TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/19 W276 2192856-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.02.2020
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Entscheidungsdatum

19.02.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W276 2192856-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Gert WALLISCH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert Bitsche, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.01.2020 zu Recht:

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer ("BF") reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 10.12.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.12.2015 gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass er wegen der Unsicherheit in Afghanistan geflohen sei. Die Taliban ließen das Land nicht in Ruhe und bedrohten alle Menschen. Die Taliban hätten ihn direkt bedroht und auch verletzt. Sie hätten von ihnen Geld gewollt, sie hätten seine Familie "vergewaltigen" (körperlich) wollen. Deswegen habe er fliehen müssen, sein Leben sei in Gefahr gewesen. Er habe eine Narbe auf der Innenseite seines rechten Oberschenkels, die vor ca. drei Jahren durch ein Messer verursacht worden sei.

I.3. Bei seiner Einvernahme am 20.02.2018 gab der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, Außenstelle Innsbruck ("BFA") an, dass er aus dem Stadtteil XXXX im Distrikt XXXX (im Folgenden: " XXXX ") in der Provinz Kunduz stamme. Er sei im Alter von drei Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Mit zehn Jahren sei der BF mit seiner Familie nach Afghanistan in die Provinz Kunduz zurückgekehrt. Vor seiner neuerlichen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2013 habe er ein Jahr in Kabul gelebt. Im Iran habe er ein Jahr die Volksschule besucht und in Afghanistan habe er acht Jahre lang die Grundschule besucht. Daneben habe er auch einen Computer- und Englischkurs absolviert. Er habe in Afghanistan und im Iran Berufserfahrung als Näher gesammelt.

Zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates gab er an, dass die Taliban bei einer Kontrolle an einem Checkpoint seine Kursunterlagen zum Englischkurs gefunden und deshalb gedacht hätten, dass er in Zukunft mit den Behörden zusammenarbeiten wolle. Die Taliban hätten den BF verprügelt, weshalb seine linke Schulter ausgekugelt sei. Da einer der Fahrgäste das afghanische Militär gerufen habe, seien die Taliban geflüchtet. Am nächsten Tag habe der BF bei der Polizei eine Anzeige gegen die Taliban, die ihn verletzt hätten, erstatten wollen. Der Polizist sei aber ein Bekannter von einem der Talibanangreifer namens XXXX gewesen. Dieser Polizist habe den BF sehr schlecht behandelt und gemeint, er werde XXXX von der Anzeigeerstattung erzählen. In derselben Nacht seien die Taliban zum BF nach Hause gekommen. Einer von den Taliban habe seine Schwester anfassen wollen, deshalb habe sein Bruder diesen attackiert. Daraufhin hätten sie auf seinen Bruder geschossen. Der BF habe einen anderen attackiert, der ihm mit einem Messer eine schwere Verletzung am Oberschenkel zugefügt habe. Durch ihre Schreie und den Schuss sei ein Wachmann, der in ihrer Gasse gelegenen Bank aufmerksam geworden und habe in die Luft geschossen. Die Taliban hätten gedacht, dass es die Polizei sei und seien geflüchtet. Der BF sei anschließend nach Kabul ins Krankenhaus gebracht worden, wo er zwei Monate verbrachte habe. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe er sich noch einen Monat in Kabul aufgehalten. Da die Taliban noch immer nach dem BF gesucht hätten, habe er Afghanistan verlassen.

I.4. Mit angefochtenem Bescheid der belangten Behörde vom 09.03.2018 (Zl. XXXX ) wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit vierzehn Tagen festgelegt (Spruchpunkt VI).

Die belangte Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen des BF nicht glaubhaft sei.

I.5. Gegen den genannten Bescheid richtet sich die vorliegende, rechtzeitig eingebrachte Beschwerde. In dieser wurde versucht, die Beweiswürdigung des BFA zu entkräften.

I.6. Am 16.01.2019 langte die Vollmachtsbekanntgabe von RA Mag. Robert Bitsche, 1050 Wien, beim BVwG ein.

I.7. Am 28.01.2020 fand vor dem erkennenden Richter eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seines Rechtsvertreters statt. Die belangte Behörde entschuldigte sich mit 27.12.2019 und nahm an der Verhandlung nicht teil. Auf die Verlesung des gesamten Akteninhalts sowie Akteneinsicht wurde verzichtet. Der BF legte weitere Bescheinigungsmittel vor. Von dem erkennenden Richter wurden Länderberichte und zahlreiche weitere Länderinformationen in das Verfahren eingebracht (vgl Pkt II.2 dieses Erkenntnisses). Der BF und sein Rechtsvertreter verzichteten auf eine Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II. 1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch genannten Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari. Die Feststellungen zur Identität des BF gelten ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren.

Der BF stammt aus dem Dorf XXXX , im Distrikt XXXX in der Provinz Kunduz.

Er ist im Alter von drei Jahren gemeinsam mit seiner Familie in den Iran gezogen. Mit zehn Jahren ist er mit seiner Familie nach Afghanistan in die Provinz Kunduz zurückgekehrt. Vor seiner neuerlichen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2013 hat er ein Jahr lang in Kabul gelebt. Im Iran hat er ein Jahr lang die Volksschule besucht und in Afghanistan hat er acht Jahre die Grundschule besucht. Daneben hat er auch einen Computer- und Englischkurs absolviert. Er hat in Afghanistan und im Iran Berufserfahrung als Näher gesammelt.

