TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/27 I419 2229482-1

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Veröffentlicht am 27.04.2020
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Entscheidungsdatum

27.04.2020

Norm

AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs4 Z1
FPG §52 Abs4 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
IntG §9
NAG §11
NAG §24
NAG §41a
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I419 2229482-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX, geb. XXXX alias XXXX, StA. NIGERIA alias SUDAN, vertreten durch RA Mag. Andreas DUENSING sowie Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 05.02.2020, Zl. 180708108-191126497, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte ab 1997 unter verschiedenen Identitäten Asyl- und Asylfolgeanträge, die allesamt - teils nach Rechtsmittelverfahren - rechtskräftig ab- oder wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurden.

2. Das BFA hat dem Beschwerdeführer 2017 eine Duldungskarte ausgestellt, dann eine Aufenthaltsberechtigung plus bis 06.11.2018 erteilt, die BH XXXX am 07.11.2018 eine Rot-Weiß-Rot-Karte plus, wobei die Behörden jeweils als Staatsangehörigkeit Sudan angaben. Im noch unerledigten Verfahren über die Verlängerung seines Aufenthaltstitels legte er einen 2019 in XXXX ausgestellten nigerianischen Reisepass vor.

3. Mit dem nun bekämpften Bescheid hat das BFA dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel "aus berücksichtigungswürdigen Gründen" "gemäß § 57 AsylG" erteilt (Spruchpunkt I), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II) sowie festgestellt, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV).

4. In der Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer verfüge über einen Gewerbeschein und eine Werkstatt sowie entsprechendes Einkommen. Er habe zwar Österreich "immer wieder verlassen", sein "Hauptaufenthalt" sei aber in den letzten Jahren hier gewesen.

Wegen des lediglich ausgesetzten Verfahrens über seinen Antrag auf Verlängerung der Rot-Weiß-Rot-Karte sei sein Aufenthalt rechtmäßig, sodass eine Rückkehrentscheidung nicht hätte ergehen dürfen, was auch zutreffe, weil er über ein schützenswertes Privatleben in Österreich verfüge und sich "wenn auch mit Unterbrechungen" seit 1997 in Österreich befinde.

5. Mittels Beschwerdeergänzung wird ferner vorgebracht, der Beschwerdeführer habe noch nie in Nigeria gelebt, sodass er dort eine aussichtlose Situation zu erwarten habe. Er habe einvernommen "verdeutlicht", dass er mit der Familie Probleme habe, weshalb das BFA ermitteln hätte müssen, ob er im Fall der Rückkehr bei seiner Familie wohnen könne. Hätte das BFA weiter ermittelt, dann hätte der Beschwerdeführer "vorbringen können", dass er bei Rückkehr völlig auf sich allein gestellt und demnach in einer existenzbedrohenden Lage wäre. Es sei daher "sehr unwahrscheinlich", dass der Beschwerdeführer familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte habe, die ihn im Rückkehrfall unterstützen würden. Schließlich sei zu beachten, dass "die allgemeine Menschenrechtslage in Nigeria sehr schlecht" sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zunächst wird der unter Punkt I dargestellte Verfahrensgang festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1 Der Beschwerdeführer reiste 1997 erstmals illegal ein und stellte als seiner Angabe nach Staatsangehöriger Sudans einen Asylantrag, den das BAA abwies, was rechtskräftig wurde. Nach einer Dublin-Überstellung aus Deutschland 1999 stellte er unter Angabe nigerianischer Staatsangehörigkeit, eines Aliasnamens sowie eines falschen Geburtsjahres einen Folgeantrag, zu dem er angab, nicht nach Nigeria zurück zu können, weil er Stimmen höre, denen zufolge er dann stürbe. Das BAA wies den Antrag ab, was auch rechtskräftig wurde.

Die weiteren Folgeanträge stellte der Beschwerdeführer wieder als behaupteter Sudanese. Einen von 2004 wies das BAA im selben Jahr wegen entschiedener Sache zurück, ein neuerlicher von 2004 wurde als gegenstandslos erledigt. Zwei Wochen darauf stellte der Beschwerdeführer einen Folgeantrag, der 2005 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen wurde. Die Berufung dagegen hat der UBAS 2006 abgewiesen (201.864/2-V/15/05), die Behandlung einer Beschwerde dagegen 2007 der VwGH abgelehnt (2007/01/0322-3).

