Entscheidungsdatum
29.01.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5Spruch
W116 2149639-2/2E
W116 2149634-2/2E
W116 2149637-2/2E
W116 2149636-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Mario DRAGONI als Einzelrichter über die Beschwerden 1.) der XXXX , geb. XXXX , 2.) der mj. XXXX , geb. XXXX , 3.) des mj. XXXX , geb. XXXX , und 4.) der mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Syrien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.07.2018, Zlen. 1.) 1084323807-180479718, 2.) 1084343407-180480435, 3.) 1084327305-180480473 und 4.) 1113738600-180480490, zu Recht erkannt:
A)
Den Beschwerden wird gemäß § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihren drei minderjährigen Kindern, ihrem ältesten Sohn XXXX sowie der Zweitbeschwerdeführerin und dem Drittbeschwerdeführer illegal nach Österreich ein, wo sie am 25.08.2015 für sich und ihre Kinder Anträge auf internationalen Schutz stellte.
1.2. Am XXXX kam XXXX , die Viertbeschwerdeführerin im Bundesgebiet zur Welt. Für sie wurde am 20.04.2016 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
1.3. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2017, durch Hinterlegung zugestellt am 22.02.2017, wurden die Anträge der BeschwerdeführerInnen auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführerinnen der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.02.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).
1.4.1. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 28.05.2018, Zl. 2P101/18p, wurde der Rechtsanwalt Dr. Farhad Paya zum Abwesenheitskurator für die Erstbeschwerdeführerin bestellt.
1.4.2. Am 23.05.2018 wurde den BeschwerdeführerInnen eine Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens an ihren rechtlichen Vertreter bzw. Abwesenheitskurator übermittelt.
1.4.3. Mit Schriftsatz vom 04.06.2018 wurde seitens des rechtsfreundlichen Vertreters der Beschwerdeführerinnen eine Stellungnahme dazu eingebracht.
2. Die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl:
2.1. Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.07.2018, dem rechtsfreundlichen Vertreter zugestellt am 13.07.2018, wurde der den BeschwerdeführerInnen mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2017 zuerkannte Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihnen die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführerinnen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Syrien gemäß § 9 Abs. 2 AsylG iVm § 52 Abs. 9 FPG unzulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für ihre freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in Syrien und begründete die Aberkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen mit der freiwilligen Rückkehr der Beschwerdeführerinnen in ihren Herkunftsstaat. Laut Aktenlage und den Angaben des Sohnes der Erstbeschwerdeführerin ( XXXX ) würden die BeschwerdeführerInnen seit 15.04.2017 wieder in Daraa (Syrien) wohnen und über keinen aufrechten Wohnsitz im Bundesgebiet mehr verfügen (vgl. ZMR-Abfrage vom 21.02.2018). Da sie sich somit freiwillig wieder unter den Schutz ihres Herkunftsstaates gestellt hätten, würde die Behörde davon ausgehen, dass eine Bedrohung durch die syrischen Behörden nicht mehr bzw. nie gegeben gewesen sei.