Die Eltern, die verheiratete Schwester und zwei Onkel des BF väterlicherseits leben Kabul. Ein Onkel des BF väterlicherseits lebt in Mazar-e Sharif. Drei Tanten des BF mütterlicherseits leben in Pakistan. Der BF steht mit seinen Eltern und seiner Schwester über Telefon bzw. WhatsApp in Kontakt.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

II.1.2.1. Der BF wurde von den Taliban aufgrund seiner zukünftigen Tätigkeit als Englischdolmetscher am Flughafen von Kunduz bedroht und verfolgt. Einer seiner Schulkollegen, der dem BF im Auswahlverfahren für diese Stelle unterlegen war, hat dies aus Rache einem verwandten Polizisten erzählt und dieser Polizist hat den BF an einen befreundeten Taliban verraten. Bei einer Straßensperre auf der Heimreise von Kabul nach Kunduz haben die Taliban die Englischunterlagen des BF entdeckt, ihn bezichtigt, ein Spion zu sein und ihn geschlagen. Da er versuchte, den Überfall der Taliban bei der Polizei anzuzeigen, griffen diese, nach der Warnung des befreundeten Polizisten, den BF und seine Familie zu Hause an. Sie verletzten den BF schwer und töteten seinen Bruder. Der BF wurde im Krankenhaus in Kabul behandelt und nachdem er erfahren hat, dass die Taliban weiterhin nach ihm suchten, hat er Afghanistan verlassen. Nach seiner Flucht aus seinem Herkunftsstaat töteten die Taliban auch eine seiner Schwestern und deren Ehemann.

Der BF ist aus der glaubhaften Furcht heraus, von den Taliban getötet zu werden, aus Afghanistan geflohen. Dies wegen einer ihm unterstellten politischen Gesinnung aufgrund der Bewerbung für eine Stelle als Englischdolmetscher. Dem BF drohen im Falle der Rückkehr nach Afghanistan wegen der ihm unterstellten politischen Gesinnung Eingriffe in seine körperliche Integrität und Lebensgefahr durch Mitglieder der Taliban. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für den BF im konkreten Fall nicht. Zudem wären hinsichtlich dieser Verfolgungshandlungen die zuständigen afghanischen Behörden nicht in der Lage, den BF ausreichend zu schützen.

II.1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

II.1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:

Allgemeine Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (LIB 13.11.2019, S. 18). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (LIB 13.11.2019, S. 18-19).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau (LIB 13.11.2019, S. 19). Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (LIB 13.11.2019, S. 23)

Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (LIB 13.11.2019, S. 24).

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 1.12.2018 und 15.5.2019 waren es 6 HPAs (LIB 13.11.2019, S. 25).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, S. 26).

Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel (LIB 13.11.2019, S. 26).

Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, S. 27).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, S. 27).

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (LIB 13.11.2019, S. 27). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen (LIB 13.11.2019, S. 28).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (LIB 13.11.2019, S. 29).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, S. 29).

Kunduz

Die Provinz Kunduz war schon immer ein strategischer Knotenpunkt. Darüber hinaus verbindet die Provinz Kunduz den Rest Afghanistans mit seiner nördlichen Region und liegt in der Nähe einer Hauptstraße nach Kabul (DW 30.9.2015). Somit liegt die Provinz Kunduz im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh (UNOCHA 4.2014kd). Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (OPr 1.2.1017kd); die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz und Qala-e-Zal (CSO 2019; vgl. IEC 2018kd, UNOCHA 4.2014kd, OPr 1.2.2017kd, NPS o.D.kd). Die Distrikte Calbad (Gulbad), Gultipa und Aqtash sind neu gegründete Distrikte mit "temporärem" Status (AAN 7.11.2018; vgl. CSO 2019).

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Kunduz für den Zeitraum 2019-20 auf 1.113.676 Personen, davon 356.536 in der Stadt Kunduz (CSO 2019). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai (NPS o.D.kd; vgl. OPr 1.2.2017kd).

Ein Abschnitt der asiatischen Autobahn AH7 führt von Kabul aus durch die Provinzen Parwan und Baghlan und verbindet die Hauptstadt mit der Provinz Kunduz und dem Grenzübergang nach Tadschikistan beim Hafen von Sher Khan (auch Sher Khan Bandar) (MoPW 16.10.2015; vgl. RFE/RL 26.8.2007, IN 24.4.2019, LC 24.4.2019); die Straßenbrücke über den Grenzfluss Panj wurde 2007 eröffnet (RFE/RL 26.8.2007). Eine Autobahn verläuft von Kunduz durch den Distrikt Khanabad nach Takhar und Badakhshan (MoPW 16.10.2015; vgl. UNOCHA 4.2014kd, AAN 12.10.2016). Von der ca. 100 km langen Autobahn von Khulm nach Kunduz, welche die Fahrstrecke zwischen den Provinzen Kunduz und Balkh deutlich reduzieren wird, wurden im April 2017 59 km fertiggestellt (TN 12.4.2017; vgl. Technologists 2019), das übrige Teilstück ist in Bau (Technologists 2019). In Kunduz gibt es einen Flughafen; im Jahr 2017 wurde ein Terminal nach internationalem Standard mit einer Kapazität für 1.300 Personen errichtet (LIFOS 26.9.2018; vgl. PAJ 7.3.2018). Stand Juli 2019 gibt es jedoch keinen Linienbetrieb in Kunduz (F24 10.7.2019).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 hat Kunduz den seit 2007 bestehenden Status "schlafmohnfrei" 2018 beibehalten. Obwohl die Anbaufläche in den letzten Jahren gestiegen ist, blieb sie 2018 immer noch unter 100 Hektar, was die UNODC-Schwelle für den Erhalt des "schlafmohnfreien Status" darstellt (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert (AAN 7.11.2018; vgl. AJ 5.2.2019). Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban (UNAMA 24.2.2019) und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein (BAMF 2.9.2019). Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001 (RFE/RL o.D.).

