TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/20 G314 2226867-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.01.2020
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Entscheidungsdatum

20.01.2020

Norm

BFA-VG §18 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3

Spruch

G314 2226867-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der deutschen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX11.2019, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots beschlossen (A) und zu Recht erkannt (B):

A) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.

B) Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass es insgesamt neu gefasst zu lauten hat:

"1. Gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG wird gegen die Beschwerdeführerin ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

2. Gemäß § 70 Abs 3 FPG wird der Beschwerdeführerin ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt."

C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführer (BF) wurde im Verfahren XXXX des Landesgerichts XXXX zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sie aktuell in der Justizanstalt XXXX verbüßt. Mit dem Schreiben des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 19.03.2019 wurde sie aufgefordert, sich zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu äußern und Fragen zu ihrem Aufenthalt und ihren Bindungen in Österreich zu beantworten. Sie erstattete eine entsprechende Stellungnahme.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde gegen die BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II.) und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung begründet. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege das persönliche Interesse der BF an einem Verbleib in Österreich, zumal sie den Kontakt zu Familienangehörigen und Freunden über soziale Medien und bei Besuchen außerhalb von Österreich aufrecht halten könne.

Dagegen richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und auf Durchführung einer Beschwerdeverhandlung. Die BF strebt primär die Behebung des Aufenthaltsverbots, hilfsweise die Herabsetzung der Dauer, an und stellt auch einen Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag. Sie begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass die Behörde wichtige Ermittlungsschritte unterlassen habe, weil sie ohne vorherige persönliche Einvernahme der BF entschieden habe und genauere Erhebungen zu deren Privat- und Familienleben hätte anstellen müssen. Sie sei seit mehr als zehn Jahren in Österreich und spreche fließend Deutsch; sie bereue ihre Tat, zu der sie von ihrer Mittäterin überredet worden sei. Die Behörde habe ihre Selbsterhaltungsfähigkeit, die Arbeit während der Haft und die Einstellungszusage für die Zeit nach der Enthaftung nicht berücksichtigt. Die Feststellungen im angefochtenen Bescheid seien oberflächlich, kaum auf den konkreten Fall bezogen und so kurz, dass nicht erkennbar sei, von welchem konkreten Sachverhalt die Behörde ausgegangen sei. So sei die Feststellung, dass die BF mittellos sei, falsch; die Feststellungen zu ihrem Privat- und Familienleben und zu den Gründen für die Erlassung des Aufenthaltsverbots seien unzureichend. Auch die Beweiswürdigung sei mangelhaft. Die BF könne das intensive Familienleben mit ihren Eltern, mit denen sie in einem gemeinsamen Haushalt wohne, in Deutschland nicht weiterführen; Kontakte über moderne Medien seien nicht ausreichend. Die BF habe sich seit 2009 kaum in Deutschland aufgehalten; sie habe dort keine Freunde. Die Behörde habe die Milderungsgründe unberücksichtigt gelassen. Die BF sei bis vor ihrer einzigen Tat, an der sie lediglich als Beitragstäterin beteiligt gewesen sei, unbescholten gewesen. Auch die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Bescheids sei falsch, zumal die Behörde keine nachvollziehbare Gefährdungsprognose erstellt habe. Ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot sei unverhältnismäßig.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens vor.

Feststellungen:

Die BF wurde am XXXX1996 in der deutschen Stadt XXXX, die an der Grenze zu Österreich liegt, geboren. Sie ist deutsche Staatsangehörige; ihre Muttersprache ist Deutsch (Reisepass, Seite 17 der Verwaltungsakten; Stellungnahme der BF, Seite 37 der Verwaltungsakten). Sie besuchte in Deutschland die Volksschule und übersiedelte im November 2009 mit ihren Eltern und ihren Geschwistern nach Österreich, weil ihr Vater in XXXX arbeitete (Stellungnahme der BF, Seite 37 der Verwaltungsakten). Am 17.02.2010 wurde ihr eine Anmeldebescheinigung als Familienangehörige ausgestellt (IZR-Auszug). Die BF lebte bis zu ihrer Verhaftung in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrem Vater, einem deutschen Staatsangehörigen, ihrer Mutter, einer Staatsangehörigen von Bosnien und Herzegowina, und ihren 1998, 1999 und 2005 geborenen Geschwistern in XXXX (Stellungnahme der BF, Seite 37 der Verwaltungsakten; Auszüge aus dem ZMR). Ihr ältester Bruder zog im April 2019 an eine andere Adresse in derselben Stadt (ZMR-Auszug).

