TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/24 L521 2216409-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.05.2019
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Entscheidungsdatum

24.05.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L521 2216409-1/14E

Schriftliche Ausfertigung des am 17.04.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, sowie Mag. Paul Hechenberger, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Bozner Platz 7/ IV, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2019, Zl. 17-1142398008-170334569, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 17.04.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner aufgrund eines von der österreichischen Botschaft in Ankara am 07.02.2017 ausgestellten Visums C rechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 16.03.2017 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am Tag der Antragstellung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EAST Ost gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in XXXX geboren und habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des islamischen Glaubens sowie ledig. Seine Eltern und ein Bruder seien in der Türkei oder in einem anderen Drittstaat aufhältig. Eine Schwester und deren Ehegatte, eine Tante, ein Onkel und die Großeltern mütterlicherseits befänden sich in Österreich. Er habe acht Jahre die Grundschule und fünf Jahre eine berufsbildende höhere Schule - jeweils in XXXX - besucht. Zuletzt habe er diverse Hilfsarbeiten im Bereich Lichttechnik ausgeübt.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Türkei von XXXX ausgehend auf dem Luftweg legal mit einem Visum in die Bundesrepublik Deutschland verlassen zu haben. Von dort sei er nach einem mehrstündigen Aufenthalt auf dem Landweg nach Tirol gereist.

Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, auf die Kurden werde psychologischer Druck ausgeübt. Es habe einen Streit zwischen ihm, seinen Freunden und einer nationalistischen Gruppe gegeben. Die Auseinandersetzung sei aufgrund der sofortigen Intervention der Polizei nicht eskaliert. 2018 müsse er zum Militär einrücken. Dort würde er als Kurde beanchteiligt werden. Er wolle nicht zum Militär. Bei einer Rückkehr in die Türkei sei sein Leben als Kurde in Gefahr.

Im Übrigen wurde vom Beschwerdeführer ein türkischer Personalausweis im Original in Vorlage gebracht.

3. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 07.02.2019 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol Außenstelle Innsbruck, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben.

Zur Person befragt gab der Beschwerdeführer unter anderm an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in XXXX geboren, dort bei seinen Eltern aufgewachsen und habe dort zuletzt auch gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des sunnitischen Glaubens, ledig und kinderlos. Seine Eltern und ein Bruder befänden sich in XXXX und ein Onkel in XXXX . Seine Familie besitze ein Haus, einen Kleinbus und fünfzig Rinder. Sein Vater arbeite als Busfahrer und betreibe die familieneigene Landwirtschaft. Er stehe mit seiner Mutter über WhatsApp in Kontakt. Zudem seien mehrere Verwandte (eine Schwester, ein Großelternpaar, zwei Onkel und eine Tante) in Österreich und eine Tante in Schweden wohnhaft. Er habe zwölf Jahre die Schule (Grund- und Hauptschule sowie Gymnasium) besucht und erfolgreich abgeschlossen. Anschließend sei er von etwa 2012 bis 2015 als Elektrikergehilfe tätig gewesen. Er beherrsche Türkisch und Kurdisch in Wort und Schrift.

Was den Militärdienst betrifft, legte der Beschwerdeführer dar, diesen noch nicht abgeleistet zu haben, da er hiebei als Kurde diskriminiert werden würde. Er sei vor etwa vier Jahren mittels Brief von der Armee einberufen worden. Er sei dem Einberufungsbefehl nicht nachgekommen, da er aufgrund seiner Schulausbildung einen dreijährigen Aufschub erhalten habe. Er habe sich selbst um diesen Aufschub bemüht und habe es hiebei keine Probleme gegeben.

Anschließend legte der Beschwerdeführer dar, dass er sich ab nun (2019) beim Militär mustern lassen sollte. Er sei zwar noch kein Militärflüchtling, aber nachdem der dreijährige Aufschub seines Militärdienstes mit 2019 ausgelaufen sei, würde er sich jetzt mustern lassen müssen. Er sei kein Mitglied einer Partei gewesen, habe aber manchmal bei öffentlichen Veranstaltungen der Halklarin Demokratik Partisi mitgeholfen. Er sei in seiner Heimat wegen seiner politischen Gesinnung nie von staatlicher Seite verfolgt worden, aber er würde sich in der Türkei als Kurde nicht frei fühlen.

