulässige) Tonaufnahme einer Gemeinderatssitzung auf Grund der bloßen Befürchtung der Veröffentlichung dieser Tonaufnahmen die Entfernung eines Zuhörers aus dem Sitzungssaal rechtfertige, und ob ein Bürgermeister in Ausübung der Sitzungspolizei einen Zuhörer einer öffentlichen Gemeinderatssitzung durch einen privaten Sicherheitsdienst entfernen lassen könne, zu denen jeweils Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle, zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Rechtslage

6        Die Tiroler Gemeindeordnung 2001 (TGO), LGBl. Nr. 36/2001 in der hier - ausgehend vom Zeitpunkt der Maßnahme (vgl. VwGH 26.6.2018, Ra 2016/05/0081, Rn. 12, mwN; 25.9.2018, Ra 2018/01/0291) - maßgeblichen Fassung LGBl. Nr. 77/2017, lautet auszugsweise wie folgt:

§ 21

Organe der Gemeinde

(1) Organe der Gemeinde sind:

a)   der Gemeinderat,

...

d)   der Bürgermeister.

...

§ 30

Aufgaben des Gemeinderates

(1) Der Gemeinderat ist das oberste Organ der Gemeinde. Er hat über alle Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden und die Geschäftsführung der übrigen Gemeindeorgane zu überwachen. Der Gemeinderat entscheidet neben den ihm gesetzlich sonst noch zugewiesenen Angelegenheiten insbesondere über

a)   die Erlassung von Verordnungen,

...

(5) Der Gemeinderat ist in den hoheitlichen Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde die höchste sachlich in Betracht kommende Oberbehörde.

...

§ 33

Arbeitsweise des Gemeinderates

Der Gemeinderat berät und beschließt in Sitzungen.

...

§ 36

Öffentlichkeit

(1) Die Sitzungen des Gemeinderates sind öffentlich. Jedermann ist nach Maßgabe des vorhandenen Platzes berechtigt, zuzuhören und sich Aufzeichnungen zu machen. Fernseh- und Hörfunkaufnahmen und -übertragungen sowie Film- und Lichtbildaufnahmen sind nur mit Genehmigung des Bürgermeisters zulässig.

...

(3) In Ausnahmefällen ist die Öffentlichkeit von einer Sitzung für die Dauer der Beratung und Beschlussfassung über einen Verhandlungsgegenstand auszuschließen, wenn es der Gemeinderat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder beschließt. Bei der Beratung und Beschlussfassung über den Voranschlag und den Rechnungsabschluss der Gemeinde, über die Ausschreibung der Gemeindeabgaben und über die Bezüge der Gemeindefunktionäre darf die Öffentlichkeit nicht ausgeschlossen werden. Beschlüsse des Gemeinderates, die entgegen dieser Bestimmung gefasst werden, sind nichtig.

§ 37

Vorsitz

Der Bürgermeister führt den Vorsitz im Gemeinderat. Er eröffnet und schließt die Sitzungen, leitet die Verhandlung und handhabt die Geschäftsordnung.

§ 38

Besondere Leitungsbefugnisse

...

(3) Der Bürgermeister kann eine Sitzung des Gemeinderates unterbrechen, wenn dies aus zeitlichen Gründen oder zur Durchführung einer Beratung erforderlich ist. Mit der Unterbrechung ist die Uhrzeit und allenfalls der Tag der Fortsetzung der Sitzung bekannt zu geben.

§ 39

Ordnungsbefugnisse

(1) Der Bürgermeister kann einem Mitglied des Gemeinderates bei Abweichungen von der Sache den Ruf ‚Zur Sache‘ erteilen. Nach dem zweiten derartigen Ruf kann ihm der Bürgermeister das Wort entziehen.

(2) Der Bürgermeister kann einem Mitglied des Gemeinderates, das in Reden oder Zwischenrufen den Anstand oder die Sitte verletzt oder beleidigende Äußerungen verwendet, den Ruf ‚Zur Ordnung‘ erteilen. Nach dem zweiten derartigen Ruf kann ihm der Bürgermeister das Wort entziehen.

(3) Der Bürgermeister kann die Sitzung unterbrechen oder vorzeitig schließen, wenn andauernde Störungen eine geordnete Beratung nicht zulassen.

