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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Keine Bedenken gegen § 2 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf Art18 Abs2 B VG und das Recht auf Freizügigkeit; hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für Eingriffe in das Recht auf Freizügigkeit durch Erlassung von Betretungsverboten für bestimmte Orte zum Schutz der Gesundheit und Gesundheitsinfrastruktur; Gesetzwidrigkeit der COVID-19-Maßnahmenverordnung BGBl II 98/2020; keine gesetzliche Grundlage für ein umfassendes Betretungsverbot für öffentliche Orte, das einem allgemeinen Ausgangsverbot gleichkommt; Zulässigkeit des Individualantrags trotz Außerkrafttretens der angefochtenen Bestimmung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGHRechtssatz
Gesetzwidrigkeit des §1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß §2 Z1 des COVID-19-MaßnahmenG, BGBl II 98/2020 (COVID-19-Maßnahmenverordnung-98), des §2 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 idF BGBl II 108/2020 sowie des §4 und §6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 idF BGBl II 107/2020.
Unzulässigkeit des Hauptantrags auf Aufhebung der COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 idF BGBl II 108/2020 mangels Darlegung der unmittelbaren Betroffenheit durch sämtliche Tatbestände der angefochtenen Verordnung, insbesondere auch jenen der §3 und §5 betreffend Kuranstalten, Rehabilitationseinrichtungen und Sportplätzen.
Zulässigkeit des Individualantrags trotz Außerkrafttretens der angefochtenen Bestimmung im Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH.
Das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers reicht über den Zeitraum hinaus, in dem die angefochtene - strafbewehrte - Bestimmung in Kraft gestanden ist (vgl E v 14.07.2020, G202/2020 ua, V408/2020 ua, sowie E v 14.07.2020, V 411/2020)
Keine Bedenken gegen §2 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf Art18 Abs2 B-VG:
Das COVID-19-MaßnahmenG ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf eine krisenhafte Situation durch das Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 und die dadurch ausgelöste Coronavirus-Krankheit COVID-19. Betretungsverbote nach §2 COVID-19-MaßnahmenG haben - gemeinsam mit einer Reihe weiterer staatlicher Maßnahmen in unterschiedlichen Rechtsformen und auf unterschiedlichen Ebenen - den Gesundheitsschutz durch Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur zum Ziel.
Nach Art18 Abs2 B-VG kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber Abwägungs- und Prognosespielräume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungsermächtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen. Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt. In diesem Zusammenhang hat der VfGH auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbehördlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist. Dabei hat der VfGH auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche - unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene - Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt.
Während die Betretungsverbote des §1 COVID-19-MaßnahmenG jene persönlichen Kontakte von Menschen vor Augen haben, die entstehen, wenn Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte aufgesucht werden, und damit jene Orte, an denen Menschen regelmäßig in größerer Zahl zusammentreffen, ergänzt §2 COVID-19-MaßnahmenG dies um eine Ermächtigung zur Erlassung von Betretungsverboten für jene "bestimmten Orte", an denen Menschen typischerweise miteinander auch sonst in persönlichen Kontakt treten. Das COVID-19-MaßnahmenG trägt mit §2 somit dem Umstand Rechnung, dass es neben den durch §1 erfassten Betriebsstätten und Arbeitsorten auch eine Reihe weiterer Orte gibt, an denen Menschen in größerer Anzahl zusammenkommen und von denen damit im Hinblick auf COVID-19 vergleichbare Gefahren der Ansteckung und damit der Verbreitung dieser Krankheit ausgehen. Damit gibt das Gesetz nicht nur den Zweck eines Betretungsverbotes nach §2 COVID-19-MaßnahmenG konkret vor, es enthält auch Anhaltspunkte dafür, was das Charakteristikum jener "bestimmten Orte" ist, für die der Verordnungsgeber entsprechende Betretungsverbote anordnen kann.
