TE Lvwg Beschluss 2020/5/12 VGW-102/067/881/2020-25

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Veröffentlicht am 12.05.2020
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Entscheidungsdatum

12.05.2020

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
41/01 Sicherheitsrecht

Norm

B-VG Art. 89 Abs2
B-VG Art 139 Abs1 Z1
SPG §37 Abs1

Text

Das Verwaltungsgericht Wien stellt durch sein Mitglied Dr. Grois im Verfahren über die Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG der Frau A. B., Wien, C.-Straße, betreffend die Auflösung der Versammlung am 10.12.2019 in der D. Wien, gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 1 iVm Art. 135 Abs. 4 und Art. 89 Abs. 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes – B-VG an den Verfassungsgerichtshof den

Antrag,

der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass

1.   die auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung des Landespolizeipräsidenten von Wien vom 10.12.2019 mit dem Wortlaut „Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der D. Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.“ kundgemacht durch Verlesen am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der D. Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der D. Wien ihrem gesamten Inhalt nach

in eventu

2.   die auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung ihrem gesamten Inhalt nach

in eventu

3.   die §§ 1 bis 3 der auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

4.   die §§ 2 und 3 der auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

5.   § 3 der auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung

in eventu

6.   die auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019 mit dem Wortlaut „Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der D. Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.“ kundgemacht durch Verlesen am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der D. Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der D. Wien ihrem gesamten Inhalt nach sowie die auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung des Landespolizeipräsidenten von Wien vom 10.12.2019 in der verschriftlichten Fassung ihrem gesamten Inhalt nach

gesetzwidrig war.

Begründung

I. Anlassfall

1.   Beim Verwaltungsgericht Wien ist die Maßnahmenbeschwerde der Frau A. B. anhängig, in welcher sie sich durch Ausübung unmittelbarer Haltung behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Organe der Landespolizeidirektion Wien in ihren Rechten verletzt erachtet. Die Beschwerdeführerin moniert, sie habe gemeinsam mit anderen Personen am 10.12.2019 im Anschluss an eine aufgelöste (und angemeldet gewesene) Versammlung vor der D.-Wien an der spontan beschlossenen Weiterführung der Versammlung und „Besetzung“ des Festsaals der D.-Wien teilgenommen, um gemeinsam den Unmut über die bestehenden Verhältnisse an den Hochschulen kundzutun. Diese (weitergeführte) Versammlung sei auf Grundlage einer gemäß § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes erlassenen Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten aufgelöst worden und durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zwangsweise durchgesetzt worden. Dadurch sei sie in ihren Rechten verletzt worden. Rechtswidrigkeit erachtet die Beschwerdeführerin darin begründet, dass die Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten nicht auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes gestützt hätte werden dürfen, weil es sich bei der fortgesetzten „Besetzung“ nicht um eine „Besetzung“, sondern um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes gehandelt habe.

2.   Die belangte Behörde bringt dazu vor, die Auflösung der Versammlung sei durch die Erlassung einer Verordnung erfolgt, weshalb kein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls-und Zwangsgewalt vorliegend sei, denn bei dieser Verordnung handle es sich um einen generellen normativen Akt.

3.1. Die auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes – SPG gestützte Verordnung der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019, welche am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der D. Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der D. Wien durch Verlesen kundgemacht wurde, lautet:

„Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der D. Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.“

3.2. Die in weiterer Folge verschriftlichte Verordnung lautet wie folgt:

VERORDNUNG

der Landespolizeidirektion Wien vom 10.12.2019

Gemäß § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes 1991, BGBl 1991/566, in der derzeit geltenden Fassung wird verordnet:

§ 1. Die D. Wien, …, wurde am 10.12.2019 um 15:30 Uhr im dortigen Festsaal von mehreren Personen (ca 75) unrechtmäßig ohne Duldung des Verfügungsberechtigten besetzt.

§ 2. Es wird das Verlassen der D. Wien, …, angeordnet. Des Weiteren wird ein Betreten des Gebäudes untersagt, nachdem die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Verfügungsberechtigten darstellt und diese die Auflösung verlangen.

§ 3. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der D. Wien zu weisen. Die Räumung ist gemäß § 50 SPG mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen.