(4) Der Bürgermeister kann nach vorangegangener erfolgloser Ermahnung störende Zuhörer entfernen oder den Zuhörerraum räumen lassen.

...

§ 50

Aufgaben des Bürgermeisters

(1) Der Bürgermeister führt die Geschäfte der Gemeinde. Ihm obliegt die Entscheidung in allen Angelegenheiten, die nicht einem anderen Gemeindeorgan übertragen sind. Der Bürgermeister kann jedoch in jeder Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde die Meinung des Gemeinderates einholen.

...

§ 53

Behördliche Aufgaben

(1) Soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, ist der Bürgermeister zur Erlassung von Bescheiden in den Angelegenheiten des eigenen und des übertragenen Wirkungsbereiches der Gemeinde zuständig.

...“

Allgemeines

7        Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt eine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt dann vor, wenn Verwaltungsorgane im Rahmen der Hoheitsverwaltung einseitig gegen individuell bestimmte Adressaten einen Befehl erteilen oder Zwang ausüben und damit unmittelbar - d.h. ohne vorangegangenen Bescheid - in subjektive Rechte des Betroffenen eingreifen (vgl. etwa VwGH 6.8.2018, Ra 2018/17/0100, Rn. 8). Eine Maßnahmenbeschwerde an das Verwaltungsgericht kann sich demnach nur gegen die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt durch Verwaltungsbehörden oder durch Organe in ihrem Dienste richten. Das Recht auf Erhebung einer Maßnahmenbeschwerde setzt jedoch nicht das Handeln eines Verwaltungsorgans im organisatorischen Sinn voraus. Für die Zulässigkeit der Maßnahmenbeschwerde genügt vielmehr die funktionelle Zuordnung des handelnden Organs zur Hoheitsverwaltung (vgl. VwGH 13.9.2016, Ro 2014/03/0062, Rn. 15, mwN).

Zurechnung sitzungspolizeilicher Anordnungen des Bürgermeisters zum Gemeinderat als dessen Vorsitzender

8        Der Gemeinderat ist (im Gegensatz zu den Gesetzgebungsorganen National- und Bundesrat sowie den Landtagen) eine kollegial zusammengesetzte Verwaltungsbehörde (vgl. VfGH 27.6.1975, B 3/75, VfSlg. 7607; 24.11.2016, V 39/2016). Gemäß § 33 TGO berät und beschließt der Gemeinderat in Sitzungen. Gemäß § 39 Abs. 4 TGO kann der Bürgermeister als Vorsitzender des Gemeinderats (§ 37 TGO) in Ausübung der ihm übertragenen Sitzungspolizei nach vorangegangener erfolgloser Ermahnung unter anderem störende Zuhörer entfernen (vgl. zur Handhabung der Sitzungspolizei als Aufgabe des Bürgermeisters in seiner Funktion als Vorsitzender des Gemeinderats VfGH 16.12.1975, V 13/75, VfSlg. 7722). Diese gesetzliche Ordnungsbefugnis dient dazu, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinderates als allgemeiner Vertretungskörper (die ungestörte Beratung und Beschlussfassung) im gesetzlich vorgesehenen Rahmen von öffentlichen Sitzungen zu gewährleisten (vgl. idS zur Sitzungspolizei nach § 34 AVG VwGH 30.5.1994, 92/10/0469; bzw. zur Sitzungspolizei nach § 197 ZPO VfGH 11.6.2019, E 1666/2019). Sofern ein Zuhörer - wie vorliegend - auf der gesetzlichen Grundlage des § 39 Abs. 4 TGO auf Anordnung des Bürgermeisters aus dem Sitzungssaal entfernt wird, ist dies der Hoheitsverwaltung und nicht etwa als Ausübung des Hausrechts im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung zuzurechnen (vgl. im Übrigen zum gesetzlich ausgestalteten Hausrecht nach § 15a SPG VwGH 4.4.2019, Ro 2018/01/0012, Rn. 17f, mwN; vgl. nochmals idS zur Sitzungspolizei nach § 34 AVG VwGH 30.5.1994, 92/10/0469, mwN). In diesem Zusammenhang wird der Bürgermeister als Vorsitzender für den Gemeinderat tätig. Die hier gegenständliche sitzungspolizeiliche Anordnung des Bürgermeisters, einen Zuhörer gemäß § 39 Abs. 4 TGO aus dem Zuhörerraum entfernen zu lassen, ist somit dem Gemeinderat zu zurechnen.

