Index
25/01 StrafprozessNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision der Wiener Landesregierung gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 5. September 2019, Zl. VGW-152/065/4431/2019-30, betreffend Staatsbürgerschaft (mitbeteiligte Partei: I I in W, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Vorgeschichte
1 Mit Bescheid vom 8. Februar 2019 wies die Amtsrevisionswerberin (belangte Behörde) den Antrag des Mitbeteiligten, eines Staatsangehörigen Nigerias, vom 26. Februar 2016 auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) ab.
2 Begründend führte die belangte Behörde - soweit hier wesentlich - aus, am 22. Dezember 2013 habe N.N. Anzeige gegen den Mitbeteiligten erstattet, wonach sie von ihm in den frühen Morgenstunden im Damen-WC eines näher genannten Lokals in Wien mit Gewalt gezwungen worden sei, Oralverkehr an ihm zu vollziehen. Unabhängig von der Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Mitbeteiligten wegen des Verdachts der Vergewaltigung nach § 201 StGB gemäß § 190 Z 2 StPO und der Abweisung des Antrags von N.N. auf Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 195 Abs. 1 StPO mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12. Mai 2014 stellte die belangte Behörde auf Grund eigener Würdigung der im Polizeiakt erliegenden Ermittlungsergebnisse fest, der Mitbeteiligte habe am 22. Dezember 2013 im Damen-WC des näher genannten Lokals in Wien als dort tätiger Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes N.N. mit näher beschriebener Gewaltanwendung zum oralen Geschlechtsverkehr mit ihm genötigt.
Betreffend der Persönlichkeitsprognose gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG falle die am 10. Februar 2013 vom Mitbeteiligten als bei einer Veranstaltung tätiger Mitarbeiter eines Sicherheitsunternehmens begangene leichte Körperverletzung als Reaktion auf tätliche Angriffe seiner Kontrahenten nicht wesentlich ins Gewicht. Bezogen auf den Vorfall vom 22. Dezember 2013 seien hingegen Gewaltdelikte gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung besonders zu beachten. Erschwerend komme vorliegend hinzu, dass der Mitbeteiligte die Tat während eines Kontrollgangs begangen habe und er somit eine ihm in seiner Funktion als Security-Mitarbeiter zukommende Vertrauensposition missbraucht habe. Auf Grund der Wichtigkeit des verletzten Rechtsgutes und der als entsprechend schwerwiegend zu qualifizierenden Tat, könne trotz fünfjährigen Zurückliegens des Vorfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür biete, weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darzustellen noch andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte öffentliche Interessen zu gefährden.
Angefochtenes Erkenntnis
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) der vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde Folge und sicherte dem Mitbeteiligten auf dessen Antrag vom 26. Februar 2016 hin gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG iVm § 20 Abs. 1 und § 11a Abs. 1 Z 1 StbG die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zu, dass er innerhalb von zwei Jahren ab Zusicherung, das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband (Nigeria) nachweise. Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht legte seinem Erkenntnis nachstehende - soweit hier wesentliche - Sachverhaltsfeststellungen zugrunde:
Der Mitbeteiligte halte sich seit 18. Juli 2002 ununterbrochen und rechtmäßig in Österreich auf. Gegenwärtig sei er im Besitz eines bis 8. Februar 2024 gültigen Aufenthaltstitels Daueraufenthalt - EU. Er sei seit 5. Dezember 2003 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und habe mit dieser zwei gemeinsame am 7. August 2009 bzw. am 20. Dezember 2013 geborene Söhne. Der Mitbeteiligte sei seit 2009 bei einem näher genannten Unternehmen im Umfang von 33 Wochenstunden als Lagerarbeiterund zusätzlich seit zehn Jahren in der Securitybranche geringfügig als Arbeiter beschäftigt. Im Zeitraum 36 Monate vor Antragstellung sei der Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie mit einem Überschuss von € 23.130,34 gesichert gewesen. Weder der Mitbeteiligte noch seine Ehefrau hätten Sozialhilfeleistungen bezogen.
Der Mitbeteiligte verfüge über Deutschkenntnisse auf B1-Niveau und habe die „Geschichtsprüfung“ erfolgreich bestanden.
Betreffend den Mitbeteiligen würden keine gerichtlichen bzw. verwaltungsstrafrechtlichen (ungetilgten) Verurteilungen oder fremdenrechtliche Vormerkungen aufscheinen. Weder das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl noch die Landespolizeidirektion Wien hätten Bedenken gegen die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft geäußert.
