TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/23 W102 2199682-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.12.2019
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Entscheidungsdatum

23.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W102 2199682-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Gerhard MORY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 30.05.2018, Zl. XXXX - XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.10.2018 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 11.01.2016 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 11.01.2016 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, er habe in Afghanistan als Buchhalter und seine Schwester als Lehrerin gearbeitet. Sie seien von den Taliban angegriffen worden und diese hätten ihnen vorgehalten, dass sie für den Staat arbeiten würden. Die Taliban hätten sie mit dem Umbringen bedroht. Er habe den Entschluss zur Ausreise gefasst, nachdem ihn die Taliban mit dem Messer attackiert hätten. Er hätte auch seine Schwester mitgenommen, wenn er mehr Geld gehabt hätte.

In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 03.05.2018 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass seine Familie eine Privatschule und einen Privatkindergarten gehabt habe. Der Beschwerdeführer habe dort im Büro bzw. in der Verwaltung gearbeitet. Ein Mullah sei zu ihm ins Büro gekommen und habe wissen wollen, was sie hier machen würden und verlangt, dass ihm die Kinder vorgestellt und auch im Koran unterrichtet würden. Der Beschwerdeführer habe dies abgelehnt, sie hätten sich dann gegenseitig beschimpft und der Mullah habe ihn auch bedroht, er werde in töten und sei dann gegangen. Zwei Tage später sei der Beschwerdeführer von zwei Taliban angegriffen und geschlagen worden. Einer habe ihn mit dem Messer in den Bauch gestochen. Der Beschwerdeführer sei bewusstlos geworden und im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Dort sei er operiert worden und nach etwa 20 Tagen entlassen worden. Weitere 15 bis 20 Tage sei er zuhause bettlägerig gewesen. Dann sei er ausgereist. Im Fall der Rückkehr fürchte er, von den Taliban verhaftet oder getötet zu werden. Auch Schiiten und Hazara würden immer wieder diskriminiert, an der Uni sei er deshalb bedroht worden. Er sei von acht Studienkollegen vergewaltigt worden.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 30.05.2018, zugestellt am 04.06.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, das Vorbringen widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, der Beschwerdeführer stelle lediglich einen Sachverhalt in den Raum, ohne ihn plausibel darlegen zu können. Auch habe der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung angegeben, er und seine Schwester seien gemeinsam von den Taliban angegriffen worden und später, er habe seine Schwester aus dem Büro geschickt. Auch daraus, dass die Schule bereits geschlossen sei, werde die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers gestützt. Daraus resultierend könne keine Bedrohung durch die Taliban entstehen. Auch habe der Beschwerdeführer keine Unterlagen zu seinem Krankenhausaufenthalt vorlegen können und habe der Beschwerdeführer die strafbaren Handlungen nicht angezeigt. Der behauptete Sachverhalt hinsichtlich der Vergewaltigung erfülle die Voraussetzungen im Sinne einer zumutbaren Mitwirkung nicht. Das lediglich in den Raum gestellte Vorbringen sei kein Fluchtgrund und keiner Verifizierung zugänglich und habe der Beschwerdeführer keine ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen, den Sachverhalt in Afghanistan zur Anzeige zu bringen. Der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig und könne nach seiner Rückkehr wieder bei seiner Familie wohnen. Eine existenzbedrohende Notlage sei nicht erkennbar.

Am 25.06.2018 übermittelte der nunmehrige Rechtsvertreter des Beschwerdeführers seine Vollmacht.

3. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.05.2018 richtet sich die am 28.06.2018 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde, in der ausgeführt wird, die Beweiswürdigung sei nicht nachvollziehbar. Die Behörde habe die länderkundliche Berichtslage außerachtgelassen. Weiter wurde zusätzliches Tatsachenvorbringen erstattet. Dem Beschwerdeführer drohe aufgrund seines islam- und talibanfeindlichen Verhaltens landesweite Verfolgung.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 09.10.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigter Rechtsvertreter und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, dass ihm im Fall der Rückkehr Verfolgung von Seiten der Taliban drohe, im Wesentlichen aufrecht.