Zum Ausreisegrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht zum Militär gewollt habe. Zusätzlich würde er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit diskriminiert werden. Die Lebensumstände in der Türkei seien auch nicht gut. Er würde sich in Österreich ein besseres Leben erwarten und dass er nicht zum Militär müsse. Auch bei guter Schulbildung könne man in der Türkei wenig damit anfangen. Er würde sich erwarten, in Europa bzw. Österreich mit seiner Schulbildung bessere Bedingungen vorzufinden. Er hätte dies auch bei seinem Großvater gesehen. Dieser könne hier besser leben als in der Türkei.

Nachgefragt zu Details verneinte der Beschwerdeführer bereits beim bzw. für das Militär gemustert oder ärztlich untersucht worden zu sein. Er habe keine Krankheiten, weshalb er sich sicher sei, tauglich zu sein. Er sei körperlich in einem sehr guten Zustand und würde deshalb möglicherweise zu einer Sondereinheit zugeteilt werden. Er verfüge über keine Dokumente bezüglich seiner Musterung. Bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte er, einberufen zu werden.

In der Folge wurde dem Beschwerdeführer angeboten, die aktuellen landeskundlichen Feststellungen zur Türkei ausgefolgt zu erhalten und hiezu eine schriftliche Stellungnahme freigestellt. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Möglichkeit zur Stellungnahme.

Abschließend wurden dem Beschwerdeführer Fragen bezüglich seines Privat- und Familienlebens in Österreich gestellt.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer - jeweils in Kopie - einen Antrag auf Mindessicherung und ein Mahnschreiben der XXXX GmbH sowie einen Zahlschein der XXXX GmBH vor.

4. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte IV und V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, der Beschwerdeführer sei in der Türkei weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe von staatlicher Seite verfolgt worden. Der Beschwerdeführer sei aus wirtschaftlichen Gründen legal aus der Türkei nach Österreich gereist. Er erwarte sich in Österreich eine bessere schulische Ausbildung bzw. bessere Lebensbedingungen. Der Umstand, wonach er keinen Militärdienst ableisten wolle, habe nicht als asylrelevanter Sachverhalt festgestellt werden können. Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände habe nicht festgestellt werden können, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in die Türkei für den Beschwerdeführer eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Im Besonderen habe nicht festgestellt werden können, dass ihm im Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen gewesen wäre oder dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende (oder medizinische) Notlage gedrängt werde. Er sei jung, gesund, arbeitsfähig und verfüge über eine Schulausbildung sowie berufliche Erfahrung als Elektriker.

Was das Privat- und Familienleben betrifft, so wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer seit seiner Einreise bei seinen Großeltern lebe. Er verfüge im Bundesgebiet über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte (Schwester, Schwager, Großeltern, Onkel und Tante). Seinen Alltag verbringe der Beschwerdeführer mit Spaziergängen, dem Treffen von Freunden und der Mithilfe im Haushalt. Er gehöre in Österreich keinem Verein bzw. keiner sonstigen Organisation an. Gelegentlich besuche er eine Moschee. Er besuche keinen Deutschkurs und gehe keiner geregelten Arbeit nach. Sonstige soziale Bindungen und/oder sonstige wirtschaftliche Anknüpfungspunkte hätten nicht festgestellt werden können.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde (vgl. die Seiten 18 bis 100 des angefochtenen Bescheides).

In der rechtlichen Beurteilung wird begründend dargelegt, warum der seitens des Beschwerdeführers vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei.

5. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.02.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

6. Am 18.02.2019 brachte der Beschwerdeführer einen ärztlichen Befund (Diagnose: Mandelentzündung beidseits) bei der belangten Behörde in Vorlage.