Die Taliban waren im Jahr 2018 in den Distrikten Dasht-e-Archi und Chahar Darah aktiv, wo sich die staatliche Kontrolle auf kleine Teile der Distriktzentren und einige benachbarte Dörfer beschränkte (AAN 7.11.2018). Die Taliban hatten laut Quellen im Februar 2019 im Distrikt Dasht-e-Archi eine parallele Schattenregierung gebildet, die einen Distriktgouverneur, Bildungsleiter, Justiz, Gesundheit, Öffentlichkeitsarbeit, Militär und die Finanzkomitees umfasst. Diese Posten werden von jungen Paschtunen und Usbeken aus dem Distrikt besetzt (AAN 26.2.2019). In Ali Abad, Imam Sahib und Khan Abad erreichte die Präsenz der Regierung fast die Hälfte der Distrikte, während die restlichen Teile umstritten waren. Aqtash, Calbad und Gultipa standen, zum Berichtszeitraum November 2018, weitgehend oder vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AAN 7.11.2018).

Außerdem soll eine aufständische Gruppe namens Jabha-ye Qariha ("die Front derer, die den Quran auswendig gelernt haben", die Qaris), die als Militärflügel von Jundullah bekannt ist, im Distrikt Dasht-e-Archi aktiv sein. Obwohl Jundullah eine unabhängige Gruppe ist, ist sie mit den Taliban verbündet (AAN 26.2.2019).

In den vergangenen Monaten sind Zellen der Islamischen Staates in der nördlichen Provinz Kunduz aufgetaucht (NYT 14.6.2019; vgl. JF 6.4.2018); auch soll der IS dort Basen und Ausbildungszentren unterhalten (RE 19.3.2018; 27.2.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kunduz in der Verantwortung des 217. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N) unter der Führung deutscher Streitkräfte untersteht (USDOD 6.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 337 zivile Opfer (105 Tote und 232 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einem Rückgang von 11% gegenüber 2017. Die Hauptursachen für Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und IEDs. UNAMA dokumentierte einen anhaltenden Rückgang der zivilen Opfer durch Bodenkämpfe in den Provinzen Kunduz und Laghman, die beide zu den fünf Provinzen gehörten, die 2018 die größte Reduktion ziviler Opferzahlen durch solche Operationen hatten. Für die Provinz Kunduz verzeichnete UNAMA 109 zivile Opfer durch Bodenkämpfe, was einem Rückgang von 31% gegenüber 2017 entspricht (UNAMA 24.2.2019).

Im April 2019 wurde die Sicherheitsoperation Khalid durch die afghanische Regierung gestartet, die sich auf die südlichen Regionen, Nangarhar im Osten, Farah im Westen, sowie Kunduz, Takhar und Baghlan im Nordosten, Ghazni im Südosten und Balkh im Norden konzentrierte (UNGASC 14.6.2019). In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte; dabei werden unter anderem auch Aufständische getötet (z.B. XI 31.7.2019; KP 22.7.2019; KP 11.7.2019; KP 7.7.2019; XI 27.1.2019; TN 10.9.2018; TN 8.2.2019; NYTM 1.8.2019; UNAMA 25.3.2019; IE 20.7.2018); und Luftangriffe durchgeführt (z.B. NYTM 1.8.2019; XI 31.7.2019; KP 22.7.2019; KP 11.7.2019; XI 12.5.2019; TN 31.1.2019; XI 27.1.2019; UNAMA 25.3.2019).

Auch kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften (z.B. BAMF 2.9.2019; NYTM 1.8.2019; XI 28.7.2019; XI 10.7.2019; SPI 9.7.2019; SP 30.6.2019; TN 13.4.2019; RG 5.2.2019; TN 10.9.2018). Ende August 2019 starteten die Taliban in Kunduz-Stadt eine Großoffensive mit mehreren Hundert Kämpfern. Dabei konnten sie das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt einnehmen. Die Kämpfer verschanzten sich in Häusern und lieferten sich Gefechte mit dem afghanischen Militär (BAMF 2.9.2019; TN 1.9.2019). Schon im April 2019 hatten sie Ziele in der Stadt Kunduz angegriffen, wobei dieser Angriff von den Sicherheitskräften zurückgeschlagen wurde (AT 14.4.2019; vgl. NYT 18.4.2019). Manchmal kommt es durch Talibanaufständische zu sicherheitsrelevanten Vorfällen auf der Verbindungsstraße Kunduz-Takhar (CBS 20.8.2018; vgl. KP 20.8.2018; BN 20.8.2018; AAN 7.11.2018).

Kunduz gehörte zu den Provinzen mit der höchsten Gewaltbereitschaft der Taliban während der Parlamentswahlen 2018 (AAN 7.11.2018). In Qala-e-Zal, Gultipa und Calbad fand die Wahl wegen hoher Sicherheitsrisiken nicht statt (PAJ 27.10.2018; vgl. AAN 7.11.2018).

Religionsfreiheit:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus; in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (LIB 13.11.2019, S. 277).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor. Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (LIB 13.11.2019, S. 277).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen. Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (LIB 13.11.2019, S. 278).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 30.4.2019; vgl. AA 2.9.2019). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 21.6.2019).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 2.9.2019). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34% (USDOS 21.6.2019). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019). Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (HRW 17.1.2019).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.2.2019). Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (USDOS 21.6.2019).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 7.6.2017; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 21.6.2019).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (USDOS 21.6.2019).