Einen fünften Folgeantrag von 2007 wies das BAA 2008 wegen entschiedener Sache zurück und den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet aus, die Beschwerde dagegen wies der AsylGH im selben Jahr zur Gänze ab (A8 201.864-2/2008/3E) und hielt fest, die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers habe nicht festgestellt werden können.

1.1.2 Der Beschwerdeführer hatte 2013/14 für 12 Monate eine Niederlassungsbewilligung "ausgenommen Erwerbstätigkeit" inne. Ein 2007 von der LPD XXXX wider ihn verhängtes Aufenthaltsverbot wurde 2016 auf seinen Antrag aufgehoben.

1.1.3 Der Beschwerdeführer ist volljährig, ledig, Christ und arbeitsfähig. Er ist gesund, hat keine Sorgepflichten und lebt alleine. Seine Identität steht fest. Er hat 2009 in XXXX den Hauptschulabschluss bestanden, im Gegenstand Deutsch mit der Beurteilung "gut" der dritten Leistungsgruppe. Bis Anfang 2018 lebte er von der Grundversorgung, seit Februar 2018 verdiente er seinen Unterhalt zunächst als Arbeiter als Zeitungszusteller auf Werkvertragsbasis. Dabei erzielte er von November 2019 bis Jänner 2020 monatlich steigende Erlöse von ? 1.161,95, ? 1.511,44 und ? 1.757,72, durchschnittlich also ? 1.336,85.

Er hat sich bei der ÖGK gemäß § 16 Abs. 1 ASVG in der Krankenversicherung bis 17.08.2020 selbst versichert.

1.1.4 Am 28.01.2020 hat ihm die BH XXXX gemäß § 26 Abs. 1 GewO 1994 Nachsicht vom in § 13 Abs. 1 lit. b GewO 1994 vorgesehenen Ausschluss von der Gewerbeausübung erteilt. Er beabsichtigt, einen Auto- und Altfahrzeughandel zu betreiben und hat dafür Gewerbeflächen und Stellplätze angemietet.

1.1.5 Der Beschwerdeführer wurde wie folgt rechtskräftig von Strafgerichten verurteilt:

Vom BG XXXX am 16.07.1998 wegen des Vergehens der Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagsätzen,

vom LGS XXXX am 07.12.1998 wegen des Vergehens nach § 27 SMG in der Begehungsform "gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande" zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 6 Monaten,

am 22.04.1999 wegen des Verbrechens nach § 28 Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten als Zusatzstrafe zur vorigen Verurteilung sowie

am 10.06.2002 wegen der Vergehen nach § 27 SMG in der Begehungsform "gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande" in Versuchs- und in vollendeter Form zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten,

vom BG XXXX am 14.05.2003 wegen des Vergehens der Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat, sowie

vom LGS XXXX 05.09.2006 wegen der Vergehen nach § 27 SMG in der Begehungsform "gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande", der schweren Körperverletzung, wobei es jeweils beim Versuch geblieben war, zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

1.1.6 Der Beschwerdeführer war in folgenden Zeiten inhaftiert: 12.05. bis 11.07.2002, 15.05. bis 10.12.2003, 02.03. bis 24.05.2004 sowie 27.02.2006 bis 28.08.2007. Dazwischen hatte er 2004 für zwei Wochen eine Anschrift als "Obdachlosenadresse" sowie vier Anmeldungen mit Hauptwohnsitz in Unterkünften karitativer Einrichtungen über insgesamt rund 22 Monate.

1.1.7 Von Herbst 2007 war er bis 2018 nacheinander in drei Unterkünften einer NGO in XXXX gemeldet und hat wiederholt das Bundesgebiet verlassen, wobei er sich 2014 in der Slowakischen Republik aufhielt und dort nach eigenen Angaben festgenommen wurde. Nach seinem Beschwerdevorbringen war er auch eine Zeit lang in der Ukraine und ist seit 2017 wieder durchgehend in Österreich. Seit April 2018 wohnt er in einer privat gemieteten Wohnung in einem Mehrparteienhaus im Burgenland.