7. Gegen den dem Beschwerdeführer am 20.02.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2019 richtet sich die im Wege der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt I zu beheben und dem Beschwerdeführer Asyl zuzuerkennen oder hilfsweise den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt II zu beheben und dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz zu gewähren und festzustellen, dass die Abschiebung in die Türkei auf Dauer unzulässig sei sowie die erlassene Rückkehrentscheidung ersatzlos zu beheben. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung des bisherigen Verfahrensganges und seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, da die herangezogenen länderkundlichen Berichte unvollständig und zum Teil veraltet wären und die tatsächliche politische Lage im Land verkennen würden. Insbesondere die aktuellen politischen Entwicklungen und Verschärfungen in der Türkei gegenüber kurdischstämmigen Türken seien in den Länderberichten nicht behandelt worden. Diesbezüglich wird - ohne nähere Quellenangabe - unter auszusgweiser Zitierung von Länder- bzw. Medienberichten auf die Sicherheits- und Menschenrechtssituation, speziell von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe, nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 verwiesen.

Im vorliegenden Fall gehe die belangte Behörde zwar zu Recht davon aus, dass der Beschwerdeführer der Volksgruppe der Kurden angehöre, treffe aber zur Lage der Kurden keine weiteren Feststellungen. Vor dem Hintergrund des Fehlens von maßgeblichen Feststellungen könne nicht nachvollzogen werden, aus welchem Grund das belangte Bundesamt zu dem Ergebnis komme, eine Verfolgungsgefahr aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit wäre im vorliegenden Fall nicht gegeben. Dies gelte zudem fallbezogen umso mehr, als anhand der zur Situation der Kurden in der Türkei getroffenen Feststellungen der belangten Behörde, sich eine Gruppenverfolgung nicht ohne Weiteres verneinen lasse.

Die belangte Behörde habe den Antrag des Beschwerdeführers abgewiesen, weil dem Beschwerdeführer keine asylrelevante Bedrohung im Herkunftsstaat drohen würde. Diese Feststellung basiere auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und mangelhaften Sachverhaltsermittlung, weshalb sie § 60 AVG verletze. Eine mängelfreie Beweiswürdigung habe schon deshalb nicht erfolgen können, weil die belangte Behörde es unterlassen habe, vollständige Länderberichte zu recherchieren.

Aus den in Ergänzung gelegten Länderberichten ergebe sich überdies, dass die vorgefallenen Übergriffe auf Kurden doch ein solches Ausmaß und eine solche Häufigkeit angenommen hätten, dass angesichts der Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe nicht ausgeschlossen werden könne, dass Kurden in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Organe bzw. ihnen zuzurechnenden Übergriffen zu rechnen hätten.

Es lasse sich aus dem Umstand, dass sich die Situation der Kurden in der Türkei in der Zwischenzeit graduell verbessert habe, nicht ableiten, dass die Verfolgung aufgrund der Ethnie des Beschwerdeführers nicht mehr bestehen würde und es ihm zumutbar wäre, sich unter den Schutz des Heimatlandes zu stellen. Da die Verfolgung von den türkischen Behörden ausgehe, die ihre Staatsgewalt auf dem gesamten Territorium der Türkei ausüben, könne auch nicht vom Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden.

Jedefalls hätte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer aufgrund der allgemein schlechten Situation für Kurden in der Türkei den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zusprechen müssen.

Was das Privat- und Familienleben in Österreich betrifft, so halte sich der Beschwerdeführer seit über zwei Jahren durchgehend in Österreich auf, habe in dieser Zeit ein Wohlverhalten gezeigt und sei strafgerichtlich unbescholten. In diesem Zusammenhang sei zu monieren, dass das belangte Bundesamt das Privatleben des Beschwerdeführers nicht entsprechend berücksichtigt und eine Interessenabwägung im Sinn des Artikel 8 EMRK zu Lasten des Beschwerdeführers gewertet habe.

8. Die Beschwerdevorlage langte am 22.03.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.

9. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.03.2019 wurden der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und ihr bzw. dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen ab Zustellung dieses Schreibens schriftlich Stellung zu nehmen.