Am 06.11.2018 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein, mit der auch beantragt wurde, Fotos in elektronischer Form per E-Mail in Vorlage zu bringen, sowie ein medizinisches Gutachten einzuholen.

Mit Schreiben vom 24.10.2019 brachte das Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderberichte ein und trug dem Beschwerdeführer auf, die Fotos in einer gesetzlich vorgesehenen Einbringungsform in Vorlage zu bringen.

Am 22.11.2019 und am 05.12.2019 langten jeweils Stellungnahmen des Beschwerdeführers am Bundesverwaltungsgericht ein.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

* Kopie Tazkira des Beschwerdeführers

* Kopie des Diploms des Beschwerdeführers

* Registrierungsbestätigung für Privatschule in Afghanistan

* Foto-Konvolut betreffend die pädagogische Tätigkeit des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat

* Foto-Konvolut betreffend die Narbe des Beschwerdeführers

* Medizinische Unterlagen

* Teilnahmebestätigung für Werte- und Orientierungskurs

* ÖSD-Zertifikat für das Niveau B1

* ÖIF-Prüfungszeugnis A1

* Teilnahmebestätigung für Erste-Hilfe-Kurs

* Mehrere Empfehlungsschreiben

* Teilnahmebestätigung für ein Kunstprojekt

* Bestätigungen über ehrenamtliche Arbeit

* Beschäftigungsbewilligungen für den Beschwerdeführer

* Gehaltsabrechnungen des Beschwerdeführers

* Versicherungsdatenauszug

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren am XXXX in XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Paschtu und Deutsch auf dem Niveau B1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Der Vater des Beschwerdeführers stammt aus Helmland, zog aber kurz vor der Geburt des Beschwerdeführers nach XXXX , Nimruz, wo auch der Beschwerdeführer geboren wurde. Als der Beschwerdeführer etwa vier Jahre alt war flüchtete die Familie des Beschwerdeführers vor den sich ausbreitenden Taliban in den Iran, von wo sie schließlich im Jahr 2002 nach Nimruz zurückkehrte. Seither lebte der Beschwerdeführer wieder in seiner Geburtsstadt. Der Beschwerdeführer hat zunächst im Iran und dann in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und ein zweijähriges Studium (Administration und Management) abgeschlossen. Während seiner Schulzeit half der Beschwerdeführer dem Vater bei seiner Arbeit auf Baustellen. Die Familie des Beschwerdeführers, bestehend aus ihm selbst, seinen Eltern, einem Bruder und vier Schwestern, lebte im eigenen Haus.

Ab dem Jahr 2013 betrieb die Schwester des Beschwerdeführers zuhause einen Privatkindergarten. Nach Abschluss seines Studiums arbeite auch der Beschwerdeführer dort im Büro bzw. in der Verwaltung mit und wurde der Kindergarten in ein angemietetes Gebäude verlegt und ab 2015 auch eine Privatschule eröffnet. Drei Schwestern des Beschwerdeführers besorgten Unterricht und Betreuung, während der Beschwerdeführer sich weiterhin um Büro und Verwaltung kümmerte.

Die Familie des Beschwerdeführers lebt weiterhin in XXXX im eigenen Haus. Der Beschwerdeführer steht mit ihr in Kontakt. Die Schwester des Beschwerdeführers betreibt ihren Kindergarten wieder zuhause, die Schule ist geschlossen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer wurde Ende 2015 am Vormittag im Büro der Schule bzw. des Kindergartens von einem Mullah aufgesucht und zur Zusammenarbeit hinsichtlich des Religionsunterrichts aufgefordert. Der Beschwerdeführer lehnte dies ab und teilte dem Mullah auch mit, dass die Kinder in der heutigen Zeit etwa Mathematik, Chemie und Physik lernen sollten und nicht den Koran. Daraufhin kam es zu einem Streitgespräch zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Besucher, während dem der Beschwerdeführer auch mit dem Tode bedroht wurde.

Am Nachmittag desselben Tages wurde der Beschwerdeführer auf dem Heimweg von der Arbeit von zwei Talibanmitgliedern attackiert. Dabei wurde der Beschwerdeführer mit einem Messer in den Bauch gestochen, verlor das Bewusstsein und kam erst im Krankenhaus wieder zu sich. Nach einer Operation, etwa dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt und zwei- bis dreiwöchiger Bettlägerigkeit zuhause reiste der Beschwerdeführer aus.