Ethnische Minderheiten:

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 35 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind: 40 bis 42% Pashtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen (LIB 13.11.2019, S. 287).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB 13.11.2019, S. 287-288).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA 7.2016). Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul (USDOS 21.6.2019).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019). Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (BFA 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (BFA 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 21.6.2019). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (BFA 7.2016). Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 21.6.2019).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 2.9.2019; vgl. FH 4.2.2019) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 2.9.2019). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 13.3.2019). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.2.2019; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (BFA 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (BFA 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen (USDOS 13.3.2019). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 21.6.2019).

Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 1.1.2018 bis 30.9.2018 211 Todesopfer (USDOS 13.3.2019). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart (USDOS 21.6.2019). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt(MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 13.3.2019).

Medizinische Versorgung

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger/innen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren (BFA 4.2018; vgl. MPI 2004, AA 2.9.2019). Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Die Voraussetzung zur kostenfreien Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis bzw. Tazkira. Alle Staatsbürger/innen haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten (BFA 4.2018). Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 2.9.2019). Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort KrankenpflegerInnen anstelle von ÄrztInnen, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Auch dies gilt allerdings nicht für das gesamte Land, da in Distrikten mit guter Sicherheitslage in der Regel mehr und bessere Leistungen angeboten werden können als in unsicheren Gegenden (IOM 2018; vgl. WHO 3.2019, BDA 18.12.2018). Zahlreiche Afghanen begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (BDA 18.12.2018).

II.1.3.2. Auszug aus dem Landinfo Bericht Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne (Beilage ./6) S. 7, 9:

[...] Die Spione der Taliban sind eine Mischung aus früheren Kämpfern, neuen Madrassa-Rekruten und Dorfbewohnern. Sie können beispielsweise Ladenbesitzer, Fahrer, Regierungsbeamte, Regierungsmitarbeiter, Bettler usw. sein.5 Abgesehen von einigen festen Angestellten, die als professionelle Spione arbeiten, verlassen sich die Taliban auch auf Informanten als 'Söldner', die im Einzelfall für die gelieferten Informationen bezahlt werden. Aufgrund der gegenseitigen Absprachen, kann ein Nachrichtendienst im Zuständigkeitsbereich eines anderen Dienstes nur 'Söldnerinformanten' einsetzen, jedoch keine Festangestellten.6 Bezahlte Informanten sind meist günstig positionierte Personen, die vertrauliche Informationen über Zielorganisationen und -strukturen verkaufen können. Die Taliban rekrutieren insbesondere Informanten in führenden Regierungskreisen, u.a. bei der Armee, der Polizei und dem NDS.7 2015 behaupteten Quellen in den Nachrichtendiensten der Taliban, dass sie über insgesamt fast 900 Informanten bei den afghanischen Sicherheitskräften und im Regierungsapparat verfügten. [...]

[...] Die Regierungsbeamten sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind. Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen. Karte 2 basiert auf Angaben der Taliban, scheint jedoch eine recht realistische Einschätzung der ihrer Präsenz zu sein. Dabei darf man nicht vergessen, dass die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban von allen ihren Aktivitäten am schwersten zu erkennen ist.

In den Gebieten, in denen die Taliban kaum oder gar nicht vertreten sind, können sie sich nicht der Informationen aus dem Netz von Mitgliedern oder Sympathisanten bedienen. Es gibt dort offensichtlich keine Mitglieder, aber selbst ein einsamer Sympathisant, hätte es schwer, Informationen an die Taliban weiterzuleiten. In den Gebieten mit starker Präsenz, kommen die Talibanpatrouillen regelmäßig in die Dörfer und schöpfen alle Informationen ab, die ihnen die Sympathisanten mitteilen wollen, dort, wo sie schwach sind, ist das nicht möglich. In Gebieten mit Mobilfunkabdeckung, könnten Sympathisanten jedoch Informationen an die Taliban per Telefon weiterleiten, wenn sie zuvor einmal Kontakt zu Taliban-Agenten hatten.

Die Stadt Kabul ist ein Sonderfall, da dort mindestens drei verschiedene Taliban-Nachrichtendienste nebeneinander aktiv sind; der Dienst von Haqqani, der Quetta Shura und von Mashhad. Die Kabuler Militär-Kommission, die früher von Peshawar gelenkt wurde, dann aber 2016 zusammen mit der Peshawar Shura insgesamt übernommen wurde, verfügte laut Taliban-Quellen 2016 über ca. 500 Spione und Informanten. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Sie konzentrieren sich insbesondere in den beiden Stadtteilen, in denen sich die meisten Botschaften und Regierungsstellen befinden. Eine Taliban-Quelle in Kabul nannte eine Zahl von 800 Taliban-Agenten (d.h. ohne Informanten und Unterstützer) für 2016, dies ohne das Haqqani-Netzwerk. Laut Abdul Haq Haqqan sind die Taliban in allen Stadtteilen von Kabul zumindest zur Sammlung von Erkenntnissen vertreten, die meisten Angriffe erfolgen jedoch außerhalb des Stadtzentrums, dort, wo die Reichen und Mächtigen wohnen und die Polizei und Sicherheitsdienste ihre Kräfte konzentrieren. Diese Angriffe sind zumeist gezielte Morde, u.a. Angriffe mit Magnetbomben gegen Fahrzeuge. Nur die komplexen Angriffe der Fedayeen-Kommission gegen geschützte Einrichtungen finden meist im Stadtzentrum statt. [...]

