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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerordnungLeitsatz
Keine Bedenken gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf Art18 Abs2 B VG; hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für die Festlegung von Betretungsverboten für Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19; Feststellung der maßgebenden Umstände durch den zuständigen BM bei Erlassung des Betretungsverbots; Gesetzwidrigkeit des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung betreffend das Betretungsverbot für bestimmte Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen, deren Kundenbereich 400 m2 übersteigt; Entscheidung des zuständigen BM aus Verordnungsakt nicht nachvollziehbar; Ungleichbehandlung von Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren 400 m² übersteigt, und insbesondere Bau- und Gartenmärkten sachlich nicht gerechtfertigt; Zulässigkeit des Individualantrags trotz Außerkrafttretens der angefochtenen Bestimmung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGHRechtssatz
Gesetzwidrigkeit der Wortfolge ", wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt" sowie der vierte Satz - "Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben." - in §2 Abs4 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020 idF BGBl II 151/2020.
Zulässigkeit des Hauptantrags auf Aufhebung des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96, BGBl II 96/2020 idF BGBl II 151/2020 trotz Außerkrafttretens der angefochtenen Bestimmung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH.
Das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers reicht über den Zeitraum hinaus, in dem die angefochtene - strafbewehrte - Bestimmung in Kraft gestanden ist (vgl E v 14.07.2020, G202/2020 ua, V408/2020 ua, sowie E v 14.07.2020, V363/2020).
Keine Bedenken gegen §1 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf Art18 Abs2 B-VG:
Aus dem Regelungszusammenhang insbesondere mit §2 COVID-19-Maßnahmengesetz geht die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzgebers hervor, durch Betretungsverbote für Betriebsstätten die persönlichen Kontakte von Menschen einzudämmen, die damit verbunden sind, wenn Menschen die Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen aufsuchen. Damit gibt das Gesetz den Zweck der Betretungsverbote konkret vor. Weiters ordnet das Gesetz an, dass der Verordnungsgeber diese Betretungsverbote im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme nach Art und Ausmaß differenziert auszugestalten hat, je nachdem, inwieweit er es in einer Gesamtabwägung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für erforderlich hält, das Betreten von Betriebsstätten oder nur von bestimmten Betriebsstätten zu untersagen, oder deren Betreten unter bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu stellen. Damit überträgt der Gesetzgeber dem BMSGPK einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.
Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz vorgesehen und auch gefordert ist.
Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID-19-Maßnahmengesetz vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
Verstoß des §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gegen die Vorgaben des §1 COVID-19-Maßnahmengesetz:
Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur Änderung der
COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mit BGBl II 151/2020 dokumentiert sind, beschränken sich auf ein Papier zum "Weitere[n] Fahrplan Corona-Krise", das schlagwortartig eine Reihe zu treffender Maßnahmen aufzählt und dabei auch die hier in Rede stehenden Maßnahmen erwähnt. Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelungen betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus dem Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber insbesondere bei seiner Entscheidung hinsichtlich der 400 m2-Grenze oder der unterschiedlichen Voraussetzungen für das Betreten sonstiger Handelsstätten und der in §2 Abs1 Z22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 genannten Bereiche geleitet haben.