Im Zuge der Ausübung seiner Tätigkeit als Securitymitarbeiter habe der Mitbeteiligte bei der Schlichtung eines Streits zwischen zwei Teilnehmern einer Veranstaltung einen der Teilnehmer am Körper verletzt. Das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren sei nach Bezahlung eines Geldbetrages in der Höhe von € 600,-- von der Staatsanwaltschaft Wien am 8. August 2014 eingestellt worden, zumal der unbescholtene Mitbeteiligte die Verantwortung für das ihm angelastete strafbare Verhalten übernommen habe und keine schwere Schuld vorgelegen sei, während die beiden Veranstaltungsteilnehmer wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu jeweils bedingten Freiheitsstrafen verurteilt worden seien.
Im Zusammenhang mit einem am 22. Dezember 2013 gegen 05.00 Uhr auf der Damentoilette eines näher genannten Lokals in Wien von Frau N.N. am Mitbeteiligten vollzogenen Oralverkehrs sei von der Staatsanwaltschaft Wien gegen den Mitbeteiligten wegen des Verdachtes der geschlechtlichen Nötigung bzw. Vergewaltigung ein Ermittlungsverfahren geführt worden, das am 21. März 2013 eingestellt worden sei, weil auf Grund der Beweislage die Verwirklichung der objektiven und subjektiven Tatseite einer Vergewaltigung nicht mit dem für eine Anklageerhebung erforderlichen Grad einer Verurteilungswahrscheinlichkeit nachzuweisen gewesen sei. Der Fortsetzungsantrag der Anzeigerin N.N. sei vom Landesgericht für Strafsachen Wien am 12. Mai 2014 abgewiesen worden.
Am 7. September 2017 habe der Mitbeteiligte durch das Öffnen der Beifahrertüre während einer roten Ampelphase einen im selben Augenblick zwischen den stehenden Fahrzeugen hindurchfahrenden Motorradfahrer leicht am Arm verletzt. Weitere polizeiliche Ermittlungen habe es deswegen nicht gegeben.
Schließlich sei der Mitbeteiligte bezüglich eines Vorfalls am 20. April 2019 um 03.30 Uhr vor einem näher genannten Lokal wegen des Verdachts der Körperverletzung, Sachbeschädigung und gefährlichen Drohung angezeigt worden. Direkt nach der Sperrstunde des Lokals, in dem der Mitbeteiligte als Türsteher Dienst versehen habe, soll es zwischen zwei Männern zu einer Rangelei gekommen sein. Der Mitbeteiligte sei „zwischen die beiden Männer gegangen“. Einer der beiden Männer, den der Mitbeteiligte zuvor aus dem Lokal gewiesen habe, habe daraufhin angezeigt, dass bei der Rangelei sein T-Shirt zerrissen worden sei, der Mitbeteiligte ihn mit dem Umbringen bedroht habe, wenn er nicht das Lokal verlasse, der Mitbeteiligte ihn am Körper verletzt und sein Handy beschädigt habe, und dass ihm € 300,-- aus der Hosentasche gestohlen worden seien. Mangels Beweisgründen habe die Staatsanwaltschaft Wien am 12. August 2019 das Ermittlungsverfahren gegen alle Beteiligte eingestellt.
5 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, dass es die Annahme eines Verleihungshindernisses der belangten Behörde auf Grund des Vorfalls vom 22. Dezember 2013 nicht teile. Die belangte Behörde verkenne, dass es nicht ihre Aufgabe und im Übrigen auch nicht die des Verwaltungsgerichtes sei, strafrechtlich relevante Sachverhalte „neu aufzurollen“. Vielmehr sei das Gesamtverhalten des Antragstellers zu untersuchen und zu beurteilen.
Bezüglich der Frage einer positiven Zukunftsprognose iSd § 10 Abs. 1 Z 6 StbG seien aus dem Vorfall vom 22. Dezember 2013 nur bedingt Rückschlüsse auf den („schlechten“) Charakter einer Person zu ziehen. Vorliegend habe die belangte Behörde außer Acht gelassen, dass der Mitbeteiligte unbescholten sei, einer regelmäßigen Arbeit nachgehe und ein geregeltes Familienleben führe. Der Mitbeteiligte sei auch nicht „einschlägig“ in Erscheinung getreten, obwohl er nach wie vor in der Securitybranche tätig sei. Gegen den Mitbeteiligten seien Anschuldigungen bzw. Anzeigen wegen „Sexualdelikten“ weder aus der Zeit vor noch nach dem Vorfall Ende 2013 aktenkundig. Neben dem langen Zeitraum seit dem Vorfall Ende 2013 sprächen diese Tatsachen gegen die Annahme der belangten Behörde, der Mitbeteiligte stelle eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar. Dem Vorfall sei jedenfalls kein solches Gewicht beizumessen, dass er eine negative Zukunftsprognose iSd § 10 Abs. 1 Z 6 StbG rechtfertige.