§ 4. Die Verordnung ist in geeigneter Weise durch den Behördenvertreter vor Ort kundzumachen und tritt unmittelbar nach Verlautbarung in Kraft.

§ 5. Wer diesem angeordneten Betretungsverbot zuwiderhandelt begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 500 Euro, im Wiederholungsfall mit Geldstrafe bis zu 2300 Euro, im Falle ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen zu be[s]trafen.

§ 6. Das Betretungsverbot endet mit Außerkrafttreten der Verordnung.

§ 7. Diese Verordnung tritt am 10.12.2019 um 21:39 Uhr in Kraft und am 11.12.2019 um 03:39 Uhr außer Kraft.

Wien, am 10.12.2019                                               Der Landespolizeipräsident:

                                                                         i.A. Mag. E., Hofrat

                                                                         Präsidialjournaldienst“

4.   Beim Verwaltungsgericht Wien fand in der Beschwerdesache eine öffentliche mündliche Verhandlung statt. Der Sachverhalt in der Beschwerdesache stellt sich für das Verwaltungsgericht Wien folgendermaßen dar:

Am 10.12.2019 fand im Zeitraum zwischen 14:30 bis 15:00 Uhr vor der D.-Wien … eine angemeldete Versammlung statt, um Unmut über die bestehende Hochschulpolitik kundzutun. Daran nahmen zahlreiche Personen teil.

Nach Beendigung der angemeldeten Versammlung beschlossen einige Versammlungsteilnehmer ihren Protest im Festsaal der D.-Wien weiterzuführen und diesen zu besetzen. Gegen 15:30 Uhr befanden sich schließlich rund 80 der Versammlungsteilnehmer im Festsaal der D.-Wien und verharrten in diesem. Die Beschwerdeführerin traf etwas später hinzu, um an der Besetzung teilzunehmen, doch wurde ihr der Eintritt in den Festsaal von Securitymitarbeitern, an welchen sie sich nicht vorbeidrängeln bzw. „keine Körperkontakt“ wollte, verwehrt, sodass sie am Boden vor dem Festsaal sitzend an der Besetzung teilnahm.

Vom Balkon des Festsaals aus wurden Parolen gerufen und ein Transparent gehisst. Auch am Balkon vor dem Saal zum F. hin, skandierten mehrere Personen ihre Forderungen und entfalteten ein Transparent mit der Aufschrift: „BESETZT DIE UNIS! #WIEDERBRENNEN FÜR FREIE BILDUNG“. Im Festsaal wurde ein Plenum abgehalten, um die zu erhebenden Forderungen weiter zu besprechen, thematisch beispielsweise Platzmangel, Anwesenheitspflicht bei bestimmten Studien, Studiengebühren. Das Interesse der Versammlungsteilnehmer war darauf gerichtet auf den aktuellen Platzmangel an Österreichs Hochschulen, die schlechten Studienbedingungen, die Beschränkung der Hochschulbindung und des Zugangs zu den Hochschulen aufmerksam zu machen. Auch sollte Druck auf Vertreter der D.-Wien ausgeübt werden, damit diese in Verhandlungen treten sollten, die zuvor verweigert worden waren.

Einsatzkräfte der belangten Behörde wurden im Wege der Landesleitzentrale um 15:30 Uhr von der Besetzung des Festsaales verständigt und begaben sich vor Ort. Der Gesamtprojektleiter der D. und Sicherheitsverantwortliche erklärte, dass die Studenten den Saal ohne dessen Einwilligung besetzt hielten und dort forderten, für zwei Stunden ein Plenum abhalten zu dürfen und dann der Rektorin ihre Bedienungen für ihren Abzug vortragen zu dürfen. Einsatzkommandant vor Ort war Oberst G.. Um ca. 16:20 Uhr traf ein Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) ein, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu verschaffen und in weiterer Folge auch Mag. H. (LVT-Journal). Um ca. 17:00 Uhr begaben sich Oberst G. und Mag. H. zur weiteren Beratung in das Rektorat, wobei ein aktives polizeiliches Einschreiten zumindest bis zur Überbringung der Forderungen ausgeschlossen wurde.