2.2. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 12.07.2018 wurde den Beschwerdeführerinnen gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
2.3. Gegen die oben genannten Bescheide wurde fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde erhoben, welche am 20.07.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte. In dieser wird zusammenfassend im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde Spruchpunkt I auf § 9 Abs. 2 AsylG 2005 und damit eine von den Beschwerdeführerinnen ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich bzw. ein von der Erstbeschwerdeführerin begangenes Verbrechen, derentwegen sie von einem Strafgericht rechtskräftig verurteilt worden sei, und damit auf eine falsche Rechtsgrundlage gestützt habe. Ursächlich für die Aberkennung des subsidiären Schutzstatus sei jedoch nach den Feststellungen der Behörde die Ausreise aus Österreich und der derzeitige Aufenthalt der Beschwerdeführerinnen in ihrem Herkunftsstaat. In der rechtlichen Beurteilung würde die Behörde auf die in § 9 Abs. 1 Z 1 und Z 2 AsylG 2005 normierten Tatbestände verweisen, also darauf, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten an die Beschwerdeführerinnen nicht mehr vorliegen würden bzw. dass sie nunmehr den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in einem anderen Staat hätten, nicht jedoch auf eine von den Beschwerdeführerinnen ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich oder von der Erstbeschwerdeführerin begangene Verbrechen, derentwegen sie rechtskräftig von einem Strafgericht verurteilt worden sei. Durch die in Spruchpunkt V getroffene Feststellung, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerinnen nach Syrien unzulässig sei, sei ersichtlich, dass die Behörde selbst nicht von einer derart grundlegenden Lageveränderung im Herkunftsstaat ausgehen würde. Den Länderberichten und den Aussagen ihres im Bundesgebiet verbliebenen Sohnes bzw. Bruders zufolge sei die Provinz Daraa keineswegs sicher und würden dort nach wie vor Kämpfe stattfinden. Im Unterschied zum Status des Asylberechtigten sei eine Aberkennung des subsidiären Schutzstatus solange nicht möglich, als dem Fremden eine Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK droht. Dies würde dem Absolutheitsgebot der beiden Grundrechte entsprechen. Eine in § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten vorgesehene analoge Anwendung der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungsgründe, unter ihnen die freiwillige Niederlassung in dem Staat, den die betroffenen Personen aus Furcht vor Verfolgung verlassen haben, sei in Bezug auf die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten weder in den Kapiteln V und VI der EU-Statusrichtlinie noch in den zur Umsetzung dieser unionsrechtlichen Vorschriften enthaltenen § 9 AsylG 2005 vorgesehen. Der Tatbestand des § 9 Abs. 1 Z 2 AsylG würde im Übrigen auch deshalb nicht vorliegen, da dieser darauf abzielen würde, dass die betroffene Person den durch Österreich eingeräumten Status als subsidiär Schutzberechtigter nicht mehr benötigt, weil ein entsprechender Schutz durch einen anderen Staat, also durch einen Drittstaat, welcher nicht mit dem Herkunftsstaat ident sei, geboten würde. Weiters hätte die Behörde in ihrer Interessenabwägung angemessen berücksichtigen müssen, dass sich die Beschwerdeführerinnen während ihres fast zweijährigen - durch die Zuerkennung von subsidiärem Schutz, rechtmäßigen - Aufenthalts im Bundesgebiet nie etwas zu Schulden haben kommen lassen und sich immer gesetzestreu verhalten haben, also unbescholten seien. Sie hätten während ihres rechtmäßigen Aufenthalts auch bereits ein schützenswertes Privatleben entwickelt. Die Erlassung der Rückkehrentscheidungen würden aber in Hinblick auf ihren weiterhin im Bundesgebiet lebenden Sohn bzw. Bruder auch einen Eingriff in ihr Familienleben darstellen.
3. Die Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht:
Die gegenständlichen Beschwerden wurden mit den Verwaltungsakten vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 25.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
II Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässigen Beschwerden erwogen:
1. Entscheidungswesentlicher Sachverhalt:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens der Behördenakt, insbesondere die Einvernahmen der Erstbeschwerdeführerin durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, die Bescheide, die (gemeinsame) Beschwerde gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes, die im Verfahren vorgelegten Dokumente, die Einsichtnahmen in die bezughabenden Verwaltungsakten sowie in das Zentrale Melderegister, Fremdeninformationssystem, Strafregister und Grundversorgungs-Informationssystem der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerinnen und zum Verfahrensgang:
Die Erst- bis ViertbeschwerdeführerInnen sind Staatsangehörige Syriens und gehören der arabischen Volksgruppe sowie dem sunnitischen Glauben an. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Ihre Identität steht fest. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- bis Viertbeschwerdeführerinnen.