Die angefochtenen Regelungen in §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 verstoßen weiters deswegen gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil eine sachliche Rechtfertigung dafür fehlt, das Betretungsverbot für Betriebsstätten, deren Kundenbereich über 400 m2 beträgt, aufrechtzuerhalten, wenn gleichzeitig durch §2 Abs1 Z22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl II 151/2020 vergleichbare Betriebsstätten vom Betretungsverbot des §1 der Verordnung ausgenommen werden, und zwar noch dazu ohne die in §2 Abs6 der Verordnung genannten Maßnahmen zur Hintanhaltung persönlicher Kontakte der Kunden im Kundenbereich auch für diese Betriebsstätten vorzusehen:
Nach §2 Abs1 Z22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gilt das Betretungsverbot für den Kundenbereich von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen gemäß §1 der Verordnung nicht für die Bereiche der "Baustoff-, Eisen- und Holzhandel, Bau- und Gartenmärkte". Deren Betriebsstätten sind vom Betretungsverbot ausgenommen, ungeachtet der Größe ihres Kundenbereiches im Inneren und ohne dass der Betreiber - wie das nach §2 Abs6 der Verordnung für Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren maximal 400 m² beträgt, vorgesehen ist - durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen hätte, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 20 m² der Gesamtverkaufsfläche zur Verfügung stehen (wobei dann, wenn der Kundenbereich kleiner als 20 m² ist, jeweils nur ein Kunde die Betriebsstätte betreten dürfte).
Auch wenn es im Zuge einer schrittweisen Lockerung angesichts einer bestimmten Entwicklung der Verbreitung von COVID-19 mit §1 COVID-19-Maßnahmengesetz durchaus vereinbar sein mag, Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren über 400 m² beträgt, deswegen, anders als solche Betriebsstätten mit einem Kundenbereich unter 400 m², (noch) nicht vom Betretungsverbot auszunehmen, weil es auch auf das Verkehrsaufkommen durch Menschen ankommt, die derartige Betriebsstätten aufsuchen, so besteht doch keine sachliche Rechtfertigung dafür, diesen Aspekt für in dieser Hinsicht vergleichbare Betriebsstätten insbesondere von Bau- und Gartenmärkten außer Acht zu lassen und diese damit anders zu behandeln. Wenn der BMSGPK auf die Zulieferfunktion für das Baunebengewerbe und damit auf wesentliche Infrastrukturbereiche verweist, so ist ihm entgegenzuhalten, dass §2 Abs1 Z22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 selbst zwischen Baustoff-, Eisen- und Holzhandel und Baumärkten, die typischerweise vor allem auf Endverbraucher abzielen, differenziert. Der VfGH vermag auch nicht zu erkennen, dass etwa Gartenmärkte für Verrichtungen des täglichen Lebens eine vergleichbare Bedeutung hätten, wie sie, worauf der BMSGPK verweist, die in §2 Abs1 Z9 der Verordnung genannten Bereiche des Verkaufs und der Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten haben. Schließlich sind auch keine Umstände ersichtlich, dass - anders, als dies für zur Grundversorgung bzw für Verrichtungen des täglichen Lebens erforderliche Waren und Dienstleistungen etwa der Z2 (Lebensmittelhandel) und 3 (Drogerien und Drogeriemärkte) des §2 Abs1 der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 der Fall sein mag - für die in §2 Abs1 Z22 der Verordnung genannten Bau- und Gartenmärkte allenfalls angeordnete Betretungsbeschränkungen zur Sicherstellung eines Abstandsgebotes, wie sie §2 Abs6 der Verordnung vorsieht, in der Bevölkerung geradezu den gegenteiligen Effekt eines Kundenandranges auslösen würden.
Die angefochtenen Bestimmungen in §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 verstoßen gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil es erstens der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Die angefochtenen Regelungen verstoßen zweitens auch deswegen gegen §1 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil sie zwischen Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren über 400 m² beträgt, und insbesondere Bau- und Gartenmärkten im Sinne des §2 Abs1 Z22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 unsachlich differenzieren. Es ist daher festzustellen, dass die angefochtenen Bestimmungen in §2 Abs4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gesetzwidrig waren.
(Siehe auch V396/2020 ua E v 14.07.2020 sowie G 197/2020, V395/2020 E v 14.07.2020 mit Verweis auf G202/2020).
Entscheidungstexte
Schlagworte
COVID (Corona), Determinierungsgebot, Legalitätsprinzip, VfGH / Präjudizialität, Rückwirkung, VfGH / Weg zumutbarer, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:V411.2020Zuletzt aktualisiert am
25.08.2021