Die Privatschule wurde gleich nach der Attacke von der Schwester des Beschwerdeführers geschlossen, den Kindergarten betreibt sie seither wieder zuhause.

Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, von den Taliban angegriffen, misshandelt oder getötet zu werden, weil er dadurch, dass er sich der Zusammenarbeit hinsichtlich des Religionsunterrichts verweigert hat, zu erkennen gegeben hat, dass er die religiöse und politische Ideologie der Taliban ablehnt. Dieser Gefahr kann sich der Beschwerdeführer nicht zuverlässig durch einen Umzug innerhalb des Landes entziehen.

Dass der afghanische Staat den Beschwerdeführer vor dieser Bedrohung durch die Taliban schützen kann, ist nicht zu erwarten.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Sprachkenntnissen sowie seinen Lebensumständen und seinem Lebenswandel im Herkunftsstaat ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen ergibt sich aus dem vorgelegten Zertifikat für das Niveau B1 nach dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen.

Hinsichtlich seines Studiums hat der Beschwerdeführer außerdem ein Diplom in Kopie vorgelegt und waren keine Gründe ersichtlich, an den diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Hinsichtlich der Schule ist zunächst dem vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen von Dezember 2017 zu entnehmen, dass sich in Afghanistan neben den beiden großen Bildungssystemen (Maktabs und Madreassas) nach dem Ende der Talibanära ein dritter Sektor entwickelt hat, nämlich private Einrichtungen. Im ganzen Land gebe es über 100 Privatschulen (Kapitel 1.2.4. Beschäftige im Bildungswesen, S. 39). Sohin erscheint grundsätzlich plausibel, dass auch der Beschwerdeführer bzw. seine Familie eine Privatschule betrieben haben. Der Beschwerdeführer hat überdies bereits in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am und 03.05.2018 - und damit bei erster Gelegenheit - eine Registrierungsbestätigung in Vorlage gebracht. Überdies hat der Beschwerdeführer Fotos eingebracht, die die pädagogische Arbeit der Einrichtungen dokumentieren und legte er insbesondere die "Gründungsgeschichte" der Einrichtungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 09.10.2018 plausibel dar. Auch seine pädagogische Motivation erläuterte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht mit großer Überzeugungskraft.

Die Feststellungen zum Verbleib der Familie des Beschwerdeführers beruht auf den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 09.10.2018, wo der Beschwerdeführer überdies auch angab, dass Kontakt zu ihnen bestehe. Auch dass die Schwester lediglich den Kindergarten weiter betreibt und diesen überdies wieder ins Haus verlegt hat, hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft dargelegt, wobei hierzu auch auf die Beweiswürdigung zum Fluchtvorbringen unter 2.2. zu verweisen ist.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zum Fluchtvorbringen beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 03.05.2018 sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 18.10.2018 unter Berücksichtigung der Erstbefragung. Dabei schildert der Beschwerdeführer durchgehend, stringent und im Kern gleichbleibend den festgestellten Ereignisablauf und nennt umfangreiche Details, die sich zu einem konsistenten und umfassenden Bild der Gesamtsituation zusammenfügen. Auf Nachfrage antwortet der Beschwerdeführer nicht ausweichend, sondern stets ausführlich und plausibel.