Ebenso wenig sei auf Grund der Vorfälle vom 7. September 2017 und vom 20. April 2019 ein Verleihungshindernis anzunehmen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Mitbeteiligte seit mehr als zehn Jahren in der Securitybranche tätig sei und als Türsteher regelmäßig mit abgewiesenen, betrunkenen und aggressiven Gästen konfrontiert sei, könne von einem „schlechten“ Charakter des Mitbeteiligten auf Grund der aufgezeigten Vorfälle in den Jahren 2013 und 2019 nicht die Rede sein. Das „Fehlverhalten“ des Mitbeteiligten erreiche nicht jene Grenze, welche die Annahme eines Verleihungshindernisses rechtfertige. Auch sonstige Verleihungshindernisse seien nicht hervorgekommen. Vielmehr lägen die Voraussetzungen für die Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 20 Abs. 1 StbG vor.
6 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht mit dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG.
7 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, in eventu Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der Mitbeteiligte beantragte in der nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof eingebrachten Revisionsbeantwortung die kostenpflichtige Zurück- in eventu Abweisung der Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem Senat gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG erwogen:
Zulässigkeit
8 Die Amtsrevision ist zu der in ihrem Zulässigkeitsvorbringen aufgeworfenen Rechtsfrage, ob es der belangten Behörde im Staatsbürgerschaftsverleihungsverfahren verwehrt sei, zu dem einem von der Staatsanwaltschaft eingestellten Ermittlungsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalt ein selbständiges Ermittlungsverfahren zu führen und eigene Beweiswürdigungserwägungen vorzunehmen, zulässig; sie ist auch berechtigt.
Zu § 10 Abs. 1 Z 6 zweiter Fall StbG
9 Gemäß § 10 Abs. 1 Z 6 StbG darf einem Fremden die Staatsbürgerschaft, soweit in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn er nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bietet, dass er zu der Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit darstellt noch andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte öffentliche Interessen gefährdet.
10 Zum zweiten Fall des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf das Gesamtverhalten des Verleihungswerbers, insbesondere auch auf von ihm begangene Straftaten, Bedacht zu nehmen. Maßgebend ist, ob es sich dabei um Rechtsbrüche handelt, die den Schluss rechtfertigen, der Verleihungswerber werde auch in Zukunft wesentliche, zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung - oder andere in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Rechtsgüter - erlassene Vorschriften missachten. In der Art, der Schwere und der Häufigkeit solcher Verstöße kommt die - allenfalls negative - Einstellung des Betreffenden gegenüber den zur Hintanhaltung solcher Gefahren erlassenen Gesetzen zum Ausdruck (vgl. VwGH 28.2.2019, Ra 2018/01/0095, Rn. 12, mwN).
Eigenständige Beurteilung eines einer Einstellung eines Strafverfahrens zugrundeliegenden Sachverhalts
11 Zur Heranziehung des von der Behörde festgestellten Verhaltens eines Einbürgerungswerbers zur Prüfung des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG, selbst wenn das Strafverfahren gegen ihn durch die Staatsanwaltschaft nach § 190 Z 2 StPO eingestellt wurde, ist gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidungsgründe des Erkenntnisses vom 13. Februar 2020, Fe 2019/01/0001, zu verwiesen. Demnach handelt es sich bei der (vorliegend mit dem erstbehördlichen Bescheid erfolgten) Abweisung eines Antrags auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft um eine administrativrechtliche Maßnahme bezogen auf den Tatbestand des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG und um keine Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage. Daher hat die zuständige Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen, was ein mängelfreies Ermittlungsverfahren und eine vollständige Beweiserhebung voraussetzt. So hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass die Einstellung eines Strafverfahrens im Staatsbürgerschaftsverleihungsverfahren Bindungswirkung nicht entfaltet und es der belangten Behörde demnach nicht verwehrt ist, über den der zurückgelegten Anzeige zugrundeliegenden Sachverhalt ein selbständiges Ermittlungsverfahren zu führen und eigene Beweiswürdigungserwägungen vorzunehmen (vgl. insoweit zu § 11 StbG VwGH 10.4.2008, 2005/01/0777, mwN). Dies gilt entsprechend dem Erkenntnis vom 13. Februar 2020, Fe 2019/01/0001, Rn. 18, im Hinblick auf die dort näher dargelegte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 10 Abs. 1 Z 6 StbG auch für dieses - hier maßgebliche - Verleihungshindernis. Ausgehend davon hat der Verwaltungsgerichtshof klargestellt, dass die Behörde das von ihr festgestellte Verhalten des Einbürgerungswerbers, selbst wenn das Strafverfahren gegen ihn durch die Staatsanwaltschaft nach § 190 Z 2 StPO eingestellt wurde, zur Prüfung des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG heranziehen durfte (Rn. 19).