1.2 Zum Vorbringen:

1.2.1 Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Nigeria. Es kann nicht festgestellt werden, ob er auch Staatsangehöriger eines anderen Staates ist.

1.2.2 In Österreich hat der Beschwerdeführer eine Vertrauensperson, dem Namen nach einheimisch und den Angaben nach sein Nachbar, die sich zu seinen Gunsten an das BFA gewendet hat (AS 89). Ein sonstiger Bekanntenkreis über die beruflichen und Alltagskontakte hinaus ist nicht feststellbar. Er hat zu Nigeria Anknüpfungspunkte, zu denen seine dort lebenden Familienangehörigen gehören. Es kann nicht festgestellt werden, ob und in welchen Abständen er Kontakte zu diesen pflegt. Es kann nicht festgestellt werden, wo der Beschwerdeführer geboren wurde und ob und wie lange er sich in Nigeria aufhielt.

1.2.3 Er ist ein erwachsener Mann mit Schulbildung, von dem die Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt und auch erwartet werden kann.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Akteninhalt des Verwaltungsaktes des BFA einschließlich der Beschwerde und der Beschwerdeergänzung sowie dem Erkenntnis des AsylGH vom 06.11.2008, A8 201.864-2/2008/3E. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

Aus dem Fehlen des seit 09.09.2019 anhängigen Verfahrens (AS 3) betreffend die Verlängerung des Aufenthaltstitels im Zentralen Fremdenregister ergibt sich übereinstimmend mit dem Beschwerdevorbringen, dass dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit sowie zu den Lebensumständen des Beschwerdeführers einschließlich Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben sowie die vorliegenden Urkunden, ansonsten auch auf die unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid.

Die Krankenversicherung ergab sich aus einer Abfrage der dortigen Datenbank, wo auch die derzeitige Versicherungszeit ersichtlich war.

2.3 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellung in 1.2.1 entspricht dem vorgelegten Reisepass, die Negativfeststellung der Anzeigebestätigung (AS 43), aus der folgt, dass der Inhalt der angeblichen sudanesischen Geburtsurkunde nicht bekannt ist, und damit auch nicht, ob sich eine Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers daraus ergibt.

Zu 1.2.2 ist auf die genannte Eingabe und die Einvernahme (AS 31 ff) zu verweisen, wo der Beschwerdeführer angab, sein Vater sei Nigerianer, seine Mutter aus dem Sudan. Im Sudan habe er keine Familienangehörigen oder Verwandten, ob er welche in Nigeria habe, wolle er nicht sagen. Er wolle auch weder sagen, wann er zuletzt mit jemandem aus Nigeria Kontakt gehabt oder ob er jemals dort gelebt habe.

Aus dem Alter des Beschwerdeführers lässt sich auf die Existenz von Sozialkontakten und Verwandtschaft schließen, die - wenn seinen Angaben nach nicht im Sudan - mit hoher Wahrscheinlichkeit in Nigeria zu finden sind. Er hat diese Verwandten auch nicht in Abrede gestellt, sondern beschwerdehalber vorgebracht, dass er Probleme mit der Familie habe, und "Anknüpfungspunkte", die ihn unterstützen würden, unwahrscheinlich seien.

Er hat auch widersprüchlich angegeben, wann er zuletzt eingereist ist, 2014 (AS 33) oder 2017 (AS 116). Diese - und auch die wegen Verweigerung fehlenden - Angaben führen mit dem Widerspruch zwischen 1999 und jetzt betreffend den Aufenthalt im Herkunftsstaat dazu, dass neben den getroffenen Feststellungen keine weiteren möglich waren, speziell betreffend die Zeit, die der Beschwerdeführer in Nigeria verbracht hat.