Die BF setzte ihre Ausbildung in Österreich mit dem Besuch der Mittelschule und der Polytechnischen Schule fort und absolvierte anschließend zwischen 2012 und 2015 eine Lehre (Stellungnahme der BF, Seite 37 der Verwaltungsakten; Versicherungsdatenauszug). Danach war sie von August 2015 bis Februar 2016 und von Juli 2016 bis August 2018 im Bundesgebiet vollversichert erwerbstätig, bezog von Oktober 2018 bis Februar 2019 Arbeitslosengeld und war von 11. bis 13.03.2019 geringfügig als Kellnerin beschäftigt (Versicherungsdatenauszug). Außerdem war sie ab Anfang 2019 auf Werkvertragsbasis als XXXX für das Begleitservice ihrer späteren Mittäterin XXXX tätig. Sie erzielte zuletzt ein monatliches Gesamteinkommen von EUR 400. Sie ist ledig und kinderlos und hat weder Vermögen noch nennenswerte Schulden (Urteil des Landesgerichts XXXX, Seite 3).

Am XXXX03.2019 wurde die BF verhaftet; in der Folge wurde sie in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungs- bzw. Strafhaft angehalten (Verständigung Justizanstalt XXXX, Seite 13 der Verwaltungsakten; Vollzugsinformation, Seite 19 der Verwaltungsakten; ZMR-Auszug). Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX, in der Fassung des Urteils des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX, wurde sie wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB (ausgehend von einem Strafrahmen von einem bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe) rechtskräftig zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass sie gemeinsam mit XXXX, die sie über deren Begleitservice kannte, im März 2019 zunächst einen Raubüberfall auf eine Tankstelle plante, wovon sie letztlich wieder abließen. Am XXXX03.2019 fassten beide den Entschluss, einen zuvor von XXXX ausgekundschafteten Juwelier zu überfallen. Sie organisierten Klebeband zur Fesselung der Verkäuferin, einen Beutel für die Beute sowie eine Sonnenbrille zur Maskierung und vereinbarten, dass XXXX die Beute verkaufen und sie den Erlös dann aufteilen würden. Nachdem sie sich entsprechend ausgestattet und vorbereitet hatten, beobachteten sie zunächst das Juweliergeschäft. Die BF betrat dann - dem gemeinsamen Tatplan entsprechend - das Geschäft und gab sich als Kundin aus. Sie schickte XXXX (wie zuvor vereinbart) ein SMS, dass "die Luft rein" sei. Diese betrat daraufhin vermummt das Geschäft, forderte die Mitarbeiterin mit vorgehaltener Schreckschusspistole auf, den Tresor zu öffnen und den Schmuck in den mitgebrachten Beutel zu geben, und nahm auch selbst Schmuckstücke aus dem Tresor. Anschließend fesselte die BF die Verkäuferin im Tresorraum mit Klebeband. XXXX flüchtete mit Bargeld von ca. EUR 830 und Schmuck im Wert von mehr als EUR 10.000. Der Verkäuferin gelang es, sich aus der Fesselung zu befreien; sie verständigte die Polizei und nahm die Verfolgung von XXXX aus. Die im Geschäft verbliebene BF warnte XXXX noch telefonisch, beide wurde allerdings kurze Zeit später von der Polizei festgenommen. Die Verkäuferin erlitt durch die Tat psychische Gesundheitsstörungen mit Krankheitswert (Schlafstörungen und Probleme bei der Arbeit, die eine psychologische Behandlung notwendig machten) (Urteile des Landesgerichts XXXX und des Oberlandesgerichts XXXX).