Entfernen eines Zuhörers auf Anordnung des Bürgermeisters als Maßnahme unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt

9        Gemäß § 36 Abs. 1 TGO sind die Sitzungen des Gemeinderates (entsprechend dem bereits in Art. 117 Abs. 4 B-VG verfassungsrechtlich normierten Gebot der Öffentlichkeit von Gemeinderatssitzungen) öffentlich und ist jedermann nach Maßgabe des vorhandenen Platzes berechtigt, zuzuhören und sich Aufzeichnungen zu machen, es sei denn der Gemeinderat schließt gemäß § 36 Abs. 3 TGO mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder die Öffentlichkeit in Ausnahmefällen für die Dauer der Beratung und Beschlussfassung über einen Verhandlungsgegenstand aus. Insoweit kommt gemäß § 36 Abs. 1 TGO jedermann ein subjektives Recht zu, einer Gemeinderatssitzung als Zuhörer beizuwohnen.

10       Im Gegensatz zu den Ordnungsbefugnissen gemäß § 39 Abs. 1 bis 2 TGO richtet sich die sitzungspolizeiliche Anordnung des § 39 Abs. 4 TGO gegen störende Zuhörer und nicht gegen einzelne Gemeinderatsmitglieder im Bereich der inneren kollegialen Willensbildung des Gemeindesrats (wo die einzelnen Gemeinderatsmitglieder eine staatliche Funktion auszuüben haben, die - sofern nicht gesetzlich anderes normiert ist - ihre subjektive Rechtssphäre nicht berührt; vgl. VwGH 27.5.1993, 92/01/0909; VfGH 28.2.1983, B 471/79, G 53/79, VSlg. 9638, mwN). Die sitzungspolizeiliche Anordnung gemäß § 39 Abs. 4 TGO greift insofern in das subjektive Recht des Revisionswerbers ein, an der öffentlichen Gemeinderatssitzung als Zuhörer teilzunehmen.

11       Die Entfernung einzelner Zuhörer aus dem Zuhörerraum auf Anordnung des Bürgermeisters gemäß § 39 Abs. 4 TGO - wie vorliegend in Bezug auf den Revisionswerber - ist eine Maßnahme unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (vgl. Brandmayr/Zangerl/Stockhauser/Sonntag, Kommentar zur Tiroler Gemeindeordnung 2001, 2. Aufl., 121f; Fasching/Weikovics, Bgld GemO 2003², § 44, Rn. 8; bzw. Hengstschläger/Leeb, AVG I (2. Ausgabe 2014) § 34 Rz 13 zu sitzungspolizeilichen Verfügungen gegen Zuhörer volksöffentlicher Verhandlungen).

Beabsichtigte Tonaufnahmen durch Zuhörer zwecks Veröffentlichung im Internet als Störung einer Gemeinderatssitzung

12       Die Anordnung des Bürgermeisters, einen Zuhörer nach erfolgloser Ermahnung entfernen zu lassen, setzt gemäß § 39 Abs. 4 TGO ein die Unbeeinflusstheit und Unbefangenheit der Beratungen in einer Gemeinderatssitzung störendes Verhalten des Zuhörers voraus.

13       Vorliegend erachtete der Bürgermeister die vom Revisionswerber beabsichtigte akustische Aufnahme der Gemeinderatssitzung zum Zweck der Veröffentlichung auf der von ihm betriebenen, unbeschränkt und ohne Anmeldungsschritte für alle Internetnutzer zugänglichen Facebook-Seite als maßgebliche Störung iSd § 39 Abs. 4 TGO.