Die BeschwerdeführerInnen haben am 25.08.2015 (bzw. am 20.04.2016, Viertbeschwerdeführerin) in Österreich jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Diesem Antrag wurde mit rechtskräftigen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2017 bezüglich des Status von subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben und ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.02.2018 erteilt. Die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten wurde insbesondere mit der gegenwärtigen Sicherheitslage in Syrien begründet.
Die Beschwerdeführerinnen haben Österreich im April 2017 wieder verlassen und sind (vgl. Beschwerde vom 19.07.2018) in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie waren bis 18.04.2017 im Fremdenquartier XXXX gemeldet und wurden mit gleichem Datum von der Grundversorgung abgemeldet. Am 31.05.2017 wurden sie auch vom Melderegister abgemeldet. Am 23.05.2018 wurde die Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens an ihren rechtlichen Vertreter übermittelt. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 28.05.2018 wurde der Rechtsanwalt Dr. Farhad Paya zum Abwesenheitskurator für die Erstbeschwerdeführerin bestellt.
Die Beschwerdeführerinnen verfügen im Bundesgebiet nach wie vor über einen Sohn bzw. Bruder, dem mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.10.2019, Zl. W116 2149632-1/6E, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde.
Die Erst- bis Viertbeschwerdeführerinnen lebten in Österreich als subsidiär Schutzberechtigte. Sie waren in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.1. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
Politische Lage
Die syrische Verfassung sieht die Baath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat (USDOS 13.3.2019). Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten zur Regierung Assads entwickeln könnten (FH 1.2018).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Baath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 10.8.2016).
Es gibt weiterhin Landesteile, in denen die syrische Regierung effektiv keine Kontrolle ausübt. Diese werden entweder durch Teile der Opposition, kurdische Einheiten, ausländische Staaten oder auch durch terroristische Gruppierungen kontrolliert (AA 13.11.2018; vgl. MPG 2018).
Am 13.4.2016 fanden in Syrien Parlamentswahlen statt. Das Parlament wird im Vier-Jahres-Rhythmus gewählt, und so waren dies bereits die zweiten Parlamentswahlen, welche in Kriegszeiten stattfanden (Reuters 13.4.2016; vgl. France24 17.4.2017). Die in Syrien regierende Baath-Partei gewann gemeinsam mit ihren Verbündeten unter dem Namen der Koalition der "Nationalen Einheit" 200 der 250 Parlamentssitze. Die syrische Opposition bezeichnete auch diese Wahl, welche erneut nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten stattfand, als "Farce". Die Vereinten Nationen gaben an, die Wahl nicht anzuerkennen (France24 17.4.2016).
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position. Seit der Machtergreifung Assads haben weder Vater noch Sohn politische Opposition geduldet. Jegliche Versuche eine politische Alternative zu schaffen wurden sofort unterbunden, auch mit Gewalt (USCIRF 26.4.2017). 2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Assad führten (USDOS 13.3.2019), wodurch dieser für weitere 7 Jahre im Amt bestätigt wurde (WKO 11.2018). Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten. Sie wurde von der EU und den USA als undemokratisch kritisiert, die syrische Opposition sprach von einer "Farce" (Haaretz 4.6.2014).
Mitte September 2018 wurden in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zum ersten Mal seit 2011 wieder Kommunalwahlen abgehalten (IFK 10.2018; vgl. WKO 11.2018). Der Sieg von Assads Baath Partei galt als wenig überraschend. Geflohene und IDPs waren von der Wahl ausgeschlossen (WKO 11.2018).
Mit russischer und iranischer Unterstützung hat die syrische Regierung mittlerweile wieder große Landesteile von bewaffneten oppositionellen Gruppierungen zurückerobert. Trotz der großen Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, weiter fort (AA 13.11.2018).
