TE Vfgh Erkenntnis 2020/7/14 V411/2020 (V411/2020-17)

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Veröffentlicht am 14.07.2020
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
B-VG Art139 Abs4
COVID-19-MaßnahmenG §1
COVID-19-MaßnahmenV BGBl II 96/2020 idF BGBl II 151/2020 §2
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Keine Bedenken gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf Art18 Abs2 B VG; hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für die Festlegung von Betretungsverboten für Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19; Feststellung der maßgebenden Umstände durch den zuständigen BM bei Erlassung des Betretungsverbots; Gesetzwidrigkeit des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung betreffend das Betretungsverbot für bestimmte Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen, deren Kundenbereich 400 m2 übersteigt; Entscheidung des zuständigen BM aus Verordnungsakt nicht nachvollziehbar; Ungleichbehandlung von Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren 400 m² übersteigt, und insbesondere Bau- und Gartenmärkten sachlich nicht gerechtfertigt; Zulässigkeit des Individualantrags trotz Außerkrafttretens der angefochtenen Bestimmung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH

Spruch

I. 1. Die Wortfolge ", wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt" sowie der vierte Satz – "Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben." – in §2 Abs4 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II Nr 96/2020, idF BGBl II Nr 151/2020 waren gesetzwidrig.

2. Die als gesetzwidrig festgestellten Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden.

3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

4. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

II. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, der antragstellenden Partei zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Gestützt auf Art139 Abs1 Z3 B-VG begehrt die antragstellende Partei, die Wortfolge ", wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt" sowie die Sätze "Sind sonstige Betriebsstätten baulich verbunden (z. B. Einkaufszentren), ist der Kundenbereich der Betriebsstätten zusammenzuzählen, wenn der Kundenbereich über das Verbindungsbauwerk betreten wird. Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben." in §2 Abs4 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020, idF BGBl II 151/2020 als gesetzwidrig aufzuheben. Weiters stellt die antragstellende Partei zwei Eventualanträge.

II. Rechtslage

Die Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (im Folgenden: COVID-19-Maßnahmenverordnung-96), BGBl II 96/2020, idF BGBl II 151/2020 lautete (die angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"§1. Das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeit- und Sportbetrieben zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder der Benützung von Freizeit- und Sportbetrieben ist untersagt.

§2. (1) §1 gilt nicht für folgende Bereiche:

1. öffentliche Apotheken

2. Lebensmittelhandel (einschließlich Verkaufsstellen von Lebensmittelproduzenten) und bäuerlichen Direktvermarktern

3.. Drogerien und Drogeriemärkte

4. Verkauf von Medizinprodukten und Sanitärartikeln, Heilbehelfen und Hilfsmitteln

5. Gesundheits- und Pflegedienstleistungen

6. Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen die von den Ländern im Rahmen der Behindertenhilfe–, Sozialhilfe–, Teilhabe– bzw Chancengleichheitsgesetze erbracht werden

7. veterinärmedizinische Dienstleistungen

8. Verkauf von Tierfutter

9. Verkauf und Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten

10. Notfall-Dienstleistungen

11. Agrarhandel einschließlich Schlachttierversteigerungen sowie der Gartenbaubetrieb und der Landesproduktenhandel mit Saatgut, Futter und Düngemittel

12. Tankstellen und angeschlossene Waschstraßen

13. Banken

14. Postdiensteanbieter einschließlich deren Postpartner, soweit diese Postpartner unter die Ausnahmen des §2 fallen sowie Postgeschäftsstellen iSd §3 Z7 PMG, welche von einer Gemeinde betrieben werden oder in Gemeinden liegen, in denen die Versorgung durch keine andere unter §2 fallende Postgeschäftsstelle erfolgen kann, jedoch ausschließlich für die Erbringung von Postdienstleistungen und die unter §2 erlaubten Tätigkeiten, und Telekommunikation.

15. Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Rechtspflege

16. Lieferdienste

17. Öffentlicher Verkehr

18. Tabakfachgeschäfte und Zeitungskioske

19. Hygiene und Reinigungsdienstleistungen

20. Abfallentsorgungsbetriebe

21. KFZ- und Fahrradwerkstätten

22. Baustoff-, Eisen- und Holzhandel, Bau- und Gartenmärkte

23. Pfandleihanstalten und Handel mit Edelmetallen.

(2) Die Ausnahmen nach Abs1 Z3, 4, 8, 9, 11, 22 und 23 sowie Abs4 gelten an Werktagen von 07.40 Uhr bis längstens 19.00 Uhr. Restriktivere Öffnungszeitenregeln aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.

(3) Die Ausnahmen nach Abs1 Z2 gilt an Werktagen von 07.40 Uhr bis längstens 19.00 Uhr, sofern es sich nicht um eine Verkaufsstelle von Lebensmittelproduzenten handelt. Restriktivere Öffnungszeitenregeln aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.

(4) §1 gilt unbeschadet Abs1 nicht für den Kundenbereich von sonstigen Betriebsstätten des Handels, wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m² beträgt. Als sonstige Betriebsstätten des Handels sind Betriebstätten zu verstehen, die dem Verkauf, der Herstellung, der Reparatur oder der Bearbeitung von Waren dienen. Sind sonstige Betriebsstätten baulich verbunden (z. B. Einkaufszentren), ist der Kundenbereich der Betriebsstätten zusammenzuzählen, wenn der Kundenbereich über das Verbindungsbauwerk betreten wird. Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben.

(5) Abs1 gilt nur, wenn folgende Voraussetzungen eingehalten werden:

1. Mitarbeiter mit Kundenkontakt sowie Kunden eine den Mund- und Nasenbereich gut abdeckende mechanische Schutzvorrichtung als Barriere gegen Tröpfcheninfektion tragen; dies gilt nicht für Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr.

2. ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen eingehalten wird.

(6) Abs4 gilt nur, wenn zusätzlich zu den Voraussetzungen nach Abs5 der Betreiber durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m² der Gesamtverkaufsfläche zur Verfügung stehen; ist der Kundenbereich kleiner als 20 m², so darf jeweils nur ein Kunde die Betriebsstätte betreten.

(7) In den Bereichen nach Abs1 Z5 und 6 gelten

1. abweichend von Abs5 Z1 die einschlägigen berufs- und einrichtungsspezifischen Vorgaben und Empfehlungen, und

2. Abs5 Z2 und 3 nicht.

§3. (1) Das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe ist untersagt.

(2) Abs1 gilt nicht für Gastgewerbetriebe, welche innerhalb folgender Einrichtungen betrieben werden:

1. Kranken-und Kuranstalten;

2. Pflegeanstalten und Seniorenheime;

3. Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen einschließlich Schulen und Kindergärten;

4. Betrieben, wenn diese ausschließlich durch Betriebsangehörige genützt werden dürfen.

(3) Abs1 gilt nicht für Beherbergungsbetriebe, wenn in der Betriebsstätte Speisen und Getränke ausschließlich an Beherbergungsgäste verabreicht und ausgeschenkt werden.

(4) Abs1 gilt nicht für Campingplätze und öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn dort Speisen und Getränke ausschließlich an Gäste des Campingplatzes bzw öffentlicher Verkehrsmitteln verabreicht und ausgeschenkt werden.

(5) Abs1 gilt nicht für Lieferservice.

(6) Die Abholung vorbestellter Speisen ist zulässig, sofern diese nicht vor Ort konsumiert werden und sichergestellt ist, dass gegenüber anderen Personen dabei ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten wird.

§4. (1) Das Betreten von Beherbergungsbetrieben zum Zweck der Erholung und Freizeitgestaltung ist untersagt.

(2) Beherbergungsbetriebe sind Unterkunftsstätten, die unter der Leitung oder Aufsicht des Unterkunftgebers oder eines von diesem Beauftragten stehen und zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Unterbringung von Gästen zu vorübergehendem Aufenthalt bestimmt sind. Beaufsichtigte Camping- oder Wohnwagenplätze sowie Schutzhütten gelten als Beherbergungsbetriebe.

(3) Abs1 gilt nicht für Beherbergungen

1. von Personen, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bereits in Beherbergung befinden, für die im Vorfeld mit dem Beherbergungsbetrieb vereinbarte Dauer der Beherbergung,

2. zum Zweck der Betreuung und Hilfeleistung von unterstützungsbedürftigen Personen,

3. aus beruflichen Gründen oder

4. zur Stillung eines dringenden Wohnbedürfnisses.

§5. (1) Diese Verordnung tritt mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

(2) Die Änderungen dieser Verordnung durch die Verordnung BGBl II Nr 112/2020 treten mit dem der Kundmachung folgenden Tag in Kraft.

(3) §4 dieser Verordnung in der Fassung der Verordnung BGBl II Nr 130/2020 tritt mit Ablauf des 3. April 2020 in Kraft. Im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bestehende Verordnungen eines Landeshauptmannes oder einer Bezirksverwaltungsbehörde über Betretungsverbote von Beherbergungsbetrieben bleiben unberührt.

(4) Die §§1 bis 3 treten mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

(5) §4 tritt mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft.

(6) Die Änderungen dieser Verordnung durch die Verordnung BGBl II Nr 151/2020 treten mit Ablauf des 13. April 2020 in Kraft."

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Die antragstellende Partei führt in ihrem Antrag vom 29. April 2020 im Wesentlichen Folgendes aus:

1.1. Die antragstellende Partei betreibe ihren Handelsgeschäftszweig – Handel mit Waren aller Art, insbesondere Schuhhandel – an 49 Standorten in Österreich und sei seit dem 16. März 2020 von dem behördlich verordneten Betretungsverbot von Betriebsstätten des Handels gemäß §1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 aktuell und unmittelbar betroffen.

Die in §2 Abs1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 aufgelisteten Ausnahmen träfen auf die antragstellende Partei nicht zu. Auch nach der Bestimmung des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 könne die antragstellende Partei sämtliche Betriebsstätten nicht betreiben. Ihre Filialen seien auf Grund ihres Geschäftszweiges zwar als "sonstige Betriebsstätten des Handels" im Sinne des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 zu qualifizieren und würden daher grundsätzlich unter diese Ausnahmebestimmung fallen. Da aber sämtliche Betriebsstätten – an sich oder, weil sie in Einkaufszentren gelegen sind, durch die Zusammenrechnungsregel des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 – einen Kundenbereich von über 400 m2 aufwiesen und eine Reduktion auf eine Verkaufsfläche unter 400 m2, die an vielen Standorten faktisch möglich wäre, ohne hiedurch behördliche Auflagen zu unterlaufen, nach dieser Bestimmung bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereiches, wenn sie nach dem 7. April 2020 vorgenommen würde, außer Betracht zu bleiben habe, könne die antragstellende Partei gemäß §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 sämtliche Betriebsstätten derzeit nicht betreiben.

Durch die in §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 normierte Verkaufsflächenbeschränkung auf 400 m2 und die Unbeachtlichkeit von Reduktionen der Kundenbereiche auf eine zulässige Größe (also unter 400 m2) nach dem 7. April 2020 werde die unternehmerische Handlungsfreiheit der antragstellenden Partei massiv eingeschränkt und somit nachteilig, aktuell und unmittelbar in ihre subjektive Rechtssphäre eingegriffen. Ohne diese Bestimmung wäre es der antragstellenden Partei rechtlich und faktisch möglich, ihre betroffenen Standorte zu öffnen und wie gewohnt zu betreiben. Konkret werde durch die bekämpften Bestimmungen in die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Erwerbsbetätigung, Unversehrtheit des Eigentums und insbesondere Gleichheit vor dem Gesetz eingegriffen. Zudem stehe die angefochtene Regelung in Widerspruch zu ihrer gesetzlichen Grundlage bzw sei bei der Verordnungserlassung dem zugrunde liegenden (COVID-19-Maßnahmen-)Gesetz ein verfassungswidriger Inhalt unterstellt worden.