10. Mit Schreiben vom 05.04.2019 langte im Wege der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eine schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht zu den aktuellen länderkundlichen Feststellungen zur Türkei ein. Im Besonderen legte der Beschwerdeführer dar, dass aus den übermittlten Länderberichten hervorgehe, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass er als Rekrut in Gebiete entsandt werde, wo es zu Zusammenstößen zwischen dem Militär und der Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) komme. Laut den Länderinformationen würden kurdischstämmige Rekruten sogar absichtlich in solche Gebiete entsandt. Aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23.11.2016 (Seiten 5 und 7; vgl. auch die Auskunft der SFH-Länderanalyse, Türkei: Desertion und Sicherheitsoperationen im Südosten, Seite 3) gehe auch hervor, dass es zu schweren Menschenrechtsverletzungen in den von Kampfhandlungen betroffenen kurdischen Gebieten des Südostens der Türkei komme. Somit könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer als Wehrpflichtiger bei der Begehung von Menschenrechtsverletzungen mitwirken müsste. Ebenso gehe aus den übermittelten Länderinformationen hervor, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Beschwerdeführer aufgrund der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe während des Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen benachteiligt werde (vgl. dazu Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23.11.2016 , Seite 2 - wo von den Schwierigkeiten kurdischstämmiger Rekruten in der türkischen Armee berichtet werde). Dies würden auch die aktuellen länderkundlichen Informationen zur Lage in der Türkei vom 02.11.2018 (vgl. Seite 36 betreffend "Kurdisch-stämmige Rekruten in der Türkei") bestätigen. Kurdische Rekruten würden unter einem hohen Riskio stehen, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden oder mitunter sogar umzukommen.

Zudem wurde auch auszugsweise auf den unter dem Link http://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/170519-tur-update.pdf abrufbaren Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe verwiesen, wonach aufgrund der im Juni 2016 eingeführten Gesetzesänderungen Sicherheitskräfte während der Sicherheitsoperationen im Südosten faktisch Straffreiheit hätten. Zudem würden Menschen kurdischer Ethnie in den nicht-kurdisch dominierten Gebieten der Türkei beim Zugang zu Arbeit und Wohnraum häufig diskrimiert werden. Das aktuelle politische Klima würde auch dazu missbraucht werden, Menschen kurdischer Ethnie zu beschuldigen, die Partiya Karkerên Kurdistanê zu unterstützen, um gegen sie polizeilich zu ermitteln und sie damit wirtschaftlich und sozial zu schädigen.

11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.04.2019 wurden der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation weitere aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur Türkei zur Vorbereitung der für den 17.04.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung und zur allfälligen Abagbe einer Stellungnahme übermittelt.

12. Am 12.04.2019 langte im Wege der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eine weitere schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein. Der Beschwerdeführer legte dar, dass die übermittelten Länderquellen zur Türkei zur Kenntnis genommen worden seien.

13. Am 17.04.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation und einer Dolmetscherin für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand aktueller länderkundlicher Berichte erörtert, welche dem Beschwerdeführer bereits zuvor mit Schreiben vom 27.03.2019 und 08.04.2019 zur Stellungnahme übermittelt wurden.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben und hat die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde mit Schreiben vom 02.04.2019 beantragt.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes verkündet.

14. Am 18.04.2019 beantragte der Beschwerdeführer im Wege der seinerzeitig bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

15. Am 30.04.2019 langte eine Vertreterbekanntgabe des Mag. Paul Hechenberger, Rechtsanwalt in Innsbruck, beim Bundesverwaltungsgericht ein. Gleichzeitig begehrte der Beschwerdeführer neuerliche die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des in der Verhandlung mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Verfahrensbestimmungen

Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z. 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

2. Feststellungen:

2.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist ledig und kinderlos. Der Beschwerdeführer beherrscht Türkisch und Kurdisch in Wort und Schrift.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in XXXX in der Provinz XXXX in Zentralanatolien geboren und wuchs dort bei seinen Eltern im Haus der Familie auf. Er besuchte in seiner Geburtsstadt die Grund-und Hauptschule sowie ein Gymnasium, welches er mit der Matura abschloss. Im Anschluss an den Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Erwerbsleben ein und arbeitete von etwa 2013 bis 2015 als Elektrikergehilfe.