Die Provinz Idlib im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei wird derzeit noch von diversen Rebellengruppierungen kontrolliert (MPG 2018). Im Norden bzw. Nordosten Syriens gibt es Gebiete, welche unter kurdischer Kontrolle stehen (SWP 7.2018). Die Partei der Demokratischen Union (PYD) ist die politisch und militärisch stärkste Kraft der syrischen Kurden. Sie gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (KAS 4.12.2018b). 2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der PKK, deren Mitglieder die PYD gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Baath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und die Jazira von PYD und YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (BFA 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 4.12.2018b). Afrin im Nordwesten Syriens ist territorial nicht mit den beiden anderen Kantonen Jazira und Kobane verbunden und steht seit März 2018 unter türkischer Besatzung (KAS 4.12.2018b; vgl. MPG 2018).
Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das nicht von islamistischen, sondern von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär. Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen Staates in Syrien, sondern die Autonomie der kurdischen Kantone als Bestandteil eines neuen, demokratischen und dezentralen Syrien (KAS 4.12.2018a). Die PYD hat sich in den kurdisch kontrollierten Gebieten als die mächtigste politische Partei im sogenannten Kurdischen Nationalrat etabliert, ähnlich der hegemonialen Rolle der Baath-Partei in der Nationalen Front (BS 2018). Ihr militärischer Arm, die YPG sind zudem die dominierende Kraft innerhalb des von den USA unterstützten Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Flüchtlingswelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Diese schwierige Situation führt auch dazu, dass die Kurden wieder vermehrt das Gespräch mit der syrischen Zentralregierung suchen (KAS 4.12.2018b).
Die syrische Regierung erkennt die kurdische Enklave oder Wahlen, die in diesem Gebiet durchgeführt werden, nicht an (USDOS 13.3.2019). Die zwischen der Kurdischen Selbstverwaltung (dominiert von der PYD) und Vertretern der syrischen Regierung im Sommer 2018 und Anfang 2019 geführten Gespräche brachten auf Grund unvereinbarer Positionen betreffend die Einräumung einer (verfassungsgemäß festzuschreibenden) Autonomie, insbesondere für die kurdisch kontrollierten Gebiete sowie hinsichtlich der Eingliederung/Kontrolle der SDF, keine Ergebnisse (ÖB 7.2019).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-svrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 Country Report - Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.bti-roject.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI 2018 Syria.pdf, Zugriff 12.12.2018
- BFA - Eva Savelsberg: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017) in BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf. Zugriff 13.12.2018
- DSO - Der Spiegel Online (10.8.2016): Die Fakten zum Krieg in Syrien, https://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=1. Zugriff 9.4.2019
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Syria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2018/syria. Zugriff 10.12.2018
- France24 (17.4.2016): Assad's Party wins majority in Syrian election, https://www.france24.com/en/20160417-syria-bashar-assad-baath-party-wins-majority-parliamentan/-vote, Zugriff 10.12.2018
- Haaretz (4.6.2014): Landslide Win for Assad in Syria's Presidential Elections, http://www.haaretz.eom/middle-east-news/1.597052, Zugriff 10.12.2018
- IFK - Institut für Friedenssieherung und Konfliktmanagement (10.2018): Faetsheet Syrien No.70, 14. August 2018-2.10.2018, http://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/fact_sheet_syr_70_deu.pdf. Zugriff 1.3.2019
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung [Nils Wörmer] (4.12.2018a): Assads afghanische Söldner, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/assads-afghanische-soldner, Zugriff 15.1.2019
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung [Gülistan Gürbey] (4.12.2018b): Zwischen den Fronten - Die Kurden in Syrien, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1, Zugriff 15.1.2019
- MPG - Max-Planck-Gesellschaft (2018): Familienrecht im Nahen Osten - Zum gegenwärtigen Stand der Rechtsordnung und des Familienrechts in Syrien [Stand Herbst 2018], https://www.familienrecht-in-nahost.de/11318/Syrien-Rechtslage. Zugriff 17.1.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI ÖB+Bericht 2019 07.pdf, Zugriff 19.8.2019
- Reuters (13.4.2016): Assad holds parliamentary election as Syrian peace talks resume,
http://https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-idUSKCN0XA2C5. Zugriff 10.12.2018
- SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 31.1.2019
- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2018): Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des "Islamischen Staates", https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S11_srt.pdf. Zugriff 9.1.2018
- USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom (26.4.2017): United States Commission on International Religious Freedom 2017 Annual Report; 2017 Country Reports: USCIRF Recommended Countries of Particular Concern (CPC): Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/1399549/5250_1494489917_syria-2017.pdf, Zugriff 10.12.2018
- USDOS - United States Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Syria, https://www.ecoi.net/local_link/337226/479990_de.html. Zugriff 12.12.2018
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2004226.html. Zugriff 19.3.2019
- WKO - Wirtschaftskammer Österreich - Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/syrien-wirtschaftsbericht.pdf. Zugriff 1.3.2019
Sicherheitslage
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention des Iran in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018a). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016).