Die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID-19-MaßnahmenG ist damit von vornherein dahingehend begrenzt, dass mit der Ermächtigung, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, nur das Zusammentreffen von Menschen eben an bestimmten Orten unterbunden werden kann. §2 COVID-19-MaßnahmenG geht also vom Grundsatz der Freizügigkeit aus und ermächtigt den Verordnungsgeber dazu, diese Freizügigkeit durch Betretungsverbote bestimmter Orte einzuschränken, wobei das Gesetz auch deutlich macht, welche Merkmale diese Orte, deren Betreten der Verordnungsgeber zum Zweck der Verhinderung von COVID-19 untersagen kann, aufweisen müssen, nämlich, dass die Nutzung dieser Orte zum persönlichen Zusammentreffen mehrerer Menschen außerhalb der eigenen Wohnung führt.
Der Verordnungsgeber kann dabei die Orte, deren Betreten er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 untersagt, konkret oder abstrakt umschreiben, er kann für Außenstehende auch, wie die Erläuterungen deutlich machen, das Betreten regional begrenzter Gebiete wie Ortsgebiete oder Gemeinden untersagen; es ist ihm aber verwehrt, durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art8 EMRK) ein - wenn auch entsprechend der räumlichen Ausdehnung der Verordnung gemäß §2 Z2 oder 3 COVID-19-MaßnahmenG regional begrenztes - Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen. Damit ist die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID-19-MaßnahmenG dahingehend begrenzt, dass das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden darf, nicht aber, dass Menschen auf Grundlage des §2 COVID-19-MaßnahmenG dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben. §2 COVID-19-MaßnahmenG ermächtigt mithin zu auch durchaus weitreichenden Eingriffen in die Freizügigkeit der Menschen, keinesfalls aber zu Anordnungen, die als Eingriff in die persönliche Freiheit zu qualifizieren wären.
Weiters ordnet das Gesetz an, dass der Verordnungsgeber dieses Betretungsverbot im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme nach Art und Ausmaß differenziert auszugestalten hat, je nachdem, inwieweit er es in einer Gesamtabwägung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für erforderlich hält, das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen oder deren Betreten unter zeitliche Beschränkungen oder bestimmte Voraussetzungen oder Auflagen zu stellen. Damit überträgt der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der Menschen, die am Betreten bestimmter Orte gehindert oder dabei eingeschränkt werden, zu treffen hat. Diese Abwägung hat jedenfalls mit der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Freizügigkeit und weiteren allenfalls betroffenen Grundrechten zu erfolgen.
Dabei umfasst der Einschätzungs- und Prognosespielraum, den §2 COVID-19-MaßnahmenG dem Verordnungsgeber einräumt, insoweit auch die zeitliche Dimension, als ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §2 COVID-19-MaßnahmenG vorgesehen und auch gefordert ist.
Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §2 COVID-19-MaßnahmenG im Hinblick auf das Recht auf Freizügigkeit:
Nach Art4 Abs1 StGG unterliegt die Freizügigkeit der Person innerhalb des Staatsgebietes keiner Beschränkung. Dieses Grundrecht schützt davor, durch die Staatsgewalt daran gehindert zu werden, sich an einen bestimmten Ort oder in ein bestimmtes, räumlich begrenztes Gebiet zu begeben. Art2 Abs1 4. ZPEMRK garantiert jeder Person, die sich rechtmäßig in Österreich aufhält, das Recht, sich dort frei zu bewegen, somit die Möglichkeit, nach Belieben "zu kommen und zu gehen"
Die Freizügigkeit ist aber nicht schrankenlos gewährleistet. Nach dem materiellen Gesetzesvorbehalt des Art2 Abs3 4. ZPEMRK müssen Einschränkungen der Freizügigkeit gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft unter anderem im Interesse des Schutzes der Gesundheit notwendig sein. Einschränkungen der durch Art4 Abs1 StGG und Art2 Abs1 4. ZPEMRK gewährleisteten Freizügigkeit sind daher verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn sie gesetzlich zum Zwecke eines legitimen öffentlichen Interesses vorgesehen und zur Zielerreichung geeignet, erforderlich sowie verhältnismäßig im engeren Sinn sind.