Ein zumutbarer anderer Weg, die Bedenken an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen, bestehe nicht. Die antragstellende Partei könnte allenfalls durch Wiederöffnung ihrer Betriebsstätten ein Verwaltungsstrafverfahren provozieren – mit Strafen in Höhe von bis zu € 30.000,– pro Verstoß (für jede einzelne Betretung in jeder einzelnen Filiale) –, was aber nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes keinen zumutbaren Weg, die Rechtswidrigkeit an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen, darstelle. Der Antrag der antragstellenden Partei sei daher zulässig.

1.2. Die angefochtenen Bestimmungen in §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 verstießen in ihren Wirkungen gegen das aus Art7 Abs1 B-VG abgeleitete Sachlichkeitsgebot und entfalteten damit aus nachstehenden Gründen gleichheitswidrige Rechtswirkungen für die antragstellende Partei.

Zum einen sei die Kundenbereichsbeschränkung auf eine Verkaufsfläche von maximal 400 m2 unverhältnismäßig. Schon aus dem Titel der in Rede stehenden Verordnung lasse sich entnehmen, dass die damit verordneten Maßnahmen die weitere Verbreitung von COVID-19 verhindern sollten. Gemäß §1 COVID-19-Maßnahmengesetz könne der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beim Auftreten von COVID-19 durch Verordnung ua das Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren untersagen, "soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich" sei. Sinn und Zweck dieser Vorschrift (COVID-19-Maßnahmengesetz) sei die Schaffung organisatorischer und rechtlicher Vorkehrungen zur Reduzierung des Infektionsrisikos.

Die mit §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 eingeführte Beschränkung der Ausnahme von der Öffnungsmöglichkeit von Betriebsstätten mit einem Kundenbereich von mehr als 400 m2 sei jedoch unsachlich, überschießend, unverhältnismäßig und im Ergebnis auch nicht erforderlich, den Zweck des Infektionsschutzes bzw der Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 zu erfüllen. Diesbezüglich seien nämlich bereits mit §2 Abs5 und 6 der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 ausreichende Schutzvorkehrungen zur Hintanhaltung des Infektionsrisikos bzw der Verbreitung von COVID-19 normiert (Mund- und Nasenschutzvorrichtung für Kunden und Mitarbeiter mit Kundenkontakt; Einhaltung eines Abstands von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen sowie zusätzlich die Sicherstellung, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m2 der Gesamtverkaufsfläche zur Verfügung stehen).

Insbesondere im Hinblick auf die "20 m2-Regelung" gemäß §2 Abs6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 sei nicht ersichtlich, weshalb die geltenden Vorgaben für geöffnete Betriebsstätten hinsichtlich des Kundenverkehrs nicht auch in großflächigen (also mit einem Kundenbereich über 400 m2) Betriebsstätten umsetzbar seien. Dazu komme, dass es bei Einhaltung der in §2 Abs6 normierten Schutzvorkehrungen gar keiner Verkaufsflächenreduzierung mehr bedürfe, um dem Normzweck – die Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 – zu entsprechen. Es mache bei Einhaltung dieser Schutzvorkehrungen diesbezüglich schlicht keinen Unterschied, ob Betriebsstätten einen Kundenbereich von unter oder über 400 m2 Fläche aufwiesen, solange sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m2 der Gesamtverkaufsfläche zur Verfügung stehen. Das geordnete Betreten und Verlassen der Geschäftsflächen wäre jedenfalls auch bei Kundenbereichen von mehr als 400 m2 Fläche organisatorisch zu gewährleisten, zumal pro 20 m2 Verkaufsfläche ohnedies nur ein weiterer Kunde zugelassen wäre. Vielmehr sei sogar davon auszugehen, dass die Umsetzung der in §2 Abs5 und 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 normierten Schutzvorkehrungen und physischen Distanzierung mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar noch einfacher und besser als in kleinen Betrieben realisierbar sei. So böten größere Betriebsstätten auf Grund ihres großzügigeren Raumangebotes von vornherein mehr Flexibilität bei der Geschäftsraumeinrichtung und mehr Ausweichmöglichkeiten für Kunden und Mitarbeiter. Weiters seien die Zugänge breiter und durchwegs mit automatischen Türen ausgestattet. Darüber hinaus seien in kleineren Betriebsstätten die Räume meist niedriger und wiesen dementsprechend weniger Luftvolumen und einen schlechteren Luftaustausch auf. Dazu komme, dass der Verordnungsgeber auch noch andere, weitaus weniger eingriffsintensive regulierende Einschränkungen (zB zeitliche Begrenzung der Öffnungszeiten) vornehmen hätte können, um die bestehende Ansteckungsgefahr entsprechend einzudämmen. Die angefochtene Verordnung gestatte es nicht einmal, vorbestellte Ware auszugeben. Es bestünden daher gelindere Mittel, um der Infektionsgefahr verlässlich und in gleicher Weise zu begegnen. Einer zusätzlichen Verkaufsflächenbeschränkung bedürfe es offenkundig nicht. Für die antragstellende Partei wäre es jedenfalls faktisch problemlos möglich, ihre Betriebsstätten unter Einhaltung der in §2 Abs5 und 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 normierten Schutzvorkehrungen, aber auch sämtlicher sonst bestehender öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen im Zusammenhang mit Fluchtwegen, Brandschutz und Sicherheit zu betreiben.