Hinsichtlich des von der belangten Behörde beweiswürdigend ins Treffen geführten "Widerspruches", der Beschwerdeführer habe im Rahmen der Erstbefragung erzählt, dass er und seine Schwester gemeinsam von den Taliban angegriffen worden seien und später, er habe die Schwester aus dem Büro geschickt, als der Mullah bei ihm gewesen sei und man hätte ihm vorgeworfen, für den Staat zu arbeiten (angefochtener Bescheid, S. 92, AS 198) ist die Behörde zunächst darauf hinzuweisen, dass die Erstbefragung gemäß § 19 Abs 1 zweiter Satz AsylG insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute dient und sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Naturgemäß werden daher in der Erstbefragung keine umfangreichen Angaben zu den Fluchtgründen gemacht. Allerdings zeichnet der Beschwerdeführer bereits in der Erstbefragung die Talibanbedrohung in Grundzügen vor und erwähnt die später ausführlicher geschilderte Messerattacke. Zusätzlich darf angemerkt werden, dass aus dem Protokoll der Erstbefragung etwa nicht klar hervorgeht, in welcher Sprache die Erstbefragung durchgeführt wurde. So findet sich unter "Gesprochene Sprach" Englisch, während gleichzeitig die Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache "Farsi" protokolliert ist. Als "Muttersprache" ist ebenso Farsi angegeben. Sohin ist offenbar nicht von einer übermäßigen Sorgfalt bei der Protokollierung im Zuge der Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.01.2016 auszugehen. Weiter sind die Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung nicht im von der Behörde angeführten Wortlaut ("gemeinsam") protokolliert, sondern erwecken dem Stil nach eher den Eindruck einer (wie es der dem Zweck der Erstbefragung entspricht) sehr kursorischen Protokollierung, die die späteren detaillierten Ausführungen des Beschwerdeführers nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts dennoch bereits vorzeichnet.

Hinsichtlich der Ausführung der belangten Behörde, dass daraus, dass die Schule bereits geschlossen sei, die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers gestützt werde, daraus resultierend könne auch keine Bedrohung durch die Taliban entstehen (angefochtener Bescheid S. 92, AS 198), bleibt unklar, inwiefern der Umstand, dass die Schule geschlossen ist, einen Rückschluss auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers erlaubt. So erscheint grundsätzlich plausibel, dass die Schwester des Beschwerdeführers nach einer Messerattacke auf den Beschwerdeführer die Schule geschlossen hat. Weiter bleibt der Schluss der Behörde, der Beschwerdeführer sei nicht mehr bedroht, weil die Schule bereits geschlossen sei, völlig unbegründet und entspricht überdies nicht der Lage im Herkunftsstaat, so wie sie sich aus den Länderberichten - zu denen die Behörde das Fluchtvorbringen im Übrigen nicht in Bezug gesetzt hat - ergibt.

So stuft die vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 24.10.2019 in das Verfahren eingebrachte EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (in der Folge EASO Country Guidance) Mitarbeiter im Bildungswesen als potentiell gefährdete Personengruppe ein (Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 7. Educational personnel, S. 54-55), wobei berichtet wird, dass es der aktuellen Strategie der Aufständischen entspricht, Schulen nicht zu schließen, sondern Druck auf sie auszuüben und die Kontrolle über sie zu erlangen. Auf lokaler Ebene komme es zu Vereinbarungen zwischen Aufständischen und Bildungseinrichtungen. Die bloße Mitarbeit in einer Bildungseinrichtung führe dagegen nicht dazu, dass die betroffene Person gleichsam automatisch zum Angriffsziel werde. Die nach der EASO Country Guidance individuell insbesondere relevanten Risikofaktoren sind die Herkunft aus einem umkämpften Gebiet, dass die Person bzw. die Bildungseinrichtung dem Lehrplan bzw. den Anordnungen der Aufständischen nicht folgt, Verbindungen zu ausländischen Sponsoren sowie, dass die Person sich gegen die Taliban ausgesprochen hat.