Die BF wurde nicht als Beitragstäterin, sondern als unmittelbare Täterin verurteilt, weil sie sich (in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit XXXX) in der Ausführungsphase am Raub beteiligte (Urteil des Landesgerichts XXXX, Seite 7). Es handelt sich um ihre erste und bislang einzige strafgerichtliche Verurteilung (Strafregister). Bei der Strafzumessung wurden das Geständnis, die bisherige Unbescholtenheit und die Sicherstellung der Beute als mildernd berücksichtigt. Erschwerend wirkten sich die Tatbegehung mit einer Mittäterin, die beim Opfer verursachte Gesundheitsstörung, die Tatbegehung unter Anwendung beider Tatmittel des § 142 Abs 1 StGB (Gewalt gegen eine Person und Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben) und der Umstand, dass die Tat reiflich überlegt und sorgfältig vorbereitet war, aus. Eine untergeordnete Tatbeteiligung der BF wurde angesichts der ausführlichen Vorbereitungshandlungen und ihrer konkreten Tathandlungen, insbesondere der Fesselung des Opfers, verneint (Urteil des Oberlandesgerichts XXXX, Seite 8 ff).

Die BF verbüßte die Strafe bis XXXX01.2020 in der Justizanstalt XXXX und wird seither in der Justizanstalt XXXX angehalten (ZMR-Auszug). Sie wird während der Haft regelmäßig von ihren Eltern und Freunden besucht. Ihre bedingte Entlassung ist frühestens im September 2020 möglich (Verständigung der Justizanstalt XXXX vom 15.01.2020). Sie strebt den Strafvollzug im elektronisch überwachen Hausarrest an und wird dabei im Rahmen der Haftentlassenenhilfe unterstützt, wobei sie in Gesprächen Verantwortung für ihre Tat, die sie bereut, übernommen hat, und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen möchte, um zukünftig ein ordnungsgemäßes Leben zu führen (Stellungnahme Neustart vom 12.12.2019, Seite 129 der Verwaltungsakten).

Nach der Haftentlassung kann die BF wieder (wie vor der Inhaftierung) in der Wohnung ihrer Eltern wohnen (Bestätigungen, Seite 133 ff der Verwaltungsakten). Sie hat eine Einstellungszusage für eine Beschäftigung als Küchenhilfe in XXXX und XXXX im Ausmaß von 30 Wochenstunden (E-Mail der XXXX, Seite 131 der Verwaltungsakten).

In Deutschland hat die BF keine nahen Bezugspersonen. Ihre Freunde und Bekannten leben in Österreich. Sie ist gesund und arbeitsfähig (Stellungnahme der BF, Seite 37 der Verwaltungsakten).

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG. Die Feststellungen basieren auf den jeweils in den Klammerzitaten angeführten Beweismitteln, insbesondere auf den Strafurteilen sowie auf den schlüssigen und plausiblen Angaben der BF und den von ihr vorgelegten Urkunden. Auch insoweit liegen kaum entscheidungswesentliche Widersprüche vor.

Die Feststellungen zur Identität der BF und zu ihren persönlichen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben in den Strafurteilen und der damit in Einklang stehenden Kopie aus ihrem am 09.10.2018 ausgestellten Reisepass. Sie schilderte den Schulbesuch und den Umzug nach Österreich in ihrer Stellungnahme gut nachvollziehbar, zumal sie laut dem Zentralen Melderegister (ZMR) seit November 2009 durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet ist. Die Anmeldebescheinigung ist im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) dokumentiert. Aus dem ZMR gehen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern und der bis 09.04.2019 bestandene gemeinsame Haushalt der Familie, zuletzt an der XXXX, hervor. Der ältere Bruder der BF, der am XXXX geborene XXXX, ist laut ZMR seit 09.04.2019 an der Adresse XXXX, mit Hauptwohnsitz gemeldet, sodass davon auszugehen ist, dass er seither nicht mehr mit seinen Eltern und Geschwistern zusammenlebt.