Jedenfalls sei eine Differenzierung nach der Verkaufsfläche nicht besser geeignet, den verfolgten Normzweck zu erreichen. Der Verordnungsgeber gehe offenbar davon aus, dass von großflächigen Betriebsstätten über 400 m2 ein höheres Infektionsrisiko für potentielle Kunden auf Grund einer möglicherweise vermuteten höheren Anziehungskraft ausgehe, wobei die diesbezüglichen Erwägungen des Verordnungsgebers nicht bekannt seien. Es liege dafür indes kein begründeter Anhaltspunkt vor. Im Gegenteil entstehe die befürchtete Infektionsgefahr wohl im gleichen (wenn nicht sogar größeren) Ausmaß dann, wenn eine Anziehungskraft von attraktiven und nah beieinanderliegenden zahlreichen "kleinen" Betriebsstätten des Einzelhandels insbesondere in Innenstadtlage ausgehe. Gerade bei diesen kleinen Betriebsstätten resultiere die Attraktivität gerade nicht aus der Verkaufsfläche, sondern aus dem jeweiligen Warenangebot.

Bei der verordneten Differenzierung anhand der Verkaufsfläche werde vom Verordnungsgeber schlicht übersehen, dass eine größere Verkaufsfläche auch durch das angebotene Warensortiment bestimmt werde. Solcherart seien etwa im Auto- und Möbelhandel sowie bei anderen Waren von erheblicher Größe großflächige Verkaufsstellen erforderlich, ohne dass von ihnen eine besondere Anziehungskraft auf eine Vielzahl potentieller Kunden ausgehe.

Umgekehrt bestehe auch kein sachlicher Grund, weshalb etwa Baumärkte, welche regelmäßig hohe (also weit über 400 m2) Verkaufsflächen aufwiesen und – wie auch medial wahrzunehmen gewesen sei – eine hohe Anziehungskraft auf potentielle Kunden ausübten, von dem behördlichen Verbot ausgenommen seien. Dass es sich bei der 400 m2-Grenze um keine aus Gründen des Gesundheitsschutzes erforderliche Maßnahme handle, sei bereits daran zu erkennen, dass diese Flächenbeschränkung weder für Supermärkte noch für Baumärkte gelte, obwohl diese Handelsbetriebe oftmals weit mehr Kunden anziehen würden. Als Zwischenergebnis sei festzuhalten, dass die Differenzierung anhand des Maßes der Verkaufsfläche gemäß §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 eine unverhältnismäßige und unsachliche Ungleichbehandlung darstelle.

Zum anderen sei die Unbeachtlichkeit einer vorgenommenen Verkaufsflächenreduktion auf unter 400 m2 unverhältnismäßig. Anders als etwa in Deutschland, wo eine Flächenreduktion erlaubt und beachtlich sei, sehe §2 Abs4 vierter Satz COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 vor, dass Veränderungen der Größe des Kundenbereiches, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen worden seien, bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereiches außer Betracht zu bleiben hätten. Auf Grund dieser Regelung werde der antragstellenden Partei die Möglichkeit genommen, durch Veränderungen der Kundenbereichsflächen die Öffnung ihrer Betriebsstätten zu bewirken und dergestalt ihre wirtschaftlichen Verluste infolge der behördlichen Betretungsverbote zu verringern.

Es sei kein öffentliches Interesse erkennbar, Inhaber größerer Betriebsstätten daran zu hindern, ihre Kundenflächen auf 400 m2 zu reduzieren. Im Gegenteil bestehe ein öffentliches Interesse daran, Kunden auf möglichst viele verschiedene Geschäfte mit jeweils reduzierter Kundenfrequenz zu verteilen. Wäre es zulässig, auch größere Betriebe mit reduziertem Kundenbereich wieder zu öffnen, stünden den Kunden insgesamt mehr Optionen zur Verfügung. Menschenansammlungen wartender Kunden vor kleinen Geschäften könnten vermieden werden.

Selbst unter der Annahme, dass eine Verkaufsflächenbeschränkung aus gesundheitspolitischen Erwägungen geeignet wäre, den verfolgten Normzweck zu erreichen, sei diese Regelung dennoch unverhältnismäßig und stelle eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar. Es könne zur Zielerreichung des Normzwecks schlicht keinen Unterschied machen, ob eine Betriebsstätte mit einer originären Verkaufsfläche von unter 400 m2 vorliege oder durch Reduktion der Verkaufsfläche entsprechend verkleinert werde.

Die antragstellende Partei sei jedenfalls in der Lage gewesen, beginnend mit 14. April 2020 hinsichtlich sämtlicher Betriebsstätten eine bauliche Reduktion der Verkaufsflächen auf ein zulässiges Ausmaß unter 400 m2 unter Einhaltung sämtlicher sonst bestehender öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen zu bewerkstelligen. Die Öffnung der Betriebsstätten wäre außerdem unter Einhaltung der in §2 Abs5 und 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 normierten Schutzvorkehrungen erfolgt. Die antragstellende Partei hätte Securitypersonal organisiert, um die Einhaltung der bestehenden Abstands- und Kundenanzahlbeschränkungen zu überwachen und sicherzustellen. Die antragstellende Partei hätte weiters insbesondere hinsichtlich größerer Filialen eigene Verkaufskonzepte erstellt und für den Zeitraum der aufrechten Beschränkungen vorrangig Saisonware angeboten. Im Ergebnis bleibe festzuhalten, dass auch die Unbeachtlichkeit einer vorgenommenen Verkaufsflächenreduktion auf unter 400 m2 gemäß §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 eine unverhältnismäßige und unsachliche Ungleichbehandlung darstelle. Die angefochtenen Bestimmungen verstießen somit gegen das aus Art7 B-VG abgeleitete Sachlichkeitsgebot.