Um 17:55 Uhr übergaben zwei männliche Vertreter der Studierenden die Forderung für einen Abzug der Studenten, welche darin bestanden, dass sich Vertreter der Regierung vor Ort zu Gesprächen zur weiteren Bildungspolitik stellen sollten. Gefordert wurde auch mehr Geld für Studierende. Die Rektorin konnte dies nicht zusichern, erklärte sich aber bereit, den Festsaal für solche Gespräche nach vorheriger Terminvereinbarung zur Verfügung zu stellen. Die Vertreter der Studierenden begaben sich zur weiteren Beratung in den besetzten Festsaal zurück. Dabei berichteten die beiden Verhandler von den Gesprächen mit der Rektorin und es wurde in weiterer Folge länger darüber diskutiert, ob man der Rektorin vertrauen könne, und anschließend wurde im Plenum abgestimmt.

Um 19:15 Uhr begaben sich Vertreter der Studierenden zu einer erneuten Besprechung in das Rektorat und gaben bekannt, sie würden unter den gegebenen Bedienungen den Saal nicht räumen. Seitens des Rektorats wurde ihnen eine weitere Stunde an Bedenkzeit eingeräumt. Um 20:30 Uhr beteuerten die Vertreter der Studierenden neuerlich auf ihren Forderungen zu beharren und nicht abzuziehen und begaben sich sodann erneut in den Festsaal.

Zur selben Zeit erfolgte eine weitere Besprechung unter anderem seitens Mag. H. im Beisein von Oberst G. und der Rektorin der D.-Wien und deren Vertreter, in welcher seitens der Rektorin bzw. ihrem Stellvertreter zum Ausdruck gebracht wurde, dass ein Verbleib der Studierenden im Festsaal über Nacht nicht geduldet werden würde, weil „geordnete Verhältnisse“ gewünscht waren.

Mag. H. stufte um 20:55 Uhr die Situation aktuell vor Ort als eine Besetzung im Sinne des § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes ein.

Mag. E. erließ aufgrund der Einschätzung des vor Ort anwesenden Mag. H. sowie nach Rücksprache und im Auftrag des Wiener Landespolizeipräsidenten die Verordnung des Wiener Polizeipräsidenten vom 10.12.2019.

Mag. H. verlas sodann von 21:38 Uhr bis 21:39 Uhr im Festsaal sowie von 21:43 Uhr bis 21:44 Uhr im Gang vor dem Festsaal die Verordnung mit dem Wortlaut „Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind durch Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten ermächtigt, die Besetzer aus dem Gebäude der D. Wien zu weisen. Diese Räumung ist mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen, sofern der Räumung nicht freiwillig binnen zehn Minuten nachgekommen wird.“.

Den anwesenden Studierenden wurde eine Frist von 10 Minuten eingeräumt und ihnen die Möglichkeit gegeben, das Gebäude freiwillig zu verlassen. Dieses Angebot nahmen nur 2-3 Personen war, die Beschwerdeführerin blieb weiterhin am Boden vor dem Festsaal sitzen.

Nach Ablauf von 10 Minuten wurden die Studierenden, die der Räumung nicht freiwillig nachkamen, unter Anwendung von Zwangsgewalt aus den besetzten Räumlichkeiten der D.-Wien hinaus befördert (48 am Boden sitzende Personen wurden ins Freie getragen und weitere 25 Personen, die selbständig gehend den Saal verließen, wurden ins Freie eskortiert).

Die Organe der belangten Behörde versuchten die Beschwerdeführerin zu überreden innerhalb der gesetzten zehn Minuten freiwillig zu gehen, was die Beschwerdeführerin verneinte; sie blieb weiterhin am Boden sitzen. Nach Ablauf der zehn Minuten wurde die Beschwerdeführerin unter Anwendung von Zwangsgewalt (Hochheben und Tragen vor das Gebäude der D.-Wien) aus den Räumlichkeiten der D. Wien hinaus befördert.

Die Verschriftlichung (vgl. den Wortlaut oben unter Punkt I.3.2.) des Kerngehalts der im Festsaal bzw. vor dem Festsaal der D.-Wien am 10.12.2019 kundgemachten Verordnung des Landespolizeipräsidenten von Wien erfolgt der Kundmachung vor Ort zeitlich nachgelagert im Büro der Wiener Landespolizeidirektion.