II.2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, durch Einvernahme des BF in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden Beilage ./1 bis ./14 (Konvolut Auszüge ZMR, GVS, Strafregister, Schengener Informationssystem (Beilage ./1); Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 13.11.2019 (Beilage ./2); UNHCR - Richtlinien zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von AsylwerberInnen aus Afghanistan (Entwicklungen in Afghanistan; Sicherheitslage; Auswirkungen des Konflikts auf ZivilistInnen; Menschenrechtslage; humanitäre Lage; Risikoprofile; interne Fluchtalternative; Ausschlussgründe, etc) vom 30.08.2018 in deutscher Übersetzung (Beilage ./3); EASO-Leitlinien zu Afghanistan (Verfolger; Flüchtlingsstatus; subsidiärer Schutz; staatlicher Schutz; interne Schutzalternative; Ausschlussgründe) vom Juni 2019 (Beilage ./4); Bericht Landinfo, Afghanistan, Organisation und Struktur der Taliban, 23.08.2017 (Beilage ./5); Bericht Landinfo, Afghanistan, der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne, 23.08.2017 (Beilage ./6); Bericht Landinfo, Afghanistan, Rekrutierung durch die Taliban, 29.06.2017 (Beilage /7); Bericht, EASO, Afghanistan Netzwerke, Jänner 2018 (Beilage ./8); Accord, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Allg. Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul 18.01.2019 (Beilage ./9); Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan; Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif aufgrund anhaltender Dürre, 13.09.2018 (Beilage ./10); Entwicklung der wirtschaftlichen Situation sowie der Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul, Mazar e-Sharif und Herat 2010 bis 2018, Stand 7.12.2018 (Beilage ./11); BM f Inneres, Abteilung V/10 - Rückkehr, Reintegration und Qualitätsentwicklung, Afghanistan - Rückkehr- und Reintegrationsunterstützung, Stand 20.09.2019 (Beilage ./12); Accord-Anfrage vom 12.06.2015 (Beilage ./13); Konvolut weitere Integrationsunterlagen bestehend aus: Empfehlungsschreiben XXXX vom 15.05.2019, Zahlungs/Anmeldebestätigung Volkshochschule XXXX betreffend B2-Prüfung vom 09.01.2020, Bestätigung Universität XXXX betreffend Besuch Lehrveranstaltungen (undatiert), Empfehlungsschreiben XXXX vom 04.04.2018 und Jahreszeugnis Fachberufsschule für Elektrotechnik, Schuljahr 2019/20 vom 13.11.2019, Bestätigung Mitgliedschaft XXXX (Beilage ./14)).

II.2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem BFA, in der Beschwerde und vor dem BVwG. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des BF im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie seiner Muttersprache gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das BVwG hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des BF zu zweifeln.

Die Feststellungen zur persönlichen und familiären Situation des BF in Afghanistan und im Iran, insbesondere zu seinen Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, ergeben sich aus seinen weitgehend widerspruchsfreien und schlüssigen Angaben im Rahmen des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung.

Die Feststellungen zu seinen Familienangehörigen, ihrem derzeitigen Aufenthaltsort und dem Kontakt zu ihnen gründet auf seinen gleichbleibenden Äußerungen dazu vor der belangten Behörde und in der Beschwerdeverhandlung.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Beilage ./1).

II.2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Zu seinem Fluchtgrund gab der BF auf das Wesentliche zusammengefasst an, dass die Taliban ihn aufgrund seiner zukünftigen Tätigkeit als Englischdolmetscher am Flughafen von Kunduz bedroht und verfolgt hätten. Einer seiner Schulkollegen, der dem BF im Auswahlverfahren für diese Stelle unterlegen gewesen sei, habe dies aus Rache einem verwandten Polizisten erzählt und dieser Polizist habe den BF an einen befreundeten Taliban verraten. Bei einer Straßensperre auf der Heimreise von Kabul nach Kunduz hätten die Taliban die Englischunterlagen des BF entdeckt, ihn bezichtigt ein Spion zu sein und ihn geschlagen. Da er versucht habe, den Überfall der Taliban bei der Polizei anzuzeigen, hätten diese, nach der Warnung des befreundeten Polizisten, den BF und seine Familie zu Hause angegriffen. Sie hätten den BF schwer verletzt und seinen Bruder getötet. Der BF sei im Krankenhaus in Kabul behandelt worden und nachdem er erfahren habe, dass die Taliban weiterhin nach ihm suchten, habe er Afghanistan verlassen. Nach seiner Flucht aus seinem Herkunftsstaat hätten die Taliban auch eine seiner Schwestern und deren Ehemann getötet.

Die belangte Behörde ging von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus und stützte dies im Wesentlichen auf vermeintliche Abweichungen im Vorbringen zwischen Erstbefragung und Einvernahme, eine unzulässige Steigerung des Fluchtvorbringens und Widersprüche.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Mit der Glaubhaftmachung ist auch die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).

Der BF hat im Verfahren zwar Fotos vorgelegt, darüber hinaus konnte er aber keine Belege für sein Vorbringen beibringen. Besondere Bedeutung kommt daher dem Vorbringen eines Asylwerbers zu, das auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen ist. Dieses muss genügend substantiiert, plausibel und in sich schlüssig sein. Es obliegt dem BF, die in seiner Sphäre gelegenen Umstände seiner Flucht einigermaßen nachvollziehbar und genau zu schildern. Schließlich muss der BF auch persönlich glaubwürdig sein.