Am Beginn des Jahres 2019 sind noch drei größere Gebiete außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung: die Provinz Idlib und angrenzende Gebiete im Westen der Provinz Aleppo und Norden der Provinz Hama; die Gebiete im Norden und Osten Syriens, die unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) stehen; außerdem die Konfliktschutzzone (de- confliction zone) bei Tanf in Homs bzw. in der Nähe des Rukban Flüchtlingslagers (UNHRC 31.1.2019).
Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer sind Teile Syriens noch immer von Kampfhandlungen betroffen, allen voran die Provinzen Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez-Zours (AA 13.11.2018).
Laut UNMAS (United Nations Mine Action Service) sind 43% der besiedelten Gebiete Syriens mit Mienen und Fundmunition kontaminiert (AA 13.11.2018). Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit derartigen Hinterlassenschaften des bewaffneten Konfliktes zum Beispiel im Osten der Stadt Aleppo, Ost-Ghouta und im Osten Hamas (DIS/DRC 2.2019).
Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghus die letzte Bastion des IS von den oppositionellen "Syrian Democratic Forces" erobert. Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZO 24.3.2019). Schläferzellen des IS sind sowohl im Irak als auch in Syrien weiterhin aktiv (FAZ 10.3.2019). Gegenwärtig sollen im Untergrund mehr als 20.000 IS-Kämpfer auf eine Gelegenheit zur Rückkehr warten (FAZ 22.3.2019). Auch IS-Führer Abu Bakr al-Bagdadi bleibt weiterhin verschwunden (FAZ 23.3.2019).
US-Präsident Donald Trump kündigte im Dezember 2018 an, alle 2.000 US-Soldaten aus Syrien abziehen zu wollen. Er erklärte jedoch später noch Soldaten vor Ort belassen zu wollen. Für die von den Amerikanern unterstützen Kurden ist ein Abzug der amerikanischen Truppen ein herber Schlag (Qantara 28.2.2019).