Die Lehr- und Beschäftigungsverhältnisse der BF werden anhand des Versicherungsdatenauszugs festgestellt, aus dem auch der Bezug von Arbeitslosengeld hervorgeht.

Der Familienstand der BF ergibt sich aus dem Strafurteil. Anhaltspunkte für eine Eheschließung oder eigene Kinder bestehen nicht. Die BF bezeichnete sich in ihrer Stellungnahme an das BFA als gesund; es sind keine Indizien für gesundheitliche Beeinträchtigungen aktenkundig. Da sie bis zu ihrer Inhaftierung erwerbstätig war und eine Einstellungszusage vorliegt, ist (auch angesichts ihres Alters) von ihrer Erwerbsfähigkeit auszugehen.

Die strafgerichtliche Verurteilung der BF wird anhand des Strafregisters sowie des erst- und des zweitinstanzlichen Strafurteils festgestellt. Es gibt keine Anhaltspunkte für weitere strafrechtliche Verurteilungen der BF oder andere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Die Beschwerdebehauptung, wonach sie als Beitragstäterin nur untergeordnet an der Tat beteiligt gewesen sei, wird durch die gegenteiligen Ausführungen in den Strafurteilen eindrücklich widerlegt, sodass ihr insoweit nicht gefolgt werden kann.

Da die BF laut ZMR nach wie vor bei ihren Eltern mit Hauptwohnsitz gemeldet ist, ist glaubhaft, dass sie dort nach der Entlassung aus der Haft wieder wohnen kann und dass sie während dem Strafvollzug regelmäßig von ihren Eltern und anderen Bezugspersonen (wie in § 93 StVG vorgesehen) besucht wird.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Aufgrund der in § 18 Abs 5 BFA-VG angeordneten amtswegigen Prüfung der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das BVwG ist der Antrag des BF, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, weder notwendig noch zulässig und daher zurückzuweisen.

Zu Spruchteil B):

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:

Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen die BF als unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürgerin (§ 2 Abs 4 Z 8 FPG) zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahme nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (so etwa bei einer Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren), kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG sogar unbefristet erlassen werden.

Bei Unionsbürgern, die nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Daueraufenthaltsrecht iSd § 53a NAG und Art 16 Freizügigkeitsrichtlinie (§ 2 Abs 4 Z 8 FPG) erworben haben, ist nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots der in Art 28 Abs 2 Freizügigkeitsrichtlinie und § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Maßstab - der im abgestuften System der Gefährdungsprognosen zwischen jenen nach dem ersten und dem fünften Satz des § 67 Abs 1 FPG angesiedelt ist - heranzuziehen. Gegen Personen, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, darf daher nur bei einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot erlassen werden (siehe z.B. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0205).

Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des oder der Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0234).

Die BF hielt sich vor dem Freiheitsentzug noch nicht zehn Jahre lang durchgehend in Österreich auf. Da der Zeitraum der Verbüßung der mehrjährigen Freiheitsstrafe grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen (vgl. EuGH 16.01.2014, Rs C-400/12), ist nicht der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG heranzuziehen (siehe dazu VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0097). Da die BF durch ihren mehr als fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt vor dem Freiheitsentzug bereits das Recht auf Daueraufenthalt erworben hatte, ist der in § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab ("schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit") anzuwenden.

Aufgrund des persönlichen Verhaltens der BF liegt hier eine derartige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit vor, weil sie gemeinsam mit einer Mittäterin einen sorgfältig geplanten, arbeitsteilig organisierten bewaffneten Raubüberfall beging, der zu einer krankheitswertigen Traumatisierung des Opfers führte. Dabei spricht auch gegen die BF, dass das Strafgericht trotz der Milderungsgründe der bisherigen Unbescholtenheit und des Geständnisses eine mehrjährige unbedingte Freiheitsstrafe aussprach (siehe VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0305).