Im konkreten Fall wiederholte der BF in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen seine bereits bei der Erstbefragung sowie bei der behördlichen Einvernahme getätigten Angaben zu seinem Fluchtvorbringen. Er hat seine Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde detailgetreu geschildert, konkret substantiiert und im Wesentlichen widerspruchsfrei untermauert, sodass das Gericht dem BF - auch aufgrund des gewonnen persönlichen Eindruckes in der mündlichen Verhandlung - die Glaubwürdigkeit zuspricht.

Es ist den Ausführungen in der Beschwerde des BF, zu der unschlüssigen Beweiswürdigung der belangten Behörde, zu folgen. Die vom BFA in der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides angeführten Unstimmigkeiten im Fluchtvorbringen des BF wurden von ihm in seiner Beschwerde substantiiert widerlegt.

Zunächst kritisierte die belangte Behörde in ihrem Bescheid, dass sich grobe Divergenzen zwischen seinen Angaben in der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BF ergeben hätten. Er habe andere Geschehnisse und diese auch deutlich ausführlicher und ausgeschmückter als in der Erstbefragung geschildert.

Dabei ist, im Rahmen der Würdigung der Aussagen des BF während der Erstbefragung, auf die Judikatur zur Berücksichtigung der Funktion der Erstbefragung abzustellen (zB VfGH 20.02.2014, U 1919/2013; VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Demnach dient gemäß § 19 Abs. 1 AsylG die Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung "insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen". Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber davor, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind, weshalb an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0189 mwN). Der BF gab in seiner Erstbefragung zu seinem Fluchtgrund befragt an, dass er wegen der Unsicherheit in Afghanistan geflohen sei. Die Taliban ließen das Land nicht in Ruhe und bedrohten alle Menschen. Die Taliban hätten ihn direkt bedroht und auch verletzt. Sie hätten von ihnen Geld gewollt, sie hätten seine Familie "vergewaltigen" (körperlich) wollen. Deswegen habe er fliehen müssen, sein Leben sei in Gefahr gewesen. Er habe eine Narbe auf der Innenseite seines rechten Oberschenkels, welche durch ein Messer vor ca. drei Jahren verursacht worden sei (AS. 19 f). Dabei ist beachtlich, dass der BF bereits zu Beginn seiner Einvernahme vor dem BFA klargestellt hat, dass seine Angaben sehr stark verkürzt gewesen seien. Es hätten noch vier weitere Personen auf eine Einvernahme gewartet und die Beamten hätten damit verbunden Stress gehabt. Als er darauf hingewiesen habe, dass er mehr zu erzählen habe, habe man ihm gesagt, die Erstbefragung sei nur eine kurz zusammenfassende Einvernahme und er müsse sowieso unterschreiben (AS. 101). Aus der Niederschrift der Erstbefragung geht hervor, dass die Befragung des BF von 11-11.30 Uhr gedauert hat. Eine ausführliche und abschließende Aufzählung der Fluchtgründe des BF würde dem gesetzlichen Zweck der Erstbefragung zuwiderlaufen und wäre schon aufgrund der kurzen Befragungsdauer nicht möglich gewesen. Daher sind die Erläuterungen des BF vor dem Hintergrund der damaligen Anzahl an Asylanträgen, durch die es zu einer Überbelastung der Behörden kam, und dem Zweck der Erstbefragung durchaus nachvollziehbar. Zudem war das Fluchtvorbringen des BF, im Kern gleichlautend und wurde von ihm im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA lediglich konkretisiert.

Die Ausführungen bezüglich des Aufenthalts des BF im Iran nach seiner Flucht aus Afghanistan sind, wie in der Beschwerde dargetan, nicht entscheidungsrelevant. Der BF hat in der Einvernahme erzählt, dass er zunächst versucht habe, sich im Iran eine Existenz aufzubauen, aber aufgrund von Übergriffen gegen ihn und Rekrutierungsmaßnahmen für den Syrienkrieg habe er den Iran verlassen müssen (AS. 108 f.). Sein letztlich misslungener Versuch, im Iran eine Lebensgrundlage zu schaffen, kann dem BF nicht negativ angelastet werden, zumal es logisch erscheint, dass der BF sich aufgrund seines früheren Aufenthalts dort als Kind in einer ihm vertrauten Umgebung niederlassen wollte.

Das BFA erklärte in seiner Beweiswürdigung, dass sich eine Sinneswidrigkeit bezüglich der Busreise des BF von Kabul nach Kunduz ergeben habe. Diese Erklärung war jedoch nicht verständlich, sondern beruhte auf Mutmaßungen zur Routenwahl des Busfahrers. Der BF hat dezidiert gesagt, dass er den Grund für die Wahl der abweichenden Route nicht kenne. Ihm sei lediglich aufgefallen, dass es eine andere Route als früher gewesen sei, die eine Straße nutzte, die frisch asphaltiert worden sei. Die Schlussfolgerung der belangten Behörde, der Busfahrer habe entlang der früheren Straße nicht das Gebiet XXXX , das eine Taliban-Hochburg sei, passiert, ist irrig. Der BF machte in seiner Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung klar, dass der Bus egal ob er die kürzere oder längere Strecke wähle zwangsläufig an XXXX vorbeikomme (AS. 715, VHS S. 10). Die neu asphaltierte Straße war im Gegensatz zur anderen kürzer. Die Annahme des BF, der Busfahrer habe die Strecke gewählt, weil diese kürzer gewesen sei, ist angesichts der hohen Aktivität der Taliban in dieser Region und der allgegenwärtigen Gefahr einer Straßenkontrolle durch diese durchaus plausibel. Schließlich wäre es, wie in der Beschwerde vorgebracht, naheliegend, dass ein Busfahrer unter diesen Bedingungen die schnellste Straße wählen würde. Ferner führte der BF ins Treffen, dass die Routenwahl davon abhänge, welche Reiseziele die Fahrgäste bekanntgeben, da es keine fixen Haltestellen gäbe.