II. Zur Präjudizialität

Auf Grundlage der antragsgegenständlichen Verordnung wurde einerseits das Verlassen der D. Wien angeordnet sowie das weiter Betreten des Gebäudes untersagt. Die antragsgegenständliche Verordnung ermächtigte die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die unter anderem in Festsaal anwesenden Personen (in der Diktion der Verordnung: Besetzer) aus dem Gebäude der D. zu weisen und diese Räumung gemäß § 50 des Sicherheitspolizeigesetzes mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchzusetzen.

Damit ist die antragsgegenständliche Verordnung unmittelbare Rechtsgrundlage, auf die sich die auch gegen die Beschwerdeführerin gerichteten Befehle sowie gesetzten Zwangsmaßnahmen stützen.

III. Zu den Bedenken

1.   Das Verwaltungsgericht Wien hegt folgende Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der antragsgegenständlichen Verordnung:

Die eindeutige Rechtsgrundlage für die antragsgegenständliche Verordnung des § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes sieht vor, dass eine auf ihre Grundlage erlassene Verordnung unzulässig ist, wenn es sich bei der Zusammenkunft von mehreren Menschen ohne Duldung des Besitzers um eine Ansammlung handelt, die den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterliegt.

Das Versammlungsgesetz 1953 definiert den Begriff der von ihm erfassten „Versammlung“ nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine Zusammenkunft mehrerer Menschen dann eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes 1953, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation, u.s.w.) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt nicht zuletzt von den Umständen des Einzelfalles ab. Im Hinblick auf die in der Judikatur entwickelten Maßstäbe und Grundsätze unterliegen im Ergebnis auch Spontan-Versammlungen und ad-hoc entstehende Demonstrationen dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit (vgl. etwa VfSlg. 19.528/2011, 15.109/1998, 14.367/1995 oder 8685/1979 jeweils mit zahlreichen Nachweisen) sowie auch Veranstaltungen gemischten Charakters dem Versammlungsbegriff des Versammlungsgesetzes 1953 (VfSlg. 9783/1983).

Aufgrund der Ergebnisse des Beweisverfahrens erachtet das Verwaltungsgericht Wien die „Besetzung“ von unter anderem des Festsaals samt der davor befindlichen Räume bzw. des davor befindlichen Gangs der D.-Wien am 10.12.2019 durch zahlreiche Personen als eine spontane Ansammlung von Menschen, die den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953 unterlag. Die daran teilnehmenden Personen kamen zusammen in der Absicht durch gemeinsames Wirken ihren Unmut über die bestehenden Verhältnisse an den Hochschulen kundzutun. Dazu wurden vom Balkon aus Parolen gerufen und ein Transparent gehisst, auch am Balkon vor dem Saal zum F. hin, skandierten mehrere Personen ihre Forderungen und entfalteten ein Transparent mit der Aufschrift: „BESETZT DIE UNIS! #WIEDERBRENNEN FÜR FREIE BILDUNG“. Im Plenum wurden Diskussionen und Abstimmungen gehalten. Das Interesse der Versammlungsteilnehmer war dabei darauf gerichtet auf den aktuellen Platzmangel an Österreichs Hochschulen, die schlechten Studienbedingungen, die Beschränkung der Hochschulbindung und des Zugangs zu den Hochschulen aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck „besetzten“ sie die genannten Räumlichkeiten auch um Druck aufzubauen, um in Verhandlungen zu treten, die zuvor verweigert worden waren. Insbesondere forderten sie für ihren Abzug, dass sich Vertreter der Regierung vor Ort zu Gesprächen zur weiteren Bildungspolitik stellen sollten bzw. mehr Geld für Studierende. Ziel war dabei aber nicht der bloße Verbleib in den Räumlichkeiten, weshalb nicht von einer Besetzung im Sinne des § 37 SPG auszugehen ist; Ziel der zusammenkommenden Personen war vielmehr ein hochschulpolitischer Protest (Platzmangel an Österreichs Hochschulen, schlechte Studienbedingungen, Beschränkung der Hochschulbindung und des Zugangs zu den Hochschulen) samt Verhandlungsbestreben. Vor dem Hintergrund der bisher ergangenen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. etwa VfSlg. 20.275/2018, 14.761/1997, 14.367/1995, 8685/1979) stellt sich dieses gemeinsame Wirken das als Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes 1953 dar.

