Entscheidungsdatum
31.05.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L524 2148726-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER LL.B. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.02.2017, Zl. 1047058600-140243655, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.04.2019, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 03.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der am 05.12.2014 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er sei geschieden, Alevit und Kurde. Er stamme aus dem Dorf XXXX in XXXX , XXXX . In XXXX habe er von 1987 bis 1992 die Grundschule und von 1992 bis 1994 die Mittelschule besucht. In der Türkei würden noch seine Mutter, sein Sohn, zwei Schwestern und zwei Brüder leben. Ein weiterer Bruder sei verschollen und sein Vater sei bereits verstorben. In Österreich würden ein Bruder und eine Schwester leben. Der Beschwerdeführer habe die Türkei am 29.11.2014 verlassen und sei am 01.12.2014 schlepperunterstützt illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist.
Hinsichtlich seines Fluchtgrundes brachte er vor, er habe gemeinsam mit seinem Bruder im Juni 2013 an den "Gezi Demonstrationen" teilgenommen. Sie seien dabei zweimal festgenommen und mehrere Tage angehalten worden. Zu diesem Zeitpunkt hätten er und sein Bruder in Istanbul gewohnt und gearbeitet. Da es ständige Polizeibesuche in ihrer gemeinsamen Wohnung gegeben habe, seien sie im Juli 2013 nach XXXX zurückgekehrt. Am 08.10.2014 habe er mit seinem Bruder in XXXX an einer Demonstration für Kobane teilgenommen. Diese sei von der Polizei gestürmt worden und mehrere Personen, unter anderem der Beschwerdeführer und sein Bruder, seien festgenommen worden. Der Beschwerdeführer sei nach sechs Tagen freigelassen worden, sein Bruder aber nicht. Dieser sei seither verschollen. Der Beschwerdeführer sei in sein Dorf zurückgekehrt, habe aber immer Angst gehabt. Seine Freunde hätten ihm zur Ausreise aus der Türkei geraten, da alle vermutet hätten, dass er genauso enden würde wie sein Bruder.
2. Bei der ersten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 08.02.2016 gab der Beschwerdeführer an, dass er bis einen Monat vor der Ausreise mit seiner Mutter und einem Bruder in XXXX in XXXX in XXXX gelebt habe. Nachdem er dort Schwierigkeiten bekommen habe, habe er noch einen Monat in XXXX gelebt. Er habe fünf Jahre die Grundschule in XXXX und vier Jahre die Hauptschule in XXXX besucht, diese aber nicht abgeschlossen. Von 2000 bis 2002 habe er den Grundwehrdienst abgeleistet. Er habe auch verschiedene Arbeitsstellen gehabt, hauptsächlich aber in XXXX in einer Porzellanfabrik gearbeitet. Seine finanzielle Lage sei nach seiner Kündigung 2009 und der Scheidung nicht mehr so gut gewesen. Er habe einen minderjährigen Sohn, der bei seiner ehemaligen Ehegattin lebe. Am 29.11.2014 habe er die Türkei illegal verlassen und sei schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Die Kosten für die Reise hätten 4.000 ? betragen.
Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er bei den Unruhen im Gezi-Park dabei gewesen sei und von der Polizei weiterhin verfolgt worden sei. Aus Angst sei er in sein Heimatdorf XXXX zurückgekehrt. Dort habe er aktiv an Demonstrationen wegen Kobane teilgenommen. Bei diesen Demonstrationen seien mehrere Personen verhaftet worden und sie hätten gehört, dass diese geschlagen und gefoltert worden seien. Auch sein Bruder und er seien verhaftet worden, wobei der Beschwerdeführer nach sechs und sein Bruder erst 20 Tage nach ihm freigelassen worden sei. Nachdem sie erfahren hätten, dass Leute in Gefangenschaft gefoltert und geschlagen würden und ihnen bei einer neuerlichen Inhaftierung dies auch passieren könnte, hätten sie sich entschlossen, nach Istanbul zu gehen, um von dort aus das Land zu verlassen. Über Befragung gab der Beschwerdeführer an, an den Demonstrationen im Gezi-Park für zehn Tage im Sommer 2013 aktiv teilgenommen zu haben. Dabei sei er zweimal festgenommen und mehrere Tage angehalten worden. Er sei bei der ersten Festnahme auch von der Polizei geschlagen worden. Nach der ersten Festnahme seien sein Bruder und er hauptsächlich in ihrer Wohnung in Istanbul geblieben. Die Polizei habe sie etwa eine Woche nach der ersten Haftentlassung ein weiteres Mal direkt von ihrer Wohnung festgenommen. Bei der zweiten Festnahme sei es zu einer bloßen Befragung und zu keinen weiteren Übergriffen gekommen. Etwa zwei Wochen nach der Entlassung seien sie noch in Istanbul geblieben und danach in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Danach hätten sein Bruder und er von Freunden einen Anruf bekommen, die sie zur Teilnahme an einer Demonstration in XXXX aufgefordert hätten. Es sei zu Ausschreitungen gekommen und der Beschwerdeführer sei für sechs Tage, sein Bruder für 20 Tage inhaftiert worden.