Diesen Anforderungen wird die Verordnungsermächtigung des §2 COVID-19-MaßnahmenG gerecht. Die Betretungsverbote, zu denen die gesetzliche Bestimmung ermächtigt, dienen iSd Art2 Abs3 4. ZPEMRK dem Schutz der Gesundheit. Indem §2 COVID-19-MaßnahmenG dieses Ziel als auf die Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 gerichtet konkretisiert, macht die Bestimmung deutlich, dass Zweck der Maßnahme, das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, die Verhinderung der mit der Nutzung dieser Orte sonst verbundenen persönlichen Kontakte zwischen einer Vielzahl von Menschen ist. Damit gibt das Gesetz nähere Leitlinien für die dem Verordnungsgeber vorgegebene Verhältnismäßigkeitsprüfung, welche Auswirkungen von Betretungsverboten maßgeblich sind und wie diese angesichts eines bestimmten Standes und einer prognostizierten Entwicklung der Ausbreitung von COVID-19 im Hinblick auf die mit bestimmten Betretungsverboten verbundenen Einschränkungen der Freizügigkeit zu gewichten sind. §2 COVID-19-MaßnahmenG enthält damit ausreichende gesetzliche Vorgaben, die die mit der Ermächtigung zu Betretungsverboten verbundene Ermächtigung zur Einschränkung der Freizügigkeit auf das nach Art4 Abs1 StGG und Art2 Abs3 4. ZPEMRK verfassungsrechtlich Zulässige begrenzen.
Verstoß der §1 und §2 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 gegen §2 Z1 COVID-19-MaßnahmenG:
Die §1 und §2 COVID-19-Maßnahmenverordung-98 gehen von einem weitreichenden Regelungsansatz eines umfassenden Verbotes mit Ausnahmen aus. Sinn des §1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 ist es, grundsätzlich die Menschen durch das allgemeine Betretungsverbot des §1 dazu zu verhalten, "zu Hause" zu bleiben. In diesem Sinn umfassen die "öffentlichen Orte", deren Betreten §1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 untersagt, jedenfalls den öffentlichen Raum, den der Einzelne zwangsläufig betreten muss, um von seiner Wohnung (im weiten Sinn des Art8 EMRK) an jeden anderen Ort zu gelangen.
Zwar hat der Verordnungsgeber in §2 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98 einzelne Ausnahmen von diesem allgemeinen Betretungsverbot vorgesehen. Diese, insbesondere auch die zwar nicht auf einen bestimmten Zweck abstellende, aber dennoch auf bestimmte Konstellationen begrenzte Ausnahme des §2 Z5 COVID-19-Maßnahmenverordnung-98, ändern nichts daran, dass §1 der Verordnung ein allgemeines Betretungsverbot öffentlicher Orte vorsieht und damit - entgegen der gesetzlichen Vorgabe des §2 COVID-19-MaßnahmenG - nicht das Betreten bestimmter, eingeschränkter Orte untersagt, sondern durch ein Betretungsverbot für alle öffentlichen Orte der Sache nach als Grundsatz von einem allgemeinen Ausgangsverbot ausgeht. Wenn §2 COVID-19-MaßnahmenG im Rahmen grundsätzlich bestehender Freizügigkeit aber nur Betretungsverbote für bestimmte Orte vorsieht, dann ermächtigt das Gesetz gerade nicht zu einem allgemeinen gesetzlichen Verbot mit Erlaubnistatbeständen.
Damit ist nicht gesagt, dass im Lichte des Art4 Abs1 StGG und des Art2 4. ZPEMRK bei Vorliegen besonderer Umstände unter entsprechenden zeitlichen, persönlichen und sachlichen Einschränkungen nicht auch ein Ausgangsverbot gerechtfertigt sein kann, wenn sich eine solche Maßnahme angesichts ihrer besonderen Eingriffsintensität als verhältnismäßig erweisen kann. Jedenfalls bedarf eine dermaßen weitreichende, weil dieses Recht im Grundsatz aufhebende Einschränkung der Freizügigkeit aber einer konkreten und entsprechend näher bestimmten Grundlage im Gesetz.
Entscheidungstexte
Schlagworte
COVID (Corona), Recht auf Freizügigkeit, Privat- und Familienleben, Determinierungsgebot, Verhältnismäßigkeit, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Geltungsbereich, Anwendbarkeit, Rückwirkung, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:V363.2020Zuletzt aktualisiert am
25.08.2021