Die belangte Behörde hätte folglich keine auf § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes gestützte Verordnung erlassen dürfen [(vgl. dazu auch VfGH vom 28.09.2018, V 1/2018 = VfSlg. 20.275/2018) und in weiterer Folge auch keine auf diese Verordnung gestützten individuellen Befehle und Zwangsmaßnahmen (auch) gegen die Beschwerdeführerin richten dürfen].

2.   Das Verwaltungsgericht Wien hegt des weiteren Bedenken im Hinblick auf die zum Ausdruck kommende in Anspruch genommene gesetzliche Grundlage des § 37 Abs. 1 Z 2 des Sicherheitspolizeigesetzes: Danach kann eine Verordnung mit der Anordnung des Verlassens eines Raumes (oder Grundstückes) und zugleich der Untersagung dessen Betretung angeordnet werden, wenn die Besetzung einen schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Besitzers darstellt und diese die Auflösung verlangt.

In der Beschwerdesache ist nach Einsichtnahme in den vorliegenden Verordnungsakt und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich, dass seitens des verordnungserlassenden Organs die Frage eines schwerwiegenden Eingriffes ansatzweise geprüft bzw. hinterfragt wurde. Auch in der von der belangten Behörde vorgelegten Meldung vom 10.12.2019 findet sich kein Anhaltspunkt für die Beurteilung dieser Frage – darin ist lediglich vermerkt, dass die Rektorin zum Ausdruck gebracht habe, dass der Verbleib der Studierenden im Festsaal nicht geduldet werde, respektive, dass seitens der D. Wien beschlossen wurde von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und die Entfernung aller Personen auch aus dem Gang- und Foyerbereich erreichen zu wollen, weil ein Verbleib der Studierenden im Festsaal über Nacht nicht geduldet werden würde bzw., weil „geordnete Verhältnisse“ gewünscht waren. Dem Wortlaut des § 37 Abs. 1 Z 2 SPG nach ist dies aber nicht maßgeblich – vielmehr kommt es auf die mangelnde Duldung des Zusammenkommens an – das anfängliche Zusammenkommen fand gleichwohl zunächst noch Duldung (vgl. etwa Hauer/Keplinger, Handbuch zum Sicherheitspolizeigesetz4, 362). Auch aus diesem Grund findet die gegenständliche Verordnung keine gesetzliche Deckung.

Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass die antragsgegenständliche Verordnung in § 37 Abs. 1 Z 2 des Sicherheitspolizeigesetzes gesetzlich gedeckt ist.

IV. Zum Antragsumfang

1. Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist der Umfang der zu prüfenden und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufzuhebenden Bestimmungen derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlassfall ist, dass aber andererseits der verbleibende Teil keine Änderung seiner Bedeutung erfährt. Weil beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, hat der Verfassungsgerichtshof im Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel Vorrang vor dem anderen gebührt. Es ist dem Verfassungsgerichtshof verwehrt, der Norm durch Aufhebung bloßer Teile einen völlig veränderten, dem Normsetzungsorgan überhaupt nicht mehr zusinnbaren Inhalt zu geben, weil dies im Ergebnis geradezu ein Akt positiver Rechtssetzung wäre.

2. Das Verwaltungsgericht Wien erachtet den am 10.12.2019 von 21:38 bis 21:39 Uhr im Festsaal der D. Wien und von 21:43 bis 21:44 Uhr am Gang beim Festsaal der D. Wien als dem Landespolizeipräsidenten von Wien zuzurechnenden verlesenen Wortlaut als kundgemachte, im Beschwerdeverfahren präjudizielle und normative Verordnung.

