Entscheidungsdatum
30.04.2020Norm
BBG §42Spruch
W132 2226271-1/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Regina BAUMGARTL als Beisitzerinnen, über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , bevollmächtigt vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien vom 23.10.2019, OB: 76092051800028, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung "Der Inhaberin des Passes ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar" in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 Bundesbehindertengesetz (BBG), beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) hat der Beschwerdeführerin am 11.07.2001 einen unbefristeten Behindertenpass ausgestellt und einen Grad der Behinderung in Höhe von 80 vH eingetragen.
Nachstehend angeführte Gesundheitsschädigungen wurden dieser Beurteilung zu Grunde gelegt:
- Degenerative Wirbelsäulenveränderungen, St.p. Bandscheibenoperation, PHS rechte Schulter
- Asthma bronchiale
- Hypoplasie der Akren mit spastischer Lähmung der rechen oberen Extremität
- Sensomotorisches Defizit S1 links
- Reaktive Depressio
- Dysplasie der Finger 2 und 5 rechts (Gebrauchshand)
- Dyplasie der Finger2 und 5 links
2. Mit Bescheid vom 17.07.2001 hat die belangte Behörde einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" abgewiesen.
3. Einen neuerlichen Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" hat die belangte Behörde mit Bescheid vom 19.04.2004 abgewiesen.
4. Mit Bescheid vom 17.02.2015 hat die belangte Behörde einen weiteren Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" abgewiesen.
Dieser Entscheidung wurde das auf persönlicher Untersuchung am 13.11.2014 basierende Sachverständigengutachten Dris. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, zugrunde gelegt, in welchem nachstehend angeführten Gesundheitsschädigungen objektiviert wurden:
- Chronische Polyarthritis
- Degenerative und osteoporotische Veränderungen der Wirbelsäule
- Geringe Gonarthrosen beidseits
- Arthralgie rechte Schulter mit leichtergradigen Bewegungseinschränkungen
- Hypoplasie der Akren
5. Die Beschwerdeführerin hat am 12.07.2019, unter Vorlage des innerfachärztlichen Befundberichtes Dris. XXXX vom 19.08.2019, bei der belangten Behörde neuerlich einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" in den Behindertenpass gestellt. Begründend wurde ausgeführt, dass sie an Osteoporose und chronischer Polyarthritis leide, und eine Wirbelsäulenoperation, eine Bandscheibenoperation und eine Hüftoperation durchgeführt worden seien.
5.1. Zur Überprüfung des Antrages hat die belangten Behörde ein Sachverständigengutachten Dris. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 24.09.2019, mit dem Ergebnis eingeholt, dass die Voraussetzungen für die Eintragung der beantragten Zusatzeintragung nicht vorlägen.
Zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird im Wesentlichen zusammengefasst Folgendes ausgeführt:
"Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
- Kniegelenksabnützung und Hüftgelenksabnützung beidseits nach Hüft-Totalendoprothese rechts, mit geringen Funktionseinschränkungen
- Chronisch Polyarthritis mit mäßiger Funktionseinschränkung in den Fingergelenken
- Degenerative Wirbelsäulenveränderungen bei Osteoporose mit mäßigen Funktionseinschränkungen nach Wirbeloperation im Lendenwirbelsäulenbereich.
- Omarthralgie rechts
- Hypoplasie der Akren
- Substituierte Hypothyreose
- Asthma bronchiale mit Bedarfsmedikation kompensiert."
Zur Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wird folgendes ausgeführt:
"Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Keine. Bedingt durch die Polyarthritis und degenerativen Gelenks- und Wirbelsäulenveränderungen, liegt eine moderate Gangablaufstörung vor, welche jedoch das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke (300-400m), sowie das Ein- und Aussteigen und Mitfahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erheblich erschwert."
5.2. Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG erteilten Parteiengehörs wurden keine Einwendungen erhoben.
5.3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23.10.2019 hat die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Der Inhaberin des Passes ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar" in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 BBG abgewiesen.
6. Gegen diesen Bescheid wurde von der bevollmächtigten Vertretung der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben. Ohne Vorlage von Beweismitteln wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die vorliegenden Leiden nicht in ausreichendem Maß berücksichtigt worden seien. Die Beschwerdeführerin befinde sich aktuell im Krankhaus, wo sie nun auch links ein künstliches Hüftgelenk bekommen habe. Die Beschwerdeführerin leide an massiven Schmerzen an Wirbelsäule, Schultern und Hüften, sodass ihr die Fortbewegung sehr schwer falle. Mit dem vorliegenden schweren Rheuma hätte sich der von der belangten Behörde befasste Sachverständigen nicht auseinandergesetzt. Das eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten sei im Hinblick auf die Vielzahl der orthopädischen Leiden nicht geeignet zur Beurteilung der orthopädischen Leiden. Die Beschwerdeführerin leide an schweren Krampfadern. Die Beweglichkeit werde durch die erforderlichen Stützstrümpfe massiv eingeschränkt, was trotz Hinweis darauf nicht untersucht worden sei. Auch seien die (seit einem Raubüberfall) vorliegenden psychischen Einschränkungen wie Panikattacken und Atembeschwerden, welche in öffentlichen Verkehrsmittel auftreten würden, nicht berücksichtigt worden. Es sei die Einholung von Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Orthopädie, Innere Medizin und Neurologie/Psychiatrie erforderlich.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).
Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Gemäß § 29 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG sind die Erkenntnisse zu begründen. Für Beschlüsse ergibt sich aus § 31 Abs. 3 VwGVG eine sinngemäße Anwendung.
Zu A)
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes.
Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte aus (vgl. u.a. 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016).
Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.
Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zur ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:
Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. (§ 1 Abs. 2 BBG)
Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. (§ 4 Abs. 1 Einschätzungsverordnung BGBl. II Nr. 261/2010 auszugsweise)
Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten. (§ 4 Abs. 2 Einschätzungsverordnung BGBl. II Nr. 261/2010)
Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderten-einstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist u.a. jedenfalls einzutragen:
3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und
- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder
- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder
- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder
- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder
- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d
vorliegen.
(§ 1 Abs. 4 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen auszugsweise)
Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Bundessozialamtes. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(§ 1 Abs. 3 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen)
Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Dieses Beweisthema ist somit nicht identisch mit der im Rahmen eines Verfahrens nach § 14 Abs. 2 oder 5 BEinstG vorzunehmenden Einschätzung des Grades der Behinderung, bei der die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund stehen (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 20. März 2001, Zl. 2000/11/0321). Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, und die dort angeführte Vorjudikatur sowie vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/11/0242, vom 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186).
Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung der Auswirkungen der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.
Der belangten Behörde war bereits bei Antragstellung - aufgrund vielfacher Vorverfahren und den Angaben der Beschwerdeführerin bei Antragstellung - bekannt, dass bei der Beschwerdeführerin Gesundheitsschädigungen des orthopädischen, internistischen und neurologischen Formenkreises vorliegen.
Die belangte Behörde hat zur Überprüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin jedoch lediglich ein allgemeinmedizinisches Sachverständigengutachten eingeholt.
Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit der eingeholten Gutachten an. Gegenständlich ist das von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten zur Beurteilung des bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Beschwerdebildes nicht ausreichend. Aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der Angaben der Beschwerdeführerin im Antrag, liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass zusätzlich zur erfolgten Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachrichtungen Allgemeinmedizin, jedenfalls auch die Einholung von Sachverständigengutachten der Fachrichtung Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin, unbedingt erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin (auch im Hinblick auf eine mögliche wechselseitige Leidensbeeinflussung der festgestellten Gesundheitsschädigungen) zu gewährleisten.
Zwar wird im eingeholten Gutachten die Art der objektivierten dauernden Gesundheitsschädigungen aufgelistet, zur Frage der beschwerdegegenständlichen Zusatzeintragung erfolgt jedoch keine ausreichende individualisierte Beurteilung.
So liegen bei der Beschwerdeführerin Einschränkungen der Wirbelsäule, der unteren und oberen Extremitäten, sowie des internistischen Formenkreises vor. Insbesondere konnte bei der Beschwerdeführerin auch bereits bei der Ausstellung des Behindertenpasses objektiviert werden, dass diese an einer spastischen Lähmung der rechten oberen Extremität (Gebrauchsarm) sowie an einer Dysplasie der Finger 2 und 5 rechts und links leidet.
Wie sich die bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen - vor allem auch im Zusammenwirken - konkret auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirken (insbesondere beim Gehen, Stehen, Sitzen sowie Ein- und Aussteigen) kann dem Gutachten nicht entnommen werden.
Darüber hinaus ist eine schlüssige und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Beweismittel durch den befassten Sachverständigen nicht erfolgt. Es wurde lediglich dargestellt, dass keine aktuellen Befunde in Vorlage gebracht worden seien.
Auch ist eine Auseinandersetzung mit den bei der Beschwerdeführerin aus den Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates resultierenden Schmerzen und deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht erfolgt. So wurde vom Sachverständigen keine Stellungnahme zu Art und Ausmaß der Schmerzen, sowie deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel abzugeben. Dies wäre aber - auch vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 23.05.2012, 2008/11/0128; 20.10.2011, 2009/11/0032; 27.01.2015, 2012/11/0186) - im gegenständlichen Fall, auch im Hinblick auf die bei der Beschwerdeführerin vorliegenden festgestellten Funktionseinschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates, unbedingt erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, inwieweit die Beschwerdeführerin dadurch an der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel (insbesondere beim Gehen, Stehen, Sitzen sowie Ein- und Aussteigen) gehindert wird.
Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag daher die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen. Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).
Insbesondere auch im Hinblick auf eine mögliche wechselseitige Leidensbeeinflussung der festgestellten Gesundheitsschädigungen ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, ärztliche Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin einzuholen. Es liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass die Einholung von Sachverständigengutachten dieser Fachrichtungen unbedingt erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin zu gewährleisten.
Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.
Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde medizinische Sachverständigengutachten der Fachrichtung Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin - zu den oben dargelegten Fragestellungen einzuholen, und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben.
Anschließend hat sich die belangte Behörde mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.
Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen.
Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene, erhöhte Aufwand.
Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.
Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.
Schlagworte
Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung SachverständigengutachtenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W132.2226271.1.00Im RIS seit
30.07.2020Zuletzt aktualisiert am
30.07.2020