Trotz der bereits begonnenen Auseinandersetzung mit ihrer Tat wird die BF den Wegfall der durch die strafgerichtliche Verurteilung indizierten Gefährlichkeit erst durch einen längeren Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit nach der Haftentlassung unter Beweis stellen müssen. Für sie kann noch keine positive Zukunftsprognose erstellt werden, obwohl sie zum ersten Mal straffällig wurde, weil der Gesinnungswandel eines Straftäters oder einer Straftäterin grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er oder sie sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (siehe VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0118). Das gegen die BF erlassene Aufenthaltsverbot ist zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhinderung von strafbaren Handlungen und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dringend geboten, zumal seit der Tat noch nicht viel Zeit vergangen ist, die sie zur Gänze in Haft zugebracht hat.

Das Aufenthaltsverbot greift in das Privat- und Familienleben der BF ein. Daher ist eine einzelfallbezogene gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit ihren gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei sind ihr rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet als Unionsbürgerin seit November 2009, die Beziehung zu ihren ebenfalls seit vielen Jahren im Bundesgebiet aufhältigen Eltern und Geschwistern, mit denen vor der Inhaftierung ein gemeinsamer Haushalt bestand, und die Kontakte zu in Österreich lebenden Bekannten und Freunden zu berücksichtigen, wobei letztere derzeit haftbedingt auf gelegentliche Besuche beschränkt sind. Für die BF sprechen auch die zum Großteil in Österreich absolvierte Schul- und Berufsausbildung sowie die Integration am Arbeitsmarkt, die sich nicht zuletzt an der vorgelegten Einstellungszusage zeigt. Da jeder arbeitsfähige Strafgefangene gemäß § 44 StVG zur Arbeitsleistung verpflichtet ist, wirkt es sich dagegen nicht signifikant zu ihren Gunsten aus, wenn sie während der Haft arbeitet. Da Deutsch ihre (einzige) Muttersprache ist, kann der Umstand, dass sie diese Sprache beherrscht, nicht als Indiz für eine besondere Integration in Österreich angesehen werden.

Dem aus diesem Umständen resultierenden erheblichen familiären und privaten Interesse der BF an einem Verbleib in Österreich stehen jedoch das Fehlen der strafgerichtlichen Unbescholtenheit und das große öffentliche Interesse an der Verhinderung strafbarer Handlungen, insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen, gegenüber. Die erwachsene, gesunde und arbeitsfähige BF hat in Deutschland zwar keine Bezugspersonen; eine völlige Entfremdung von ihrem Herkunftsstaat ist aber angesichts des Umstands, dass sie dort prägende Jahre ihrer Kindheit verbrachte und mehrere Jahre lang die Schule besuchte, nicht nachvollziehbar, zumal keine Sprachbarriere besteht. Da sie ursprünglich aus einer Stadt an der deutsch-österreichischen Grenze stammt und XXXX, der Wohnort ihrer Eltern und Geschwister, in geringer Entfernung zum deutschen Staatsgebiet liegt, ist nicht davon auszugehen, dass die BF gar keine Bindungen iSd § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG mehr zu ihren Heimatstaat hat, sodass es ihr trotz der langen Abwesenheit ohne größere Probleme gelingen wird, dort wieder Fuß zu fassen, zumal häufige Besuche von ihren Österreich lebenden Bezugspersonen kostengünstig möglich sind. Außerdem können die privaten und familiären Kontakte der BF in Österreich auch durch diverse Kommunikationsmittel (Telefon, Internet etc.) gepflegt werden. Der mit der Erlassung des Aufenthaltsverbots verbundene Eingriff in ihr Familien- und Privatleben ist daher grundsätzlich verhältnismäßig.