3. Bei der zweiten Einvernahme vor dem BFA am 15.02.2016 bestätigte der Beschwerdeführer zunächst die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben. Über Aufforderung, die Ereignisse ab der Rückkehr in das Heimatdorf zu schildern, gab der Beschwerdeführer an, dass er nach seiner Rückkehr im Juli 2013 gearbeitet habe. Von Freunden habe er von einer Demonstration in XXXX erfahren. Rund um sein Dorf seien immer wieder fremde Personen gesichtet worden und in der Stadt XXXX seien an Häusern Schriftzüge mit IS-Parolen gefunden worden. Die Bevölkerung habe daher vermutet, dass die Fremden IS-Kämpfer seien. Der Beschwerdeführer und andere Personen seien davon ausgegangen, dass es sich bei den Fremden um IS-Spione handle, die herausfinden sollten, wo Kurden und Aleviten wohnen. Zur selben Zeit hätten in Kobane Unruhen begonnen. Mit dem Gedanken, dass dies auf ihr kurdisches Gebiet übergreifen könnte, habe er sich entschlossen, etwas dagegen zu unternehmen und an der Demonstration teilgenommen. Die Demonstration habe am 06.10.2013 begonnen und sei friedlich gewesen. Einige Zeit später habe die Polizei die Demonstration auflösen wollen, sie hätten aber weitergemacht und die Polizei habe Tränengas eingesetzt. Am 08.10.2013 seien sein Bruder und er von der Polizei verhaftet worden. Nach sechs Tagen sei der Beschwerdeführer freigelassen worden. Die Polizei habe gesagt, sie habe auch seinen Bruder entlassen habe, dieser sei jedoch nicht nach Hause gekommen. Der Beschwerdeführer habe daher befürchtet, dass sein Bruder eventuell erneut verhaftet worden sei. Deswegen habe er sich fünf Tage nach seiner Freilassung entschlossen, nach Istanbul zu gehen. Am 16.10.2013 sei er in Istanbul gewesen und am 29.10.2013 habe er die Türkei verlassen. Nach dem Vorhalt, dass seine zeitlichen Angaben mit seinen Angaben in der vorangegangenen Einvernahme nicht stimmig seien, erklärte der Beschwerdeführer, dass die Demonstration in Istanbul 2013 und jene in XXXX am 06.10.2014 gewesen sei. Dem Beschwerdeführer wurden auch die Angaben seines Bruders in dessen Asylverfahren vorgehalten, die mit den Angaben des Beschwerdeführers nicht übereinstimmen.
4. Mit Bescheid des BFA vom 13.02.2017, Zl. 1047058600-140243655 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht habe. Es sei auch davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention drohe. Eine Interessenabwägung ergebe, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Auch die Abschiebung sei zulässig.
5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde, in der im Wesentlichen Probleme mit dem Dolmetscher vorgebracht wurden. Die Widersprüche zu den Angaben seines Bruders wurden damit begründet, dass dieser schnell nervös werde und daher bei seiner Einvernahme "wohl irgendetwas" geredet hätte.
6. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 17.04.2019 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an der nur der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Die belangte Behörde entsandte keinen Vertreter. Dem Beschwerdeführer wurde die Gelegenheit eingeräumt, sein Fluchtvorbringen zu schildern. Bereits mit der Ladung zur Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer Berichte zur Lage in der Türkei zur Kenntnis gebracht. Die Vertreterin des Beschwerdeführers gab dazu an, dass diese Berichte bestätigt würden. Der Beschwerdeführer selbst führte aus, wenn darin die Lage der Kurden und Aleviten geschildert werde, habe er keine Stellungnahme abzugeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist Alevit. Er besuchte fünf Jahre die Volksschule und vier Jahre die Mittelschule, welche er jedoch nicht abgeschlossen hat. Der Beschwerdeführer lebte bis zu seinem 17. Lebensjahr in der Stadt XXXX , die in der gleichnamigen Provinz im Osten der Türkei liegt. Danach lebte der Beschwerdeführer in XXXX , das in der gleichnamigen Provinz im Westen der Türkei liegt. Dort leistete der Beschwerdeführer seinen Wehrdienst und heiratete dort auch. Mittlerweile ist der Beschwerdeführer geschieden. Nach Absolvierung des Wehrdienstes lebte der Beschwerdeführer in XXXX , in der gleichnamigen Provinz im Westen der Türkei. Der Beschwerdeführer arbeitete dort im eigenen Lokal, das er ca. 2010 schloss und ging danach nach Istanbul. Dort arbeitete der Beschwerdeführer ca. ab dem Jahr 2011 in einem Eisenwarengeschäft und ca. 2012 in einem anderen Unternehmen.
Der Beschwerdeführer hat ein minderjähriges Kind mit seiner ehemaligen Ehegattin. Diese leben in der Türkei. Im Heimatort des Beschwerdeführers, XXXX , leben die Mutter, zwei Brüder, eine Schwester, ein Onkel mütterlicherseits und sein Cousin väterlicherseits. Eine weitere Schwester lebt in Ankara. Die Brüder des Beschwerdeführers sind berufstätig. Sein Vater ist bereits verstorben. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Verwandten in Kontakt.
Es kann nicht festgestellt werden, wann der Beschwerdeführer die Türkei verließ. Er reiste schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 03.12.2014 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe, wonach er auf Grund seiner Teilnahme an Protesten in Istanbul sowie in XXXX insgesamt dreimal festgenommen worden sei und es bei den folgenden Anhaltungen zu Übergriffen gekommen sei, werden der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt.
Der Beschwerdeführer hat seit ca. März 2018 eine Freundin. Ein gemeinsamer Wohnsitz besteht nicht. Seine Freundin hat ein Kind, welches aber nicht der Beziehung mit dem Beschwerdeführer entstammt. Weiters leben noch ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers, sowie ein Onkel und mehrere Verwandte in Österreich. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt zu diesen Verwandten bzw. besucht diese gelegentlich. Der Beschwerdeführer konnte den Besuch von Deutschkursen nicht nachweisen. Der Beschwerdeführer bezog bis Juni 2018 Leistungen aus der Grundversorgung. Er betreibt seit April 2018 gemeinsam mit seinem Bruder einen Imbiss in Österreich. Der Beschwerdeführer hat auch Freunde. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Der Beschwerdeführer ist gesund.
Ein Bruder des Beschwerdeführers stellte im Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.11.2105, L502 2111717-1/6E, gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, §§ 57 und 55, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:
1. Neueste Ereignisse-Integrierte Kurzinformationen
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a). Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens-und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen. Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen. Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b) Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche(TFM13.3.2019).
Quellen:
? EP -Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlamentwill-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen,Zugriff 14.3.2019
? EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey -European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019
? TFM -Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie; die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts-und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301des Strafgesetzbuches. In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
? PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp? fileid=25425&lang=en,Zugriff28.1.2019
2. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats-und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs-und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments-und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher
Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AM -Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html,Zugriff 19.9.2018
* AM -Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf,Zugriff18.9.2018
* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendumosze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff19.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017): More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/morethan-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff21.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018
* HDN -Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018,Zugriff 19.9.2018
* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-esnach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018
* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true,Zugriff 19.9.2018
* OSCE/PACE -Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 -Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018
* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671? download=true,Zugriff 19.9.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terrororganization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018
* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/,Zugriff10.10.2018
* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terrorinvestigations-in-turkey-in-past-2-years-govt,Zugriff21.9.2018
* ZO -Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedungneue-gesetze-anti-terror-massnahmen,Zugriff20.9.2018
3. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs-und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in denProvinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, XXXX und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren(EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medienfallen (AA10.10.2018a).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise-und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/ Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html,Zugriff 9.10.2018
* BMEIA -Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018
* CoE-CommDH -Council of Europe -Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39en.pdf,Zugriff19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf,Zugriff 18.9.2018
* EDA -Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html,Zugriff 19.9.2018
* MMP -Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January -December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf,Zugriff 20.9.2018
* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tursicherheitslage-suedosten.pdf,Zugriff 24.1.2017
3.1. Gülen-oder Hizmet-Bewegung
Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GMo.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus.