Die Bestimmung des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 verletze auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Grundrecht der Erwerbsfreiheit gemäß Art6 StGG. Bei der Untersagung des Betriebs von Betriebsstätten des Handels, die 400 m2 Verkaufsfläche überschritten, handle es sich um einen massiven und unverhältnismäßigen Eingriff in die wirtschaftliche Dispositionsfähigkeit der antragstellenden Partei, da diese hinsichtlich ihrer Betriebsführung vollständig eingeschränkt werde. Wie bereits dargestellt, sei die Differenzierung zwischen Verkaufsstellen des Einzelhandels mit einer Verkaufsfläche bis 400 m2, die öffnen dürften, und größeren Betriebsstätten nicht geeignet und auch nicht erforderlich, die verfolgten Normzwecke umzusetzen. Die mit §2 Abs5 und 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 normierten Schutzvorkehrungen würden völlig ausreichen.

Die Bestimmung des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 verletze darüber hinaus auch den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Eigentumsschutz gemäß Art5 StGG und Art1 1. ZPEMRK. Die von der antragstellenden Partei erlittenen Umsatzeinbußen in Höhe von 100 Prozent (im Zeitraum des und) auf Grund des behördlich verordneten Betretungsverbotes von Betriebsstätten des Handels seien zweifelsohne vom Schutzbereich des Grundrechtes auf Eigentum erfasst. Wie bereits dargestellt, bestehe kein sachlicher Grund, weshalb mit den in §2 Abs5 und 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 enthaltenen Schutzmechanismen aus gesundheitspolitischen Gründen nicht das Auslangen gefunden werden könne. Die Differenzierung zwischen Betriebsstätten mit einem Kundenbereich bis 400 m2, die öffnen dürften, und größeren Betriebsstätten, welchen die Möglichkeit der Reduktion ihrer Verkaufsflächen versagt bleibe, sei jedenfalls als unverhältnismäßig zu betrachten und sei daher auch nicht erforderlich, um die verfolgten Normzwecke umzusetzen.

Zudem widersprächen die angefochtenen Bestimmungen ihrer gesetzlichen Grundlage. Der Verordnungsgeber habe bei der Verordnungserlassung dem den angefochtenen Bestimmungen zugrunde liegenden COVID-19-Maßnahmengesetz auch einen verfassungswidrigen, weil gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt. §1 COVID-19-Maßnahmengesetz bezwecke die Schaffung organisatorischer und rechtlicher Vorkehrungen zur Reduzierung des Infektionsrisikos. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Grundlage hätte die Bestimmung des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 aber nicht so erlassen werden dürfen. Der Verordnungsgeber habe das ihm zustehende Verordnungsermessen mit Blick auf die von ihm getroffene Differenzierung zwischen Betriebsstätten mit einer Verkaufsfläche bis 400 m2, die öffnen dürften, und größeren Betriebsstätten, denen die Möglichkeit einer entsprechenden Flächenreduktion versagt bleibe, überschritten. Aus bereits genannten Gründen sei die Regelung unsachlich, überschießend, unverhältnismäßig und im Ergebnis schlicht nicht erforderlich, dem Zweck des Infektionsschutzes bzw der Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ausreichend zu dienen.

2. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (im Folgenden: BMSGPK) hat als verordnungserlassende Behörde die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der er, teilweise unter Bezugnahme auf seine in den zu den Zahlen V395/2020 und V408/2020 geführten Verordnungsprüfungsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof erstatteten Äußerungen, den Bedenken der antragstellenden Partei wie folgt entgegentritt:

2.1. Zur Zulässigkeit des Antrages führt der BMSGPK wie folgt aus (ohne Hervorhebungen im Original):

"[…] Zur aktuellen und unmittelbaren Betroffenheit:

[…] Gemäß Art139 Abs1 Z3 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Gesetzwidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, wenn die Verordnung ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung für die Antragslegitimation ist daher, dass die Verordnung in die Rechtssphäre der betroffenen Person unmittelbar eingreift und sie – im Fall ihrer Gesetzwidrigkeit – verletzt (ständige Rechtsprechung seit VfSlg 8058/1977). Hiebei hat der Verfassungsgerichtshof vom Antragsvorbringen auszugehen und lediglich zu prüfen, ob die vom Antragsteller ins Treffen geführten Wirkungen solche sind, wie sie Art139 Abs1 Z3 B-VG als Voraussetzung für die Antragslegitimation fordert (vgl zB VfSlg 8594/1979, 15.527/1999, 16.425/2002 und 16.426/2002).

[…] Es ist darüber hinaus erforderlich, dass die Verordnung selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz bzw die Verordnung selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des – behaupteterweise – rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg 11.868/1988, 15.632/1999, 16.616/2002, 16.891/2003; 19.894/2014).

[…] Die aktuelle Betroffenheit muss dabei sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung als auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vorliegen (statt vieler mwN VfSlg 14.712/1996; VfSlg 19.391/2011). Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs entfaltet eine im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs bereits außer Kraft getretene Norm für die Rechtssphäre des Antragstellers regelmäßig nicht mehr die eine Antragstellung rechtfertigende unmittelbare Wirkung (VfSlg 9868/1983, 11.365/1987, 12.182/1989, 12.413/1990, 12.999/1992, 14.033/1995, 15.116/1998, 16.224/2001; 17.266/2004). Mit dem Außer-Kraft-Treten ist das Ziel eines Verfahrens nach dem letzten Satz der ersten Absätze in Art139 und 140 B-VG, die rechtswidrige Norm ohne Verzug mit genereller Wirkung aus dem Rechtsbestand zu entfernen, fortgefallen (vgl nur VfGH V8/00, VfGH 5. 3. 2014, G20/2013, V11/2013; vgl auch VfSlg 16.618/2002, 17.400, 17653).