Das vom BFA mit der maximalen Gültigkeitsdauer von zehn Jahren festgesetzte Aufenthaltsverbot ist jedoch unverhältnismäßig lange, zumal das Strafgericht den Strafrahmen bei weitem nicht ausgeschöpft hat, dem nunmehrigen Erstvollzug eine erhöhte spezialpräventive Wirkung zu attestieren ist und die BF sich einsichtig und reumütig zeigt. Die Dauer des Aufenthaltsverbots ist daher auf drei Jahre zu reduzieren. Ein auf diese Zeitspanne befristetes Aufenthaltsverbot ist notwendig, aber auch ausreichend, um der von ihr ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit wirksam zu begegnen. Durch die Reduktion der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbots wird auch den starken privaten und familiären Bindungen der BF im Inland ausreichend Rechnung getragen, zumal bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbots nach § 67 Abs 4 FPG insbesondere auf die privaten und familiären Verhältnisse Bedacht zu nehmen ist (siehe VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0075). Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist insoweit - in Stattgebung des entsprechenden Eventualantrags in der Beschwerde - abzuändern.

Zu den Spruchpunkten II. und III. des angefochtenen Bescheids:

Gemäß § 70 Abs 3 FPG ist EWR-Bürgern bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich. Gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG kann die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen ein Aufenthaltsverbot aberkannt werden, wenn die sofortige Ausreise der Betroffenen oder die sofortige Durchsetzbarkeit im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist.

Zur Begründung einer Notwendigkeit der sofortigen Ausreise genügt es nicht, dafür auf eine - die Aufenthaltsbeendigung als solche rechtfertigende - Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verweisen, sondern es ist darüber hinaus darzutun, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - zu erfolgen hat; dazu ist es nicht ausreichend, jene Überlegungen ins Treffen zu führen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme selbst maßgeblich waren. Die Notwendigkeit der sofortigen Ausreise als gesetzliche Voraussetzung für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung betreffend die Beschwerde gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erfordert also das Vorliegen besonderer Umstände, die mit den Voraussetzungen für die Aufenthaltsbeendigung als solche nicht gleichzusetzen sind (siehe VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0053).

Solche besonderen Umstände sind hier angesichts der sozialen Verankerung der BF im Bundesgebiet nicht erkennbar, zumal das BFA die Nichterteilung eines Durchsetzungsaufschubs und die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nicht einzelfallbezogen begründete, sondern sich mit allgemein gehaltenen Textbausteinen begnügte. Der BF ist daher in Abänderung von Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen; Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung hat ersatzlos zu entfallen.

Da der relevante Sachverhalt aus der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt erscheint und auch bei einem positiven Eindruck von der BF bei einer mündlichen Verhandlung keine weitere Herabsetzung oder gar ein Entfall des Aufenthaltsverbots möglich wäre, unterbleibt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG. Von deren Durchführung ist keine weitere Klärung der Angelegenheit zu erwarten, zumal das BVwG ohnedies von den Behauptungen der BF zu ihren familiären, privaten und beruflichen Anknüpfungen im Inland ausgeht, sodass kein klärungsbedürftiges Tatsachenvorbringen erstattet wurde.

Zu Spruchteil C):

Die Revision ist zuzulassen, weil (soweit überblickbar) keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage vorliegt, welcher Gefährdungsmaßstab bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen eine Person heranzuziehen ist, die sich zwar zur Zeit der Erlassung des Aufenthaltsverbots schon mehr als zehn Jahre lang in Österreich aufhielt, davon aber mehrere Monate lang in Untersuchungs- bzw. Strafhaft, und sich vor dem Freiheitsentzug erst weniger als zehn Jahre lang kontinuierlich in Österreich aufgehalten hatte. Die Entscheidung VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0097, betraf eine Person, die sich bereits vor dem Freiheitsentzug mehr als zehn Jahre lang durchgehend in Österreich aufgehalten hat.

Schlagworte

Aufenthaltsverbot aufschiebende Wirkung - Entfall Durchsetzungsaufschub Herabsetzung Interessenabwägung Milderungsgründe öffentliche Interessen Revision zulässig unverhältnismäßiger Nachteil

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2226867.1.00

Im RIS seit

28.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.07.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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