Ausführlicher berichtet der EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen von Dezember 2017 zur vom Beschwerdeführer geltend gemachten Gefährdungssituation, dass die Taliban Schulen und Lehrkräfte grundsätzlich nicht mehr als Angriffsziel betrachten und keine einheitliche Strategie der Schließung von Schulen verfolgen, auch wenn dennoch weiterhin Angriffe auf Schulen, Lehrkräfte, etc. stattfinden (Kapitel 1.2.4.2 Gezielte Angriffe auf Bildungseinrichtungen seit 2001, S. 40). Aktuelles Ziel sei aber die Erlangung der Kontrolle über die Schulen, die mittels lokaler Vereinbarungen vor Ort durchgesetzt werde. Es würden unter anderem Vereinbarungen bezüglich des Lehrplans getroffen. Es müssten die von den Taliban empfohlenen Lehrkräfte für die religiösen Fächer eingestellt und den Taliban erlaubt werden, die Schulen zu überwachen. Dies sei insbesondere im Süden lokale Praxis (Kapitel 1.2.4.3 Die Einstellung der Taliban zum Thema Bildung seit 2017, S. 40 ff.). Die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers zählt zu den südlichen Provinzen und berichtet bereits das von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsblatt, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, dass Aufständische in der Provinz aktiv sind und Sicherheitsoperationen durchgeführt würden, um gewisse Gegenden von Aufständischen zu befreien (Kapitel 3. Sicherheitslage, Unterkapitel 3.23. Nimroz). Dem aktuellen EASO COI Report. Afghanistan. Security situation von Juni 2019 lässt sich entnehmen, dass weite Teile der Provinz umkämpft sind, unter Taliban Kontrolle stehen bzw. dass die Taliban dort präsent sind (Kapitel 2.24 Nimroz, insbesondere Tabelle auf S. 222), wobei auch das Länderinformationsblatt, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, bereits berichtete, dass große Teile der Provinz Nimroz unter Talibankontrolle stehen (Kapitel 3. Sicherheitslage, Unterkapitel 3.23. Nimroz).

Für den konkreten Fall lässt sich daraus einerseits gewinnen, dass das vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehen, demzufolge ihn ein Mullah der Taliban aufgesucht und aufgefordert hat, seine Schüler sollten neben dem übrigen Unterricht auch Koranunterricht durch den Mullah erhalten, sich mit dem in den eben zitierten Berichten beschriebenen Vorgehen der Taliban deckt. Demnach wurde dem Beschwerdeführer eine derartige lokale Vereinbarung angetragen, die er aber abgelehnt hat.

Insgesamt weisen die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers mehrere der von der EASO Country Guidance aufgezählten Risikofaktoren auf (S. 55). So stammt der Beschwerdeführer aus einem umkämpften Gebiet, hat sich den Anordnungen der Taliban verweigert und sich in der Folge auch gegenüber dem ihn auffordernden Mullah gegen die Taliban ausgesprochen. So hat der Beschwerdeführer etwa dadurch, dass er dem Mullah mitgeteilt hat, die Kinder sollten nicht den Koran, sondern Chemie, Physik und Mathematik lernen, klar zu erkennen gegeben, dass er die religiöse Ideologie der Taliban nicht teilt und so auch zu erkennen gegeben, dass er ihre (mit ihrer religiösen Ideologie untrennbar vermengte) politische Ideologie ablehnt. Insbesondere betont die EASO Country Guidance, dass die Ablehnung des Taliban-Lehrplanes zu religiös motivierten Übergriffen führen kann (S. 55). Auch der EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen von Dezember 2017 berichtet, dass es zu gezielten Angriffen führt, wenn sich eine Person gegen die Taliban ausspricht (1.2.4.3 Die Einstellung der Taliban zum Thema Bildung seit 2017, Kapitel S. 42). Sohin ist die Schilderung des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der Länderberichte plausibel.

Weiter stehen die Ausführungen der belangten Behörde hinsichtlich der von einem "vernunftbegabten Menschen" zu erwartenden Anzeige einer strafbaren Handlung an die zuständige Exekutive nicht im Einklang mit jener "allgemeinen Lebenserfahrung" (angefochtener Bescheid S. 93, AS 199), die nach den Länderberichten von Afghanen zu erwarten ist, die die belangte Behörde im Übrigen zu haben behauptet (angefochtener Bescheid, S. 92, AS 198). So berichten etwa die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in der Folge: UNHCR-Richtlinien) dass die Umsetzung der Menschenrechte mangelhaft bleibt und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit als besonders schwach wahrgenommen wird. Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, werde untergraben, das förmliche Justizsystem sei schwach und unfähig, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Die Korruption sei groß und es herrsche ein Klima der Straflosigkeit. Täter von Menschenrechtsverletzungen würden selten zur Rechenschaft gezogen (Abschnitt II. Überblick über die Situation in Afghanistan, Kapitel C. Die Menschenrechtssituation, Unterkapitel 2. Die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, S. 34 f.). Im Wesentlichen inhaltsgleich berichtet auch das Länderinformationsblatt von der Lage hinsichtlich Menschenrechte, Justiz etc. (siehe insbesondere Kapitel 3. Rechtsschutz/Justizwesen und Kapitel 10. Allgemeine Menschenrechtslage). Auch die EASO Country Guidance schätzt die Durchsetzung der Gesetze sowie die afghanische Justiz im Allgemeinen als schwach ein. Die Behörden seien generell nicht in der Lage, Verfolgungsakte und schwere Übergriffe effizient zu ermitteln, zu verfolgen und zu bestrafen (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel IV. Actors of protection, Abschnitt The State, S. 122-124). Demnach entspricht die Erwartung der belangten Behörde, dass der Beschwerdeführer Anzeige hätte erstatten müssen, nicht der afghanischen Lebensrealität. Hieraus ergibt sich überdies, dass der Beschwerdeführer nicht damit rechnen kann, von den afghanischen Behörden zukünftig vor Taliban-Übergriffen geschützt zu werden, weswegen eine entsprechende Feststellung getroffen wurde.