Die Feststellungen in 1.2.3 entsprechen den bereits vom AsylGH getroffenen und hatten angesichts des aktuellen Sachverhalts nicht geändert zu werden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) (Stattgebung der Beschwerde und Aufhebung des Bescheids):

3.1 Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels (Spruchpunkt I)

Im Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheids sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel "aus berücksichtigungswürdigen Gründen" "gemäß § 57 AsylG" nicht erteilt werde. Damit war offensichtlich das in § 57 AsylG 2005 beschriebene Rechtsinstitut "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemeint (S. 10 des Bescheids, AS 78). Dem wäre durch die Richtigstellung des Spruchs Rechnung zu tragen, hätte dieser mit Ergehen der vorliegenden Entscheidung nicht gänzlich zu entfallen.

Das BFA hat in seiner rechtlichen Beurteilung ausgeführt, ein solcher Aufenthaltstitel nach § 57 sei von Amts wegen zu prüfen, wenn sich ein Fremder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte (und nicht dem 6. Hauptstück [Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung] unterliege). Dabei verkannte es, dass sich Fremde nach § 24 Abs. 1 NAG nach Stellung eines Verlängerungsantrages, unbeschadet der Bestimmungen des FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

Nach dem FPG hält sich ein Fremder (soweit für den vorliegenden Sachverhalt relevant) rechtswidrig auf, wenn er geduldet ist (§ 31 Abs. 1a Z. 3 FPG). Dies ist beim Beschwerdeführer nicht mehr der Fall, seit ihm die "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" erteilt wurde. Da somit auch aus dem FPG keine Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers folgt, war die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 nicht von Amts wegen zu prüfen. Der Spruchpunkt kann damit keinen Bestand haben und war aufzuheben.

3.2 Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II):

3.2.1 Nach § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG ist, wie das BFA weiter ausführt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ein Drittstaatsangehöriger sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (der weitere Verweis auf § 10 AsylG 2005 ist schon deshalb verfehlt, weil keine Entscheidung nach diesem Gesetz vorliegt).

Wie gezeigt, fehlt es einer Rückkehrentscheidung nach dieser Bestimmung fallbezogen an der Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers.

3.2.2 Das BFA hat freilich im Spruchpunkt II abweichend von seiner Begründung § 52 Abs. 4 FPG zitiert. Nach dieser Bestimmung hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der einer Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre (Z. 1), ihm ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot-Karte" oder "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist (Z. 2), oder er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre niedergelassen ist und während eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist (Z. 3), sowie wenn der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht (Z. 4).

3.2.3 Die Anwendung von Z. 1a wäre an einen Einreisetitel oder eine visumfreie Einreise geknüpft, was fallbezogen nicht vorliegt. Eine Tatbestandsmäßigkeit nach Z. 5 (nicht rechtzeitige Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung) scheidet aus, weil die erste "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" dem Beschwerdeführer vor weniger als zwei Jahren erteilt wurde (§ 9 Abs. 2 IntG).

Den Feststellungen zufolge ist der Beschwerdeführer auch der in Z. 2 f geforderten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Demgemäß sind nach § 52 Abs. 4 Z. 1 und 4 FPG noch mögliche Versagungsgründe (neue oder nachträglich hervorgekommene) zu prüfen.

3.2.4 In § 52 Abs. 4 Z. 1 und 4 FPG ist zunächst auf § 11 Abs. 1 NAG verwiesen, wonach einem Fremden Aufenthaltstitel nicht erteilt werden dürfen, wenn (Z. 1) gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß § 53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG oder (Z. 2) eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht, eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind (...) (Z. 3), eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (Z. 4) oder (Z. 5) eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 vorliegt, oder er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde (Z. 6).