In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).
Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).
Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).
Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC17.4.2018).
Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).
Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution -z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).
Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).
Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war(TM 30.5.2018).
Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018).
Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).
Quellen:
* Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-inistanbul/126289,Zugriff 24.9.2018
* BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846, Zugriff 20.9.2018
* bpb -Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, Zugriff 20.9.2018
* bpb -Bundeszentrale für politische Bildung. Dohrn, Kristina (27.2.2017): Aus Politik und Zeitgeschichte - Türkei: DIE GÜLEN-BEWEGUNG - Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks, http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2017-09-10_online.pdf, Zugriff 20.9.2018
* CoE-CommDH -Council of Europe -Commissioner for Human Rights (7.10.2016): Memorandum onthe humanrights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey [CommDH(2016)35], https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent? documentId=09000016806db6f1,Zugriff 20.9.2018
* DS - Daily Sabah (11.2.2018): Depositing money in Bank Asya on Gülen's order proof of FETÖ membership, https://www.dailysabah.com/investigations/2018/02/12/depositing-money-in-bankasya-on-gulens-order-proof-of-feto-membership-1518386092,Zugriff21.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417turkey-report.pdf,Zugriff 18.9.2018
* GM - Gülen Movement (o.D.): What is the Gülen Movement, http://www.gulenmovement.us/gulen-movement/what-is-the-gulen-movement, Zugriff 20.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (27.5.2016): Turkey to add Gülen movement to list of terror groups: President, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-to-add-gulenmovement-to-list-of-terror-groups-president-.aspx? pageID=238&nID=99762&NewsCatID=338,Zugriff 20.9.2018
* NYT - New York Times (13.4.2017): InsideTurkey's Purge, https://www.nytimes.com/ 2017/04/13/magazine/inside-turkeys-purge.html,Zugriff 24.9.2018
* NYT - New York Times (5.4.2018): Turkish Secret Agents Seized 80 People in 18 Countries, Official Says, https://www.nytimes.com/2018/04/05/world/europe/turkeycoup-arrests-extraditions.html?module=inline,Zugriff9.10.2018
* PACE -Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/ 35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f,Zugriff 20.9.2018
* Der Standard (30.11.2017): EU sieht in Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://derstandard.at/2000068784722/EU-sieht-in-Guelen-Bewegung-keine-Terrororganisation, Zugriff20.9.2018
* Der Standard (20.12.2014): Haftbefehl gegen Erdogan-Feind Gülen, https://derstandard.at/2000009628933/hTuerkischer-Zaman-Chefredakteur-unter-Auflagen-frei#, Zugriff 20.9.2018
* Der Standard (3.10.2018): Polizeieinsatz vor Haus des Erdogan-Gegners Gülen in Pennsylvania, https://derstandard.at/2000088624065/Polizeieinsatz-vor-Haus-des-Erdogan-Gegners-Guelen-in-Pennsylvania,Zugriff 9.10.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (28.4.2018): Turkish gov't jailed 77,081 people since controversial coup attempt in 2016 over alleged links to Gülen movement, https://stockholmcf.org/turkish-govt-jailed-77081-people-since-controversial-coupattempt-in-2016-over-alleged-links-to-gulen-movement/,Zugriff21.9.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov't investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govtinvestigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/, Zugriff 21.9.2018
* taz.gazete (9.2.2018): 7 Jahre Knast wegen 1 Dollar, https://gazete.taz.de/article/? article=!5483559,Zugriff 18.10.2018
* TM -Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to6000-over-gulen-links-in-last-two-months/,Zugriff 21.9.2018
* TM - (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrantsissued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/,Zugriff 21.9.2018
* TP - Turkey Purge (2.9.2018): 445,000 people in Turkey faced investigation over Gulen links so far: ministry, https://turkeypurge.com/445000-people-in-turkey-facedinvestigation-over-gulen-links-so-far-ministry, Zugrif 21.9.2018