Insgesamt ergibt sich sohin, dass das vom Beschwerdeführer geschilderte Bedrohungsszenario von den Länderberichten bestätigt wird, sowie, dass die belangte Behörde eine umfassende, ganzheitliche Würdigung des konkreten Fluchtvorbringens vor dem Hintergrund der Länderberichte zugunsten einer vorgeblichen Beweiswürdigung ohne Begründungswert, die sich im Wesentlichen darauf beschränkt, einzelne Aspekte des Vorbringens herauszugreifen und daraus scheinbare Widersprüche und Unplausibilitäten zu konstruieren, unterlassen hat.

Hinsichtlich des vom Beschwerdeführer beantragten medizinischen Sachverständigengutachtens betreffend die Narbe des Beschwerdeführers ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht - wie eben ausgeführt - bereits aufgrund der konsistenten Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der Länderberichte Feststellungen getroffen hat, die dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers entsprechen. Dem Antrag war sohin nicht zu folgen.

Hinsichtlich der im Herkunftsstaat aufhältigen Angehörigen ist anzumerken, dass sich den Länderberichten zwar entnehmen lässt, dass die Taliban zwar mitunter auch Repressionen und Vergeltungsmaßnahmen gegen Familienangehörige von Gegner nach dem Prinzip der Sippenhaft richten (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 1. Personen die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Buchstabe k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, S. 54 f.). Allerdings konnten die Taliban bei ihrer Messerattacke des Beschwerdeführers selbst habhaft werden und ihn beinahe töten und ist die Schule, in der die Taliban ihren Vorstellungen entsprechenden Koranunterricht eingeführt wissen wollten, zwischenzeitig geschlossen und der Privatkindergarten wieder in den häuslichen Rahmen verlegt worden. Sohin ist den eben zitierten UNHCR-Richtlinien zufolge kein Grund ersichtlich, dass die Taliban zusätzliche Repressionen gegen Angehörige des Beschwerdeführers richten sollten. Auch war die Schwester beim Streit mit dem Mullah nicht zugegen, sondern hat der Beschwerdeführer sie hinausgeschickt und die Weigerung allein ausgesprochen und sich so als Taliban-Gegner zu erkennen gegeben. Das Bundesverwaltungsgericht hegt zusätzlich - unter Berücksichtigung der konservativ-traditionellen Rolle der Frau in Afghanistan (z.B. Länderinformationsblatt, Kapitel 18. Bevölkerungsgruppen, Unterkapitel 18.1. Frauen) - auch erhebliche Zweifel, dass die Taliban die verantwortungs- und entscheidungstragende Rolle in der Privatschule der Schwester des Beschwerdeführers zugeschrieben haben, wobei auch der Beschwerdeführer selbst diese Rolle augenscheinlich ausschließlich sich selbst zuschreibt, hat er doch seine Schwester hinaus geschickt und - ohne Rücksprache mit seiner Schwester zu halten - die Forderung des Mullahs abgelehnt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 09.10.2018 ausschließlich seine eigene Einstellung zur Ideologie der Taliban und dem Unterricht, den die Kinder in seiner Schule bekommen sollten, referiert. Seit dem Angriff auf den Beschwerdeführer ist die Schule dagegen geschlossen, was wiederum darauf hinweisen dürfte, dass der Beschwerdeführer die verantwortungs- und entscheidungstragende Rolle innehatte. Dass auf die im Herkunftsstaat verbliebene Schwester und die übrige Familie kein Angriff erfolgt ist, ist folglich kein Indiz dafür, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers nicht glaubhaft ist.