14       Gemäß § 36 Abs. 1 zweiter Satz TGO ist jedermann berechtigt, nach Maßgabe des vorhandenen Platzes, den öffentlichen Sitzungen des Gemeinderates zuzuhören und sich Aufzeichnungen zu machen. Selbst wenn man davon ausginge, dass diese Bestimmung zur Herstellung von Tonaufnahmen einer öffentlichen Gemeinderatssitzung berechtigt, schließt dies eine dadurch verursachte Störung iSd § 39 Abs. 4 TGO nicht aus, vor allem dann nicht, wenn die Aufnahmen einzelner während einer Gemeinderatssitzung getätigter Äußerungen, somit nicht bloß deren Inhalt, sondern auch der Klang der Stimme mit allen Besonderheiten und Unvollkommenheiten, unexakte Formulierungen sowie jede sprachliche Unsicherheit, selbst dauerhaft veröffentlicht werden sollen. So hat der Gesetzgeber mit dieser Einschränkung der Medienöffentlichkeit die dadurch hintanzuhaltende Möglichkeit der Beeinträchtigung des störungsfreien Ablaufs einer Gemeinderatssitzung und der Freiheit der Meinungsbildung der Gemeinderatsmitglieder durch medialen Druck zum Ausdruck gebracht. Eine solche störende Beeinträchtigung kann auch durch die Veröffentlichung von Tonaufnahmen in einem anderen Medium wie vorliegend auf einer frei zugänglichen Facebook-Seite eintreten.

15       Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht zu Recht die trotz zweimaliger Ermahnung beharrliche Weigerung des Revisionswerbers, die Tonaufnahme der Gemeinderatssitzung zwecks Veröffentlichung auf seiner Facebook-Seite zu unterlassen, als eine die Entfernung aus dem Sitzungssaal rechtfertigende Störung iSd § 39 Abs. 4 TGO beurteilt.

Entfernen des Revisionswerbers durch privaten Sicherheitsdienst

16       Mit der Entfernung des Revisionswerbers aus dem Sitzungssaal beauftragte der Bürgermeister einen als Ordner eingeteilten Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, der letztlich auf Grund der Weigerung des Revisionswerbers, den Sitzungssaal zu verlassen, diesen durch Ergreifen am Oberarm und Aufziehen - somit mit Gewalt - aus dem Gemeindeamt führte.

17       Dazu bringt die Revision zusammengefasst vor, der Bürgermeister hätte sich zwecks Entfernung des Revisionswerbers aus dem Sitzungssaal nicht eines privaten Sicherheitsunternehmens, sondern der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes bedienen müssen. „Eigenmacht“ wäre ihm verwehrt gewesen.

18       Dem Einschreiten des Mitarbeiters eines privaten Sicherheitsdienstes, der als Ordner während der Gemeinderatssitzung tätig war, lag die privatrechtliche Beauftragung durch den Bürgermeister zur Umsetzung seiner sitzungspolizeilichen Anordnung auf Entfernung des die öffentliche Gemeinderatssitzung als Zuhörer störenden Revisionswerbers nach § 39 Abs. 4 TGO zugrunde. Damit umfasste die Beauftragung des Mitarbeiters lediglich die Vornahme einer unselbständigen Hilfstätigkeit im Rahmen der Sitzungspolizei ohne Übertragung eigenständiger Befugnisse. Der Ordner war insofern als Verwaltungshelfer ohne eigene Entscheidungskompetenz und (Organ-)Befugnisse für den Gemeinderat hoheitlich tätig (vgl. Fuchs, Verwaltungshilfe, in Fuchs/Merli/Pöschl/Sturn/Wiederin/Wimmer (Hrsg.), Staatliche Aufgaben, private Akteure Bd 2 (2017), 95 (116 ff); vgl. zur Abgrenzung der Inpflichtnahme von sonstigen vertraglich herangezogenen Verwaltungshelfern VwGH 16.5.2018, Ro 2016/04/0002, Rn. 22, mwN, und zur Heranziehung eines Privaten mit zivilrechtlichem Vertrag als hoheitlich tätigen Verwaltungshelfer der Behörde VfGH 30.6.2007, A 3/05, VfSlg. 18.189).

19       Die Anwendung von Zwangsgewalt bei der Entfernung des Revisionswerbers auf Anordnung des Bürgermeisters gemäß § 39 Abs. 4 TGO durch einen Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes erweist sich aus den dargelegten Gründen als rechtmäßig.

Ergebnis

20       Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

21       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. Juni 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018010287.L00

Im RIS seit

04.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.08.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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