Soweit die belangte Behörde es für unplausibel erachtet, dass ein Fahrgast aus dem Bus die Telefonnummer des afghanischen Militärs gehabt und dieses angerufen habe, ist anzumerken, dass der BF in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, es könne sein, dass sie jemand verständigt habe, aber es sei auch möglich, dass die Armee selbst bei einer Kontrollfahrt auf die Straßensperre gestoßen sei (VHS S. 11).

Weiters wird in der Beweiswürdigung argumentiert, es sei absurd, dass die Taliban ihn suchten, weil ein Cousin eines Polizeibeamten, der mit XXXX befreundet wäre, eifersüchtig gewesen wäre, weil der BF besser Englisch können würde und wahrscheinlich eine Stelle bekommen hätte, für die sich dieser Cousin beworben hätte. Dabei übersieht das BFA, dass die Taliban den BF nicht bloß aufgrund von "Eifersüchteleien" gesucht haben, sondern weil sie ihm aufgrund seiner zukünftigen Tätigkeit als Englischdolmetscher eine Zusammenarbeit mit der Regierung vorgeworfen haben. Der Grund für seine Verfolgung lag - laut seinen eigenen Aussagen - darin, dass die Taliban es, aufgrund seiner ablehnenden Haltung ihnen gegenüber, nicht gutgeheißen hätten, wenn er diese Stelle bekommen hätte, anstatt eines Paschtunen oder Taliban, der so Einfluss nehmen hätte können (AS. 112). Dem Länderbericht zum Nachrichtendienst der Taliban (Beilage ./6) ist zu entnehmen, dass die Taliban sich Spionen, beispielsweise Regierungsmitarbeitern oder Fahrern bediene, die ihnen Informationen über Zielorganisationen und - strukturen liefern würden. Diese Spione seien eine Mischung aus früheren Kämpfern, neuen Madrassa-Rekruten und Dorfbewohnern. In Anbetracht dieser Berichte ist es einleuchtend, dass die Taliban statt des BF lieber einen ihrer Vertrauten in dieser Position gesehen hätten und ihn deshalb bedroht haben.

Die Äußerung des BF, sein bester Freund in der Schule habe dem eifersüchtigen Mitbewerber verraten, dass er mit dem Bus unterwegs in sein Heimatdorf gewesen sei, erinnerte das BFA "an Szenen aus Hollywoodfilmen über das Leben von High-School-Schülern". Diese Einschätzung ist nicht nur nicht ganz frei von Polemik, ihr ist zudem zu entgegnen, dass Eifersucht eine starke Emotion ist, die Menschen auch in der Realität zu Straftaten verleitet. Deshalb liegt es nicht außerhalb der Lebenserfahrung, dass der BF von seinem besten Freund an seinen Rivalen verraten wurde.

Die Einrenkung der Schulter des BF erfolgte - entgegen der Beschreibung der belangten Behörde - noch am selben Tag. Er führte ins Treffen, dass seine Schulter nach der Anhaltung des Busses durch die Taliban um bzw. kurz nach Mitternacht ausgerenkt worden sei. Die Einrenkung sei dann am Vormittag erfolgt. Es kann, wie in der Beschwerde des BF angeführt, nicht davon ausgegangen werden, dass eine umgehende ärztliche Behandlung mitten in der Nacht, nach dem gewalttätigen Vorgehen der Taliban, möglich gewesen wäre.

Das BFA merkte in ihrer Beweiswürdigung darüber hinaus an, dass es völlig unplausibel sei, dass auf jener Polizeistation, auf der der BF Anzeige erstattet habe, ausgerechnet jener Polizist seine Anzeige aufgenommen habe, der ein Freund von XXXX und der Cousin seines eifersüchtigen Rivalen gewesen sei. Dazu ist anzumerken, dass es, der Darstellung des BF folgend, in seiner Gegend eine große Polizeistation gebe, die für solche Anzeigen zuständig sei. Aus diesem Grund sei er mit seinem Bruder dorthin gegangen. Auf die Dienstzuteilung der dort tätigen Polizisten hatte der BF keinen Einfluss. Bezüglich der Frage wieso der Polizist ihn nicht bis zum Eintreffen von XXXX festgehalten habe, geriet er nicht in Erklärungsnot, sondern antwortete, dass der erwähnte Polizist nicht so ranghoch gewesen sei, dass er ihn einfach so festhalten hätte können (AS. 111). Da es um rein persönliche Anschuldigungen gegangen ist, ist nicht anzunehmen, dass jegliche Willkür von Seiten eines korrupten Polizisten möglich ist.

Der Umstand, dass der BF nach der versuchten Anzeigeerstattung mit seinem Bruder, nicht sofort geflüchtet, sondern vorher noch nach Hause gegangen ist, ist naheliegend. Denn, wie in der Beschwerde erläutert wurde, wollten der BF und sein Bruder die weitere Vorgehensweise mit ihrem Vater besprechen und ihre Flucht planen. Der Vorwurf der belangten Behörde, der BF sei nach Hause zurückgekehrt und habe nichts unternommen, ist daher nicht schlüssig.