3.2.5 Aus dem Sachverhalt ergibt sich nichts dergleichen, und auch das BFA hat keinen dieser Gründe in seinem Bescheid angeführt. Das BFA erwähnt darin vielmehr (S. 8 f, AS 76 f), die BH werde den Verlängerungsantrag des Beschwerdeführers abweisen, "da der Verdacht besteht der Verschleierung Ihrer tatsächlichen Identität", und führt auf der folgenden Seite des Bescheids abweichend aus: "Ihre Identität steht aufgrund des vorliegenden nigerianischen Reisepass fest." Letzteres stimmt mit der Feststellung überein: "Ihre Identität konnte mittels des Identitätsdokuments (nigerianischer Reisepass) festgestellt werden." (S. 7, AS 75)

3.2.6 Nach § 11 Abs. 2 NAG dürfen Aufenthaltstitel einem Fremden nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet (Z. 1) und zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte (Z. 4), er einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird (Z. 2), über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und die Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist (Z. 3), durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen Österreichs zu einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden (Z. 5), und der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§ 24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, rechtzeitig erfüllt hat (Z. 6). Da Z. 7 unternehmensintern transferierte Arbeitnehmer ("ICT") und Drittstaatsangehörige mit einem Aufenthaltstitel "ICT" eines anderen Mitgliedstaates, betrifft, ist sie hier nicht von Belang.

Betreffend die Z. 6 (Integrationsvereinbarung) ergibt sich das Nichtzutreffen aus den Ausführungen oben in 3.2.3. Zu den Z. 2 bis 5 sind keine Änderungen oder Umstände ersichtlich, die seit dem ersten Erteilen der Rot-Weiß-Rot-Karte plus eingetreten oder damals dem BFA nicht bekannt gewesen wären. Derartiges wurde auch nicht behauptet.

3.2.7 Demnach verbleibt nur § 11 Abs. 2 Z. 1 NAG als zu prüfende mögliche Grundlage einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 Z. 1 oder Z. 4 FPG. Soweit das BFA im Bescheid (S. 4, AS 72) aus der Niederschrift mit dem Beschwerdeführer zitiert (AS 31), bezieht sich der in der Einvernahme gemachte Vorhalt anscheinend darauf, dass die seinerzeitige Duldung nach Ansicht des BFA unterblieben wäre, wäre die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers bereits festgestanden: "Sie legten (...) einen (...) nigerianischen Reisepass der BH (...) vor (...). Es besteht daher der Verdacht der Verschleierung ihrer Identität bzw. Staatsangehörigkeit." Dafür spricht auch die (in der Beweiswürdigung, S. 9, AS 77) gewählte Formulierung: "Es wurde Ihnen aufgrund ihrer damaligen Identität Sudan ein Aufenthaltstitel (...) ausgestellt" mit dem Zusatz, dass dieser "nicht verlängert wurde", da sich der Beschwerdeführer mit einem Reisepass Nigerias ausgewiesen habe.

3.2.8 Diese Duldung betreffend ist zu beachten, dass das BFA sie bereits 2017 mit der Aufenthaltsberechtigung plus beendete, die es dem Beschwerdeführer gemäß § 55 AsylG 2005 erteilte. Voraussetzung dafür war, dass die Erteilung gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten war (§ 55 Abs. 1 AsylG 2005). An deren Stelle ist im Folgejahr nach § 41a Abs. 9 NAG die Rot-Weiß-Rot-Karte plus der BH getreten.

Es kann damit dahinstehen, ob die seinerzeitige Duldung des Beschwerdeführers geendet hätte, wenn die Ausstellung des Reisepasses bereits damals erfolgt wäre. Ob ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK in einem solchen Fall (also nach Einbeziehung eines weiteren Drittstaats in die Erwägungen) dennoch zu erteilen gewesen wäre, kann nach Erteilung der Rot-Weiß-Rot-Karte plus auch offenbleiben, da Letztere bereits deshalb zu erteilen war, weil der Beschwerdeführer 12 Monate lang die "Aufenthaltsberechtigung plus" innehatte, deren Voraussetzungen die BH nicht zu beurteilen hatte.

3.2.9 Wenngleich das BFA sich damit nicht explizit befasst hat, bleibt freilich zu prüfen, ob sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers wegen dessen Verhaltens öffentlichen Interessen widerstreitet (§ 11 Abs. 2 Z. 1 NAG).