Hinsichtlich einer dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr drohenden Gefahr, von den Taliban angegriffen, misshandelt oder getötet zu werden, weil er zu erkennen gegeben hat, dass er die religiöse und politische Ideologie der Taliban ablehnt, ist auszuführen, dass sich eine diesbezügliche Gefährdung bereits aus dem in der Vergangenheit gegen den Beschwerdeführer ausgeführten Angriff ableiten lässt. Auch wenn die Schule zwischenzeitig geschlossen ist, hat der Beschwerdeführer durch und bei seiner Ablehnung deutlich zu erkennen gegeben, dass er die politische und religiöse Ideologie der Taliban ablehnt. Sohin ist auch für die Zukunft damit zu rechnen, dass der Beschwerdeführer von den Taliban angegriffen, misshandelt oder getötet werden könnte, sobald er in die Herkunftsprovinz zurückkehrt und öffentlich in Erscheinung tritt, weil er etwa einen seiner Berufserfahrung und Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz annimmt und am gesellschaftlichen Leben teilnimmt.

Hinsichtlich der Feststellung, dass der Beschwerdeführer sich den Übergriffen der Taliban nicht durch einen Umzug innerhalb des Landes entziehen kann, ist auszuführen, dass sich zunächst aus dem vom Beschwerdeführer in das Verfahren eingebrachten Landinfo report Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne von 23.08.2017 ergibt, dass die Taliban über ein landesweites Informationsnetzwerk verfügen. Auch die UNHCR-Richtlinien gehen von einem geografisch großen Wirkungsradius insbesondere der Taliban und davon aus, dass es innerhalb das Landes keine Möglichkeit gibt, sich ihnen zu entziehen (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel C. Interne Flucht-, Neuansiedelungs- oder Schutzalternative, Unterkapitel 1. Analyse der Relevanz, S.120-121). Dies bestätigt auch die EASO Country Guidance, die zur Reichweite der Taliban berichtet, dass ihre Informationsnetzwerke und ihr Geheimdienst bis in die afghanischen Städte reichen (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel I. Actors of persecution, Abschnitt Insurgent groups, S. 44-45). Auch berichtet wird vom Vollzug gezielter Tötungen in den Städten, sowie von Talibankampagnen gezielter Gewalt (EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan. Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Kapitel 1.1.4.1 Das Ziel der Kampagne gezielter Gewalt durch die Taliban, S. 18). Insbesondere würden die Taliban in Städten auch Personen angreifen, die keine besonders hohe öffentliche Stellung haben. Derartige Angriffe würden bloß der Demonstration dienen, wie weit der Arm der Taliban reiche, um andere bedrohte Einzelpersonen einzuschüchtern (EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan. Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Kapitel 1.1.5.5 Unterschiede zwischen Stadt und Land, S. 27). Angesichts dieser Reichweite ist nicht ersichtlich, dass sich der Beschwerdeführer in einer andere (sicher erreichbaren) Region des Herkunftsstaates dauerhaft gefahrlos und unbehelligt niederlassen könnte.

Hinsichtlich der ebenso vorgebrachten Vergewaltigung und der behaupteten Verfolgungsgefahr wegen der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers unterbleibt eine beweiswürdigende Auseinandersetzung (siehe dazu Rechtliche Beurteilung, unter 3.3.).

Zur Plausibilität, Seriosität und Aktualität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die in den herangezogenen Gesamtaktualisierungen des Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und auch EASO in den vom Verwaltungsgerichtshof zitierten Normen durch explizite Nennung als Quelle für Herkunftslandinformationen besonders hervorgehoben wird. Folglich stützt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die angeführten Länderberichte, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail oben erfolgt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zum Fluchtvorbringen einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der Religion und der politischen Gesinnung

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

"Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs als ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt "Verfolgung" als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (zuletzt VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182 mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 30.08.2018, Ra 2017/18/0119 mwN).