3. Sollte der Gerichtshof jedoch zum Ergebnis gelangen, dass die in weiterer Folge verschriftlichte Fassung der vor Ort an der D. Wien verlesenen und kundgemachten Verordnung als im Sinne des § 37 Abs. 1 letzter Satz iVm § 36 Abs. 4 SPG kundgemacht gilt und anstelle der vor Ort verlesenen und kundgemachten Verordnung trifft bzw. Rechtsgrundlage für die am 10.12.2019 ausgeübte unmittelbar verwaltungsbehördlichen Befehls- und Zwangsakte bildet, wird der Ersteventualantrag gestellt.

Im Zusammenhang mit der verschriftlichten Verordnung ist zum Anfechtungsumfang auszuführen:

§ 4 der antragsgegenständlichen verschriftlichten Verordnung, welcher die Kundmachung und das Inkrafttreten der Verordnung zum Gegenstand hat, ist in der Beschwerdesache nicht unmittelbar präjudiziell – Kundmachung und Inkrafttreten einer auf Grundlage des § 37 des Sicherheitspolizeigesetzes zu erlassen Verordnung ist bereits gesetzlich in § 37 Abs. 1 letzter Satz in Verbindung mit § 36 Abs. 4 des Sicherheitspolizeigesetzes geregelt. Auch § 5 der antragsgegenständlichen verschriftlichten Verordnung, welcher im Wesentlichen lediglich die Bestimmung des § 84 Abs. 1 Z 6 des Sicherheitspolizeigesetzes paraphrasiert, ist in der Beschwerdesache nicht unmittelbar präjudiziell.

Kern der antragsgegenständlichen und insoweit auch präjudiziellen verschriftlichten Verordnung ist im Wesentlichen die Anordnung in den §§ 2 und 3 in Verbindung mit der in § 1 zum Ausdruck gebrachten mangelnden Duldung des „Verfügungsberechtigten“. Diese Bestimmungen sind auch in der Beschwerdesache präjudiziell.

Würde sich jedoch der Anfechtungsumfang auf die in der Beschwerdesache unmittelbar präjudiziellen Bestimmungen beschränken, so würde der verbleibende Rest der antragsgegenständlichen Verordnung inhaltsleer und ohne eigenständigen normativen Anordnungsgehalt verbleiben.

Sollte der Verfassungsgerichtshof zur Ansicht gelangen, der mit Ersteventualantrag- bzw. jeweiligen Eventualanträgen abgegrenzte Anfechtungsumfang sei im Hinblick auf die beim Verwaltungsgericht Wien anhängige Beschwerdesache zu weit gefasst, werden die Zweit– bis Vierteventualanträge gestellt.

4. Sollte der Gerichtshof zum Ergebnis gelangen, dass sowohl die vor Ort an der D.-Wien verlesene und kundgemachte Verordnung als auch die in weiterer Folge verschriftlichte Fassung der vor Ort an der D. Wien verlesenen und kundgemachten Verordnung als im Sinne des § 37 Abs. 1 letzter Satz iVm § 36 Abs. 4 SPG kundgemacht gelten und beide normativen Anordnungscharakter haben bzw. Rechtsgrundlagen für die am 10.12.2019 ausgeübte unmittelbare verwaltungsbehördlichen Befehls- und Zwangsakte bilden, wird der Fünfteventualantrag gestellt.

V. Auswirkungen der beantragten Entscheidung

Der Feststellungsabspruch des Verfassungsgerichtshofes im beantragten Umfang hätte zur Folge, dass die Verordnung des Wiener Landespolizeipräsidenten in der Beschwerdesache nicht mehr anzuwenden wäre. Damit wäre diese Verordnung als Rechtsgrundlage für die von den Organen der belangten Behörde gegenüber der Beschwerdeführerin ausgeübten Befehls- und Zwangsakte gemäß Art. 139 Abs. 5 B-VG in der Beschwerdesache nicht mehr anzuwenden, was die Rechtswidrigkeit der gegenüber der Beschwerdeführerin verfügten Wegweisung nach sich zöge.

Schlagworte

Normprüfungsantrag; Verordnungsprüfung; Versammlung; Besetzung; Auflösung; gesetzliche Grundlage

Anmerkung

VfGH v. 9.3.2021, V 433/2020; VO war gesetzwidrig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2020:VGW.102.067.881.2020.25

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2021
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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