Aus dem vom BFA festgestellten "Verdacht der Verschleierung" der Staatsangehörigkeit lässt sich diese Schlussfolgerung schon deshalb nicht ableiten, weil - gegeben Falls - ein solcher Verdacht für sich allein keine Feststellung von Eigenschaften wie z. B. Gefährlichkeit des Beschwerdeführers beinhaltete oder induzierte. Zudem trat dieser im Lauf der Zeit sowohl als nigerianischer als auch als sudanesischer Staatsangehöriger auf, und nach seinen Angaben in der Einvernahme, Vater Nigerianer, Mutter Sudanesin, wären beide Nationalitäten möglich.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt eines Fremden nach § 11 Abs. 4 NAG dann öffentlichen Interessen widerstreitet, wenn dieser Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde (Z. 1) oder der Fremde (Z. 2) ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat (und weitere Voraussetzungen zusätzlich vorliegen). Auf das Vorliegen der Umstände nach Z. 2 deutet nichts hin.

3.2.10 Wie der VwGH in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist bei der Auslegung des § 11 Abs. 4 Z. 1 NAG eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten. In deren Rahmen ist das Verwaltungsgericht berechtigt, alle den Fremden betreffenden relevanten Umstände zu berücksichtigen, aber auch verpflichtet, diese einer auf ihn bezogenen Bewertung zu unterziehen. (14.11.2019, Ro 2019/22/0004 mwN)

Im Hinblick auf vergangenes Fehlverhalten - fallbezogen die unrichtigen Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Person in den Asylverfahren sowie die bis 2006 begangenen Strafdelikte - verlangt die Rechtsprechung eine nachvollziehbare Darlegung (Gefährdungsprognose), inwiefern diesem Verhalten maßgebliche Bedeutung zukommt und der künftige Aufenthalt in Österreich nach Erteilung des beantragten Titels die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z. 1 NAG gefährden würde. (Vgl. VwGH 08.10.2019, Ra 2019/22/0012)

Nach der aus den Feststellungen ersichtlichen Lebensweise des Beschwerdeführers ist ebenso wenig wie aus dem Bescheid ersichtlich, worin eine künftige Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit durch den fortgesetzten Aufenthalt des Beschwerdeführers bestehen sollte. Dieser hat seit mehr als einem Jahrzehnt keine Straftaten mehr begangen und den Pflichtschulabschluss nachgeholt. Er erhält sich selbst und beabsichtigt, einen Gewerbebetrieb zu eröffnen. Eine Gefährdungsprognose des Inhalts, sein künftiger Aufenthalt würde die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden, kann auf Basis des festgestellten Sachverhalts nicht getroffen werden.

3.2.11 Aus all dem folgt, dass mangels einer Rechtsgrundlage für die Rückkehrentscheidung - sei es nach § 52 Abs. 4 FPG wie im Spruch des bekämpften Bescheids, sei es nach § 52 Abs. 1 FPG wie in dessen Begründung - dieser Spruchpunkt II aufzuheben ist.

3.3 Zur Zulässigkeit der Abschiebung und zur Ausreisefrist (Spruchpunkte III und IV):

Die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers und die Festlegung der Frist für dessen freiwillige Ausreise beruhen auf der - wie eben dargelegt - aufzuhebenden Rückkehrentscheidung. Demgemäß entbehren mit dem Entfall des Spruchpunkts II auch die Spruchpunkte III und IV einer Rechtsgrundlage und sind daher ebenfalls ersatzlos zu beheben.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung zur Gefährdungsprognose nach § 11 Abs. 2 Z. 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG.

Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage(n) kamen nicht hervor.

4. Zum Unterbleiben einer Verhandlung:

Da auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z. 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entfallen.

Das Gericht musste sich auch keinen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer verschaffen, da es sich um einen eindeutigen Fall in dem Sinne handelt, dass auch bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn der persönliche Eindruck ein positiver ist (vgl. VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0422 mwN).

Schlagworte

Abschiebung Aufenthalt im Bundesgebiet Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltstitel Behebung der Entscheidung berücksichtigungswürdige Gründe Duldung ersatzlose Behebung freiwillige Ausreise Frist Gefährdung der Sicherheit Gefährdungsprognose Kassation rechtmäßiger Aufenthalt Rot-Weiß-Rot-Karte plus Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I419.2229482.1.00

Im RIS seit

31.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

31.07.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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