[…] Das Außer-Kraft-Treten schadet im Hinblick auf die Antragslegitimation nur dann nicht, wenn die angefochtene Bestimmung auch nach dem Außer-Kraft-Treten noch eine nachteilige rechtliche Wirkung für den Antragsteller hat (s nur VfSlg 12.227/1989, VfSlg 16.229/2001), wenn also der 'Rechtsfolgenbereich' über den zeitlichen 'Bedingungsbereich' hinausreicht (vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht10 Rz 1023 und 437). Diesfalls trifft den Antragsteller eine besondere Darlegungspflicht (vgl etwa VfSlg 15.116/1998, VfSlg 12.634/1991 und 11.365/1987).

[…] Die Verordnung BGBl II Nr 96/2020 ist mit 30. April 2020 außer Kraft getreten (§13 Abs2 Z1 Lockerungsverordnung, BGBl II Nr 197/2020). Nach diesem Zeitpunkt fortbestehende rechtliche Wirkungen der aufgehobenen Verordnung werden nicht behauptet und sind auch nicht ersichtlich. Mit Außer-Kraft-Treten der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 fielen die darin vorgesehenen Betretungsverbote weg.

[…] Nach Ansicht des BMSGPK ist der Antrag daher mangels unmittelbarer aktueller Betroffenheit zur Gänze zurückzuweisen."

2.2. In der Sache tritt der BMSGPK den Bedenken der antragstellenden Partei wie folgt entgegen (ohne Hervorhebungen im Original):

"[Anmerkung: Auszug aus Äußerung zu V408/2020] […] Zu den Bedenken hinsichtlich 'Flächenbegrenzung und Zonierungsverbot'

[…] Zu den Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz (Art2 StGG; Art7 B-VG):

[…]

Die Beschränkung des §2 Abs4 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 auf einen Kundenbereich im Inneren von maximal 400 m² ist vor dem Hintergrund der Entwicklungen der Rechtslage seit Erlassung der Stammfassung der Verordnung zu beurteilen: Aufgrund der epidemiologischen Situation und Risikobewertung […] war es zum Schutz der Gesundheit und des Lebens notwendig, flächendeckende Maßnahmen zur größtmöglichen Reduktion der sozialen Kontakte zu ergreifen. Vor diesem Hintergrund normierte die Verordnung BGBl II Nr 96/2020 weitreichende Betretungsverbote für Betriebsstätten von Waren- und Dienstleistungsunternehmen auf der Grundlage des §1 Covid-19-Maßnahmengesetz. Gemäß §2 Abs1 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 waren vom allgemeinen Betretungsverbot Bereiche ausgenommen, die der Aufrechterhaltung der Grundversorgung dienen.

[…] Die gewählte Regelungstechnik eines zeitlich befristeten, umfassenden Verbots mit Ausnahmen gewährleistete dabei unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit (vgl §1 Covid-19-Maßnahmengesetz: 'soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist') eine kontinuierliche Überprüfung der Erforderlichkeit der Maßnahmen unter Berücksichtigung der epidemiologischen Entwicklungen und etwaiger neuer Erkenntnisse über die Krankheit: So wurde die Verordnung BGBl II Nr 96/2020 zunächst mit einer Woche befristet (§4 Abs3), mit der Verordnung BGBl II Nr 110/2020 wurde die Geltungsdauer unter Berücksichtigung des weiteren Infektionsanstiegs bis 13. April 2020 verlängert. Mit BGBl II Nr 151/2020 wurde die Befristung bis 30. 4. 2020 verlängert, wobei erste Lockerungen der Betretungsverbote (im Sinne weiterer Ausnahmen) mit 14. 4. 2020 erfolgten. Die jeweiligen Maßnahmen erfolgten unter ständiger Beobachtung der epidemiologischen Situation und ermöglichten eine stets angemessene, schrittweise Reaktion auf die tatsächlichen Verhältnisse. So konnte eine stete Abwägung der Gefahren für Leben und Gesundheit mit den entgegenstehenden Grundrechtspositionen vorgenommen werden, entsprechende Einschränkungen konnten auf das unbedingt erforderliche Maß reduziert werden.

[…] Die Ausnahme des §2 Abs4 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 für sonstige (nicht im Sinne des §2 Abs1 der Befriedigung der Grundbedürfnisse bzw der für Verrichtungen des täglichen Lebens notwendigen) Betriebsstätten des Handels wurde mit BGBl II Nr 151/2020 geschaffen. Im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung BGBl II Nr 151/2020 erlaubte es die epidemiologische Situation noch nicht, alle Betriebsstätten des Einzelhandels gleichzeitig wieder für den Kundenverkehr zu öffnen: Mit Stand 9. 4. 2020 gab es in Österreich 13.138 bestätigte Fälle (gemäß Einlangedatum) und 262 Todesfälle (ohne bestätigte Fälle mit anderer Todesursache, gemäß Einlangedatum). Die Zuordnung der Todesfälle erfolgt nach dem Todesdatum; Todesfälle aus anderem Grund als SARS-CoV-2 werden exkludiert […].

Das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) unterstützt die EU-Mitgliedstaaten bei ihrer Risikoeinschätzung und damit einhergehenden Maßnahmenplanung. Österreich berücksichtigt Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und der ECDC bei der Weiterentwicklung der Strategie zur Krisenbewältigung. In die Risikobewertung des ECDC fließen verschiedene zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbare internationale Quellen mit ein; diese geben einen Überblick zum jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft hinsichtlich der Erforschung der Erkrankung als auch hinsichtlich der Optionen zur Maßnahmensetzung.