Zur Behandlung seiner Oberschenkelverletzung waren die Angaben des BF insgesamt stringent. Er sprach davon, dass er in ein Krankenhaus in Kabul gebracht worden sei, weil es in XXXX keinen Chirurgen gegeben habe, der die Wunde nähen hätte können und in Kunduz kein Chirurg Dienst gehabt habe (AS. 113). Die Ausführungen des BFA, wonach davon auszugehen sei, dass ein Chirurg in der Lage sei, eine Schnittverletzung - mag diese auch tief sein - zu vernähen und es auszuschließen sei, dass in einem Krankenhaus kein Chirurg Dienst habe, sind hingegen nicht mit den Länderfeststellungen zur medizinischen Versorgung in Afghanistan in Einklang zu bringen. Die Länderinformationen zeigen, dass die Krankenhäuser auf Ebene von Distrikten und in Dörfern oft weniger gut ausgerüstet sind und es schwer sein kann, Spezialisten zu finden. Vielfach arbeiten dort Krankenpfleger anstelle von Ärzten, um grundlegende Versorgung sicherzustellen und in komplizierten Fällen an Provinzkrankenhäuser zu überweisen. Operationseingriffe können in der Regel nur auf Provinzlevel oder höher vorgenommen werden; auf Distriktebene sind nur erste Hilfe und kleinere Operationen möglich. Der BF erlitt eine tiefgehende, schwere Verletzung, die erfahrene fachärztliche Behandlung erforderte, weshalb seine Verweisung nach Kabul sinnvoll war.

Daneben kritisierte die belangte Behörde, dass der BF nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in Kabul, noch einen weiteren Monat dortgeblieben sei. Seine Rechtfertigung, dass es schwierig gewesen wäre, einen vertrauenswürdigen Schlepper zu finden, erachtete das BFA als unzureichend. Dabei ist, die Darstellung des BF in seiner Beschwerde, wonach er nach seiner schweren Verletzung noch nicht gut gehen habe können und aus diesem Grund die Suche nach einem "zuverlässigen" Schlepper besonders wichtig gewesen sei, durchaus nachvollziehbar.

Im Übrigen merkte das BFA an, der BF habe keinerlei Emotionen gezeigt, als er davon berichtet habe, dass ein Talib seine Schwester anfassen habe wollen und sein Bruder im Anschluss ermordet worden sei. Als "bemerkenswert" wurde hingegen angesehen, dass der BF "ein paar Tränen vergossen" habe, als er gefragt worden sei, wie er einen anderen Talib angegriffen habe. Von der Formulierung abgesehen erscheint diese Sichtweise nicht nachvollziehbar. Aus der Niederschrift der Einvernahme ist erkennbar, dass die Fragen nach der Ermordung seines Bruders und seiner Attacke auf den Talib unmittelbar nacheinander gestellt wurden und der BF in diesem Zusammenhang weinte (AS. 112). Die Ursache für seine Tränen kann von der belangten Behörde nicht einfach nach Gutdünken einem Themengebiet zugeordnet werden, zumal die gestellten Fragen nicht strikt voneinander zu trennen sind, sondern in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Außerdem wird in der Beschwerde auf das Gedächtnisprotokoll der bei der Einvernahme anwesenden Vertrauensperson verwiesen, der zu Folge die Einvernahmeleiterin die starke emotionale Reaktion des BF wahrnehmen konnte (AS. 727).

Der BF legte auch Fotos als Beweismittel zu seinem Fluchtvorbringen vor. Zu dem Foto der Narbe am Oberschenkel des BF wurde beweiswürdigend ausgeführt, dass anhand einer Abbildung nicht nachvollzogen werden könne, wie der BF sich diese Verletzung und die Narbe zugezogen habe. Die Narbe könne von einem Unfall herrühren. Allerdings zeigt der vom BF vorgelegte Befundbericht eines Facharztes für Orthopädie und orthopädische Chirurgie vom 17.04.2018, dass es aus orthopädischer Sicht absolut nachvollziehbar sei, dass die Verletzungen am Oberschenkel und im Bereich des Auges linksseitig, von einem tätlichen Angriff herrühren. Das Verletzungsmuster spreche aus Sicht des Facharztes in jedem Fall für eine zugefügte Verletzung, nicht für die Folgen eines Unfalles (OZ 4). Daher war der vorgelegte Befundbericht dazu geeignet, das Fluchtvorbringen des BF zu untermauern.

Einem Bericht von Landinfo zum "Nachrichtendienst der Taliban und der Einschüchterungskampagne" (Beilage ./6) ist zu entnehmen, dass die Regierungsbeamten überzeugt sind, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Die Präsenz der Nachrichtendienste der Taliban unterscheidet sich nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban, andere dagegen kaum betroffen. Die Stadt Kabul ist ein Sonderfall, da dort mindestens drei verschiedene Taliban-Nachrichtendienste nebeneinander aktiv sind. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben.

In Anbetracht dieser Länderberichte zur Vernetzung der Taliban in Afghanistan ist die Furcht des BF vor Verfolgung durch die Taliban bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat plausibel. Der BF hat stimmig dargelegt, dass einer seiner Schulkollegen, der ihm im Auswahlverfahren für die Stelle als Englischdolmetscher am Flughafen von Kunduz unterlegen war, dies aus Rache einem verwandten Polizisten erzählt hat, dieser Polizist den BF an einen befreundeten Taliban verraten hat und er aufgrund einer zukünftigen Tätigkeit für die Regierung von den Taliban bedroht und verfolgt wurde. Die Erläuterungen zur Anhaltung, dem Angriff und der Verletzung durch die Taliban waren im Lauf des Verfahrens im Wesentlichen gleichbleibend und logisch. Der BF konnte seine Flucht und die Verfolgung durch die Taliban - auch in Ein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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