Anfang März 2017 verließ der Beschwerdeführer die Türkei legal unter Verwendung eines von der Österreichischen Botschaft in Ankara am 07.02.2017 ausgestellten und bis zum 30.03.2017 gültigen Visums C im Luftweg. Er gelangte mittels Direktflug nach München, von wo er sich nach einem mehrstündigen Aufenthalt auf dem Landweg nach Österreich begab und in der Folge am 16.03.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

In der Türkei leben die Eltern, der Bruder und ein Onkel des Beschwerdeführers. Seine Eltern leben gemeinsam mit dem Bruder in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX . Der Onkel des Beschwerdeführers lebt in der Stadt XXXX der gleichnamigen Provinz. Der Vater des Beschwerdeführers ist Busfahrer und betreibt die familieneigene Landwirtschaft mit fünfzig Rindern. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Mutter über WhatsApp in Kontakt. Eine Tante ist in Schweden aufhältig.

2.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer konnte mit seinem Vorbringen, in der Türkei den Wehrdienst ableisten zu müssen, keine ihm im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohende Verfolgungsgefahr aus den in der GFK genannten Gründen, die dem Herkunftsstaat zurechenbar wäre, glaubhaft machen. Der Beschwerdeführer wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen. Er wurde bislang allerdings weder der Musterung unterzogen, noch erhielt er einen Einberufungsbefehl. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verweigert.

Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt würde oder er sich im Rahmen seines Wehrdienstes an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müsste. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen durch Vorgesetzte bzw. Offiziere unterliegen bzw. der Beschwerdeführer im Zuge der Verrichtung seines Militärdienstes solche zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer - sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten - eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.

2.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

2.4. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Elektrikergehilfe. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Der Beschwerdeführer verfügt über ein türkisches Ausweisdokument (Nüfus) im Original und über eine Wohnmöglichkeit bei seinen Eltern in der Provinz XXXX .

2.5. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 02.03.2017 in Österreich auf. Er reiste rechtsmäßig in Österreich ein, stellte am 16.03.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und pflegt normale soziale Kontakte, vorwiegend zu Verwandten und Freunden, die ihm noch von der Türkei bekannt sind. Im Bundesgebiet halten sich ein Großelternpaar, eine Schwester und deren Ehegatte, zwei Onkel und eine Tante des Beschwerdeführers auf. Der Beschwerdeführer lebt seit dem 20.03.2017 unentgeltlich bei seinen Großeltern und einem Onkel in deren Wohnung in XXXX .

Der Beschwerdeführer bezieht seit 01.05.2018 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber (Verpflegung Erwachsene, Bekleidungshilfe und Krankversicherung). Zusätzlich wird er von seinen Verwandten unterstützt. Er ist in Österreich noch keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, ist jedoch grundsätzlich erwerbsfähig und sind etwaige gesundheitliche Einschränkungen des Beschwerdeführers nicht aktenkundig. Ihm wurde bereits eine Beschäftigung - in einem Hotel - in Aussicht gestellt.

Der Beschwerdeführer besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und hat keine Prüfungen abgelegt. Er beherrscht die deutsche Sprache erst in geringem Ausmaß.

Der Beschwerdeführer unterstützt im Alltag seine Großeltern im Haushalt und trifft sich mit seinen Freunden. Am Freitag besucht er eine Moschee in XXXX . Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in in einem Verein. Der Beschwerdeführer hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet und auch keine anderweitigen Schritte zur Integration ergriffen.

2.6. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG geduldet. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

2.7. Zur Lage im Herkunftsstaat Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).

Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).

Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vgl. ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u.a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).

2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen. ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks. das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative. die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam. der Altruismus. Bescheidenheit. harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen- Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus.

In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

2.2. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf. Sie wuchs im Laufe der Jahre von einer Rebellengruppe in den Bergen zur wichtigsten politischen Vertretung aller Kurden (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80 Prozent der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP 10.9.2015). Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. G

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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