Es ist zu betonen, dass die Situation eine dynamische ist und diese auf nationaler und internationaler Ebene ständig neu bewertet werden muss. Als Grundlage für politische Entscheidungen zur Maßnahmensetzung fließen neben Empfehlungen der WHO, der ECDC die Einschätzungen und Erkenntnisse der nationalen Expertinnen und Experten sowie die jeweils aktuelle Datenlage und Prognosen mit ein.

In der Risikobewertung des ECDC vom 8. 4. 2020 […] werden Fieber, Husten, Halsweh Abgeschlagenheit als häufigste Symptome genannt. Darüber hinaus mehrten sich weiterhin die Berichte über asymptomatische Fälle. Erste Schätzungen zur Schwere der Erkrankungen basierend auf damals vorhandenen epidemiologischen Daten aus EU/EWR-Staaten und UK ergaben:

•  32 % aller Fälle wurden hospitalisiert (Daten von 26 Ländern)

•  2,4 % aller Fälle verliefen kritisch (Daten von 16 Ländern)

•  11 % der hospitalisierten Fälle (Daten von 21 Ländern) verliefen tödlich

•  Die vorhandenen Daten zeigten ein erhöhtes Risiko der Hospitalisierung für über Sechzigjährige.

•  Die Anzahl der Todesfälle bei der Altersgruppe 65-79 Jahre lag bei 44 % und bei der Altersgruppe ab 80 bei 46 %.

Die ECDC Risikobewertung vom 8. 4. 2020 ergab folgende Ergebnisse:

•  Das Risiko einer schweren Erkrankung im Zusammenhang mit einer
COVID-19-Infektion für Menschen in der EU / im EWR und im Vereinigten Königreich wurde für die allgemeine Bevölkerung als moderat und für ältere Erwachsene und Personen mit definierten Risikofaktoren (Bluthochdruck, Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, chronische respiratorische Erkrankungen, Übergewicht) als sehr hoch angesehen.

•  Das Risiko des zunehmenden Auftretens einer 'Community Transmission' von COVID-19 in der EU/EWR und UK wurde mit gesetzten Eindämmungsmaßnahmen als moderat, jedoch ohne Implementierung von Eindämmungsmaßnahmen als sehr hoch angesehen.

•  Das Risiko einer Überlastung der Gesundheits- und Sozialsysteme in der EU/EWR und UK wurde mit gesetzten Eindämmungsmaßnahmen als hoch und ohne ausreichende Implementierung von Eindämmungsmaßnahmen als sehr hoch angesehen.

Die Implementierung von strengen Maßnahmen konnte in mehreren Ländern (darunter auch Österreich) beobachtet werden, was zu einer wesentlichen Reduktion der Transmission von Covid-19 geführt hat. In der damaligen Situation sollte weiterhin ein starker Fokus auf konsequentes Testen, Überwachungsstrategien (inkl. Kontaktpersonennachverfolgung), allgemeine Maßnahmen in der Bevölkerung (physical distancing), Stärkung des Gesundheitssystemes und Information der Öffentlichkeit sowie des Gesundheitspersonales gesetzt werden.

Des Weiteren wurde festgehalten, dass solch strenge Maßnahmen gravierende gesellschaftliche Auswirkungen (ökonomisch und sozial) mit sich bringen. Laut dem Rapid Risk Assessment vom 8. 4. 2020 hätte eine frühzeitige Lockerung der Maßnahmen eine anhaltende Übertragung zur Folge gehabt. Bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs sind gewisse Maßnahmen im Bereich physical distancing für mehrere Monate notwendig, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Etwaige Lockerungen müssten behutsam und evidenzbasiert geplant werden. Die Lockerung aller Maßnahmen wurde zum damaligen Zeitpunkt als zu früh eingestuft.

[…] Angesichts der weiterbestehenden Gefährdungslage galt es, die sozialen Kontakte zum Schutz der Gesundheit einerseits nach wie vor möglichst niedrig zu halten, andererseits einen Ausgleich mit den entgegenstehenden Grundrechten insbesondere der Erwerbsfreiheit zu schaffen.

[…] Bei der Verfolgung seiner Ziele kommt dem Normsetzer ein rechtspolitischer Spielraum zu. Im Rahmen der Verfolgung des Ziels der Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 liegt es insbesondere bei der schrittweisen 'Lockerung' der Betretungsverbote im Wertungsspielraum des Verordnungsgebers, ob entsprechende Beschränkungen in kürzeren Zeitintervallen, aber dafür in kleinerem Ausmaß oder in längeren Zeitabständen, aber dafür in größerem Ausmaß zurückgenommen werden. Mit den Novellen zur Verordnung wurden (im Vergleich etwa mit Deutschland) Lockerung in kleineren, dafür aber häufigeren Schritten gesetzt: So wurde die Ausnahme vom Betretungsverbot gemäß §2 Abs4 mit 14. 4. 2020 normiert, also 29 Tage nach Inkrafttreten der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 am 16. 3. 2020, wobei die Verordnung insgesamt bis 30. 4. 2020 befristet war (alle übrigen Betriebsstätten des Handels durften mit 1. 5. 2020 wieder betreten werden).

[…] Vor dem Hintergrund der epidemiologischen Situation und Risikobewertung ist bei der Normierung schrittweiser Ausnahmen von den Betretungsverboten für sonstige, nicht in §2 Abs1 aufgezählte (versorgungskritische) Betriebsstätten des Handels das Abstellen auf die Größe des Kundenbereichs ein taugliches Differenzierungsmerkmal: Gemeinsam mit der erforderlichen Beschränkung auf 20 m² pro Kunde gewährleistet die Größenbeschränkung des §2 Abs4 der zitierten Verordnung im Hinblick auf das Ziel der Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 insgesamt eine vertretbare Kundenfrequenz.