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, konnte der Beschwerdeführer für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat glaubhaft machen, dass ihm die Gefahr droht, von den Taliban angegriffen, misshandelt oder getötet zu werden, weil er dadurch, dass er sich der Zusammenarbeit hinsichtlich des Religionsunterrichtsverweigert hat, zu erkennen gegeben hat, dass er die religiöse und politische Ideologie der Taliban ablehnt. Sohin konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass ihm im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus Gründen der Religion und der politischen Gesinnung Verfolgung durch Private droht.

Wie ebenso festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt, ist nicht zu erwarten, dass der afghanische Staat den Beschwerdeführer vor dieser Bedrohung durch die Taliban schützen kann.

Sohin konnte der Beschwerdeführer für den Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat glaubhaft machen, dass ihm im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes asylrelevante Verfolgung droht.

3.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative

Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.

Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann.

Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind nach dem klaren Wortlaut des § 11 AsylG zwei getrennte und selbstständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative zu unterscheiden, nämlich die Frage, ob Schutz gewährleistet ist, sowie die Frage, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann (VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001 mwN). Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt kann sich der Beschwerdeführer der von den Taliban ausgehenden Gefahr nicht zuverlässig durch einen Umzug innerhalb des Landes entziehen.

Damit steht dem Beschwerdeführer mangels Verfügbarkeit von Schutz iSd § 11 Abs. 1 AsylG in einem Teil des Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung. Eine Auseinandersetzung mit der Zumutbarkeit des Aufenthaltes in einem möglichen Neuansiedelungsgebiet erübrigt sich sohin, wobei auch auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen ist, der in der Vergangenheit der Annahme fehlenden Schutzes iSd § 11 AsylG vor Talibanverfolgung in Afghanistan nicht entgegentrat, sofern er diese Schlussfolgerung auf solide beweiswürdigende Grundlage gestellt sah (Vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0330).

3.3. Zum Übrigen Fluchtvorbringen

Zum weiteren Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, nämlich der vorgebrachten Vergewaltigung und der behaupteten Verfolgungsgefahr wegen der Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ist auszuführen, dass sich angesichts der bereits bejahten Verfolgungsgefahr (siehe oben unter 3.1.) eine beweiswürdigende und rechtliche Auseinandersetzung mit den weiteren möglichen Fluchtgründen erübrigt.

3.4. Zum Nichtvorliegen eines Asylausschlussgrundes

Nach § 3 Abs. 2 Z 2 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn der Fremde einen Asylausschlussgrund nach § 6 AsylG gesetzt hat. Dass der Beschwerdeführer einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 1 bis 4 AsylG gesetzt hat, ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

3.5. Zur Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG

Zu Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 ist anzumerken, dass die Bestimmung nach § 75 Abs. 24 AsylG auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, nicht anzuwenden ist. Nachdem der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz am 11.01.2016 gestellt hat, kommt daher § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 zur Anwendung.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter hat somit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erfolgen. Auch gemäß § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 kommt dem Asylberechtigten eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung zu, ohne dass eine darüberhinausgehende Erteilung dieser Berechtigung vorzunehmen wäre (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

Dem Beschwerdeführer war daher spruchgemäß nach § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Ihm kommt damit unmittelbar kraft Gesetzes (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373) eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, die (vorerst) für drei Jahre gilt.

4. Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorliegt. Hinsichtlich des Fluchtvorbringens folgt das Bundesverwaltungsgericht der unter 3.1. zitierten ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtes zum Themenkomplex der privaten Verfolgung (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN und VwGH 30.08.2018, Ra 2017/18/0119 mwN). Für die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts waren dagegen beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich, wobei anzumerken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof der Annahme fehlenden Schutzes iSd § 11 AsylG vor Talibanverfolgung in Afghanistan nicht entgegentritt, sofern er diese Schlussfolgerung auf solide beweiswürdigende Grundlage gestellt sieht (Vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0330).

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung befristete Aufenthaltsberechtigung politische Gesinnung private Verfolgung Schutzunfähigkeit wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W102.2199682.1.00

Im RIS seit

28.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.07.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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