* VB -Verbindungsbeamter (VB) des BM.I für die Türkei (26.9.2018): Auskunft des VB perMail
3.2. Terroristische Gruppierungen: PKK - Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Ab Mitte der 1970er Jahre bildete sich eine breitere Front oppositioneller Kurden, die ein gemeinsames Ziel erreichen wollten: mehr Freiheit und am Ende einen unabhängigen Staat. Als Hauptakteur kristallisierte sich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) heraus, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet worden war. Neben dem Kampf gegen den türkischen Nationalismus war sie auch stark marxistisch-leninistisch beeinflusst und machte das kapitalistische und imperialistische System verantwortlich für die Situation der Kurden. Nach dem Militärputsch von 1980 rief Öcalan 1984 den bewaffneten Kampf aus. Über kurdische Provinzen wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee brannte ganze Dörfer nieder, deren Bewohner unter dem Verdacht standen, mit der PKK zu sympathisieren. Das wiederum verschaffte der PKK Zulauf (PW 21.1.2015). Heute teilen mindestens 80% der Kurden im Südosten der Türkei grundlegende Forderungen der PKK: Sie wollen Unterricht ihrer Kinder in der Muttersprache, lokale und regionale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und eine Entschuldigung des Staates für die seit Anfang der Republik betriebene Politik der Leugnung kurdischer Sprache und Kultur, die gewaltsame Assimilationspolitik und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen (SWP
10.9.2015).
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei bzw. Aufstandsbewegung PKK war ursprünglich u.a. gegen die regionale Rückständigkeit im Südosten der Türkei gerichtet (inkl. des fortbestehenden kurdischen Feudalsystems) und verwandelte sich erst in den späten 1980er Jahren in einen Kampf um kulturelle Rechte, regionale Unabhängigkeit bzw. de facto Sezession. Gegenwärtig ist offiziell eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei das Ziel. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 forderte der Konflikt über 40.000 militärische und zivile Opfer. Die PKK ist in der Türkei verboten und wird auch von USA und EU als terroristische Organisation eingestuft. Sie agiert v.a. im Südosten der Türkei, in den Grenzregionen zu Iran und Syrien, sowie im Nord-Irak, wo ihr Rückzugsgebiet liegt (Kandilgebirge) (ÖB 10.2017).
1993 gab es das erste Waffenstillstandsangebot der PKK. Deren Führung verwarf in einer Erklärung das Ziel eines unabhängigen Kurdistans und strebte stattdessen kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung innerhalb der Türkei an. Doch die türkische Regierung war zu keinen Kompromissen bereit und verstärkte ihre Militäroffensive. Im Februar 1999 wurde Abdullah Öcalan festgenommen, was die Führung und Organisation der PKK empfindlich schwächte. Aus dem Gefängnis heraus warb er für eine friedliche Lösung des Konfliktes(PW 21.1.2015).
2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess" (keine offiziellen Verhandlungen), das hieß Direktgespräche des türkischen Nachrichtendienstes MIT mit PKK-Chef Öcalan, wobei HDP-Politiker als Vermittler fungierten. Der Erfolg der HDP bei den Juni-Wahlen 2015 führte zu Kontroversen zwischen der PKK und der HDP betreffend der Frage, wem dieser Erfolg geschuldet sei(ÖB10.2017).
Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung tat dies ihrerseits nach deutlich intensivierten Kampfhandlungen der PKK am 28.7.2015. Mitte August 2015 rief die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die "Selbstverwaltung" aus, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen (BMI-D6.2016).
Türkische Sicherheitskräfte erklärten, allein zwischen Ende Juli und September 2015 mehr als 1.000 PKK-Kämpfer getötet zu haben. Aktionen der PKK sollen im selben Zeitraum mindestens 113 Sicherheitskräfte das Leben gekostet haben(bpb10.4.2018).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den süd-ostanatolischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit hielten zwar an, erreichten jedoch nicht die Intensität des Jahres 2016. Eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat erscheint gegenwärtig unwahrscheinlich (BMIBH 7.2018). Die Regierung lehnt jegliche Verhandlungen mit der PKK bis zu deren völligen Entwaffnung ab (BBC 4.11.2016). Staatspräsident Erdogan verkündete, dass der Kampf gegen die PKK bis zum Jüngsten Tag fortgesetzt würde (HDN 9.6.2016).
Quellen:
* BMI-D -Bundesministerium des Innern (Deutschland) (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsbericht-2015.p