[…] Die Festsetzung der Grenze von 400 m² liegt dabei im Wertungsspielraum des Verordnungsgebers (vgl wieder VfSlg 16.176/2001, 16.504/2002): Zur Gewährleistung einer vertretbaren Kundenfrequenz sollten zunächst Klein- und Kleinstbetriebe vom Betretungsverbot ausgenommen werden. Die Grenze von 400 m² findet sich etwa in §1 Abs1 Z13 der Verordnung des BMWFW über genehmigungsfreie Arten von Betriebsanlagen (2. Genehmigungsfreistellungsverordnung) auf der gesetzlichen Grundlage des §74 Abs7 GewO (Betriebsanlagen von einzelnen Gewerbetreibenden mit einer Betriebsfläche von bis zu 400 m2, die innerhalb einer rechtkräftig genehmigten Gesamtanlage gemäß §356e Abs1 GewO 1994 gelegen sind). Auch wenn die betriebsanlagenrechtlichen Bestimmungen andere Zwecke verfolgen als die seuchenrechtlichen Maßnahmen des Covid-19-Maßnahmengesetzes und der Verordnung BGBl II Nr 96/2020, sind sie tauglicher Orientierungspunkt für die gesetzgeberische Vorstellung von kleinen Handelsgeschäften (vgl AB 761 20. GP 8; AB 1149 BlgNR 21. GP 4). Mit dem Abstellen auf die Z13 (und nicht Z1) wurde die – aus epidemiologischer Sicht erforderliche – Gleichbehandlung von Betriebsstätten in verbundenen Bauwerken erzielt, die auch im Einklang mit der Kundenbereichsregelung in §2 Abs4 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 steht.

[…] Die Differenzierung nach der Größe ist ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels der weiteren Verhinderung der Verbreitung von Covid-19: Je größer diese Grenze vom Verordnungsgeber festgelegt wird, desto größer ist insgesamt die Zahl der sozialen Kontakte (nicht nur in oder vor der Betriebsstätte selbst, sondern insgesamt im öffentlichen Raum). Dabei steht weniger die Problematik des ausreichenden Abstands in der Betriebsstätte, sondern die damit bewirkte Erhöhung der Mobilität und damit der sozialen Kontakte insgesamt im Vordergrund. Damit wäre aber auch die von der Antragstellerin monierte Einhaltung der Hygienebestimmungen in der Betriebsstätte kein taugliches gelinderes Mittel zur Zielerreichung gewesen. Vor dem Hintergrund des gewichtigen öffentlichen Interesses des Gesundheitsschutzes und der engen zeitlichen Befristung (14. 4. bis 30. 4. 2020) wiegt im Ergebnis die Ungleichbehandlung der sonstigen Betriebsstätten des Handels untereinander im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung weniger schwer als das damit verfolgte Ziel des Gesundheitsschutzes.

[…] Auch dass bauliche Veränderungen nach dem 7. 4. 2020 nicht berücksichtigt wurden, ist sachlich gerechtfertigt: Größere Betriebsstätten ziehen mehr Kunden an als kleine; ihre Anziehungskraft verringert sich aber nicht dadurch, dass der Kundenbereich verkleinert wird: Eine solche Verkleinerungsmöglichkeit schafft für den Inhaber der Betriebsstätte zwei Möglichkeiten. Entweder er belässt sein Produktsortiment wie es ist und verkleinert nur den Kundenbereich (der restliche Bereich wäre dann zum Lagerraum umfunktioniert), oder er verkleinert sein Produktsortiment entsprechend.

Im ersten Fall kann eine derartige Verkleinerung zur unerwünschten Folge von Kundenstaus vor den Betriebsstätten und zu einer 'Nadelöhrsituation' an den Eingangsbereichen führen, die im diametralen Gegensatz zum verfolgten Ziel der Eindämmung der sozialen Kontakte steht. Im zweiten Fall ist zu bedenken, dass Kunden größere Betriebsstätten in Erwartung eines bestimmten Sortiments aufsuchen, dessen Bereitstellung bei Verkleinerung des Kundenbereichs nicht in seinem vollen Umfang gewährleistet werden kann. Auch die fehlende Vorhersehbarkeit des tatsächlich angebotenen Warenumfangs ist ein Faktor zur unnötigen Erhöhung der Kundenfrequenz, wenn die Erwartungen des Kunden an das Produktsortiment enttäuscht wird. Das Datum 7. 4. 2020 trägt dem Umstand Rechnung, dass die auf Kleinbetriebe abzielende Kundenbereichsbeschränkung von 400 m² nicht gezielt im Hinblick auf die Verordnung BGBl II Nr 151/2020 umgangen werden sollte.

[…] Aus diesen Gründen sind nach Ansicht des BMSGPK sowohl die Größenbeschränkung auf maximal 400 m² als auch die Nichtberücksichtigung baulicher Veränderungen nach dem 7. 4. 2020 in §2 Abs4 der Verordnung BGBl II Nr 96/2020 sachlich gerechtfertigt.

[…] Zu den Bedenken im Hinblick auf die Freiheit der Erwerbstätigkeit (Art6 StGG):

[…]

Bei den aus dem Betretungsverbot gemäß §1 der Verordnung BGBl Nr II 96/2020 resultierenden Beschränkungen handelt es sich um Erwerbsausübungsschranken, zumal die Antragstellerin nicht am Zugang zum Beruf gehindert wird. Der BMSGPK verkennt nicht das Gewicht der aus der fehlenden Möglichkeit des Vor-Ort-Verkaufs resultierenden Beschränkungen, dem steht jedoch das damit verfolgte gewichtige öffentliche Interesse des Gesundheitsschutzes gegenüber. Die Größenbeschränkung des §2 Abs4 der Verordnung BGBl 

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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