12 Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 190 Z 2 StPO, weil aus Sicht der Staatsanwaltschaft kein tatsächlicher Grund zur weiteren Verfolgung des Einbürgerungswerbers als Beschuldigten bestand, hindert somit die belangte Behörde - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - nicht, über den der Einstellung des Ermittlungsverfahrens zugrundeliegenden Sachverhalt ein eigenständiges Ermittlungsverfahren und eigene Beweiswürdigungserwägungen vorzunehmen. Vielmehr hat die belangte Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) eine eigenständige Beurteilung des Sachverhalts auf Basis eines mängelfreien Ermittlungsverfahrens vorzunehmen.
Längeres Wohlverhalten als Voraussetzung für die Verneinung des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG
13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein längeres Wohlverhalten des Fremden seit einem nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG relevanten Fehlverhalten für eine Prognose nach dieser Bestimmung von Bedeutung sein. So hat der Verwaltungsgerichtshof eine negative Prognose nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG als rechtmäßig beurteilt, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht von längerem Wohlverhalten des Antragstellers seit dem zuletzt von ihm begangenen und für die negative Prognose als tragend angesehenen Fehlverhalten ausgegangen werden konnte (vgl. etwa VwGH 28.1.2019, Ro 2018/01/0018, Rn. 31, mwN). Dabei ist auch zu beachten, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft den Abschluss einer (erfolgreichen) Integration des Fremden in Österreich darstellen soll (vgl. VwGH 23.12.2019, Ra 2019/01/0475, Rn. 13, mwN).
14 Wesentlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung des, einer negativen Prognose nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG entgegenstehenden, längeren Wohlverhaltens des Antragstellers ist das für die negative Prognose als tragend angesehene Fehlverhalten. Dabei fallen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit besonders ins Gewicht. Im Allgemeinen ist nach derartigen Taten ein ausreichend langer Zeitraum des Wohlverhaltens erforderlich, um eine positive Prognose gerechtfertigt erscheinen zu lassen (vgl. etwa VwGH 21.11.2013, 2013/01/0002, mwN). Dies gilt umso mehr für strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung (vgl. in diesem Zusammenhang zur wesentlichen Bedeutung solcher strafbarer Handlungen für die Beurteilung der Verlässlichkeit einer Person etwa § 7 Abs. 3 Z 8 Führerscheingesetz in Bezug auf die Verkehrszuverlässlichkeit oder § 20 Abs. 1 Z 3a Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 betreffend die Auflösung des Dienstverhältnisses - dazu auch VwGH 28.6.2017, Ra 2017/09/0016, Rn. 18).
Fallbezogene Beurteilung
15 Vorliegend vermeinte das Verwaltungsgericht, es sei nicht Aufgabe der belangten Behörde sowie des Verwaltungsgerichts strafrechtlich relevante Sachverhalte „neu aufzurollen“. Davon ausgehend führte das Verwaltungsgericht zum Vorfall vom 22. Dezember 2013 kein eigenständiges Ermittlungsverfahren und traf zum Verdacht eines vom Mitbeteiligten damals begangenen Sexualdelikts lediglich Feststellungen zum Verfahrensablauf des gegen den Mitbeteiligten geführten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens nicht jedoch zum dem Vorwurf gegen den Mitbeteiligten zugrunde liegenden Sachverhalt.
16 Demgegenüber war das Verwaltungsgericht jedoch nach der dargestellten Rechtsprechung verpflichtet, den Sachverhalt zum Vorfall vom 22. Dezember 2013 selbständig auf Basis eines eigenständigen Ermittlungsverfahrens und eigener Beweiswürdigungserwägungen festzustellen und zu beurteilen. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach das Verwaltungsgericht, wenn es von einer Entscheidung der Verwaltungsbehörde abweichen will, gehalten ist, auf die beweiswürdigenden Argumente der Verwaltungsbehörde einzugehen und nachvollziehbar zu begründen, aus welchen Gründen es zu einer anderen Entscheidung kommt (vgl. insoweit zum Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, und VwGH 27.5.2020, Ra 2019/14/0566, jeweils mwN).
17 Ohne hinreichende Feststellungen zum Ablauf des Vorfalls vom 22. Dezember 2013 kann dessen allfälliger Wesentlichkeit für eine negative Prognose iSd § 10 Abs. 1 Z 6 StbG auch nicht ein vom Verwaltungsgericht angenommenes, zwischenzeitiges Wohlverhalten des Mitbeteiligten entgegen gehalten werden.
18 Das Verwaltungsgericht hat insofern das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Ergebnis
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher insgesamt wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
20 Der Mitbeteiligte hat bei diesem Ergebnis gemäß § 47 Abs. 3 VwGG keinen Anspruch auf Kostenersatz (vgl. etwa VwGH 28.1.2019, Ro 2018/01/0018, Rn. 54, mwN).
Wien, am 6. Juli 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010426.L00Im RIS seit
19.08.2020Zuletzt aktualisiert am
19.08.2020