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen, für die einzelnen Monate des Jahres 2018 finden sich deren Daten in der unten befindlichen Grafik. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von Massakern, bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind (SNHR 1.1.2019)
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11 -2018. pdf. Zugriff 10.12.2018
- DIS/DRC - Danish Immigration Service / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nvidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Svrien_FFM_rapport_2019_Final_3101 2019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC. Zugriff 27.2.2019
- DZO - Die Zeit Online (24.3.2019): Kurden warnen vor Wiederaufstieg des IS, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/syrien-islamischer-staat-terrormiliz-kalifat-wiederaufstieg, Zugriff 25.3.2019
- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.3.2019): Die letzte Schlacht gegen den "Islamischen Staat" hat begonnen, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kurden-beginnen-angriff-auf- letzte-is-bastion-in-syrien-16082097.html. Zugriff 12.3.2019
- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.3.2019): Sieg über Terrormiliz : Warum der IS weiter gefährlich bleibt, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-der-is-weiter-gefaehrlich- bleibt-16103411.html. Zugriff 25.3.2019
- FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.3.2019): IS-Führer Al-Bagdadi bleibt verschwunden, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/irak-islamischer-staat-abu-bakr-al-bagdadi. Zugriff 25.3.2019
- ISW - Institute for the Study of War (25.7.2019): Syria Situation Report: July 10 - 23, 2019, http://www.understandingwar.org/backgrounder/syria-situation-report-0. Zugriff 4.9.2019
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung [Nils Wörmer] (4.12.2018a): Assads afghanische Söldner, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/assads-afghanische-soldner, Zugriff 15.1.2019
- Liveuamap - Live Universal Awareness Map (4.9.2019): Map of Syrian Civil War, https://syria.liveuamap.com/en/time/04.09.2019, Zugriff 4.9.2019
- Qantara (28.2.2019): Das Ende des "Islamischen Staates" - Neues Kapitel im Syrien-Konflikt, https://de.qantara.de/inhalt/das-ende-des-islamischen-staats-neues-kapitel-im-syrien-konflikt, Zugriff 12.3.2019
- Reuters (13.4.2016): Assad holds parliamentary election as Syrian peace talks resume, http://https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-idUSKCN0XA2C5. Zugriff 10.12.2018
- SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.1.2019): Documenting the Death of 6,964 Civilians in Syria in 2018, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Documenting the Death of 6964 Civilia ns_in_Syria_in_2018_en.pdf. Zugriff 13.3.2019
- SNHR - Syrian Network for Human Rights (1.9.2019): 267 Civilians, Including One Media Worker and Five Medical and Civil Defense Personnel, Documented Killed in Syria in August 2019, http://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/267_civilians_were_killed_in_Syria_in_August_2019_en.pdf, Zugriff 4.9.2019
- UNHRC - United Nations Human Rights Council (31.1.2019): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/40/70], https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/CoISyria/A_HRC_40_70.pdf. Zugriff 11.3.2019
Versöhnungsabkommen
Die sogenannten Versöhnungsabkommen sind Vereinbarungen, die ein Gebiet, das zuvor unter der Kontrolle einer oppositionellen Gruppierung stand, offiziell wieder unter die Kontrolle des Regimes bringen (BFA 8.2017). Der Abschluss der sogenannten "Reconciliation Agreements" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat (ÖB 7.2019). Die Regierung bietet, meist nach schwerem Beschuss oder Belagerung, ein Versöhnungsabkommen an, das an verschiedene Bedingungen geknüpft ist. Diese Bedingungen unterscheiden sich von Abkommen zu Abkommen (BFA 8.2017). Zivilisten bzw. Kämpfer können in den Gebieten bleiben oder jene, die sich nicht den Bedingungen der Vereinbarung unterwerfen wollen, können mit ihren Familien nach Idlib oder in andere von der Opposition kontrollierte Gebiete evakuiert werden (FIS 14.12.2018). Die übrigen Personen können 6 Monate lang eine Amnestie nutzen und können sich in dieser Zeit stellen, um den Militärdienst abzuleisten (AA 13.11.2018, FIS 14.12.2018). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden, oder dass sich Personen verpflichten müssen, der Regierung z.B. für Spionage zur Verfügung zu stehen (BFA 8.2017).
Im Rahmen von Versöhnungsvereinbarungen gemachte Garantien der Regierung, gegenüber Individuen oder Gemeinschaften, werden jedoch nicht eingehalten (EIP 6.2019; vgl. AA 13.11.2018, FIS 14.12.2018). Glaubhafte Berichte von Organisationen aus zuletzt zurückeroberten Gebieten wie Dara'a im südlichen Syrien und Ost-Ghouta nahe Damaskus sprechen von Verhaftungen sowie Zwangsrekrutierungen ehemaliger Oppositionskämpfer binnen kurzer Zeit (AA 13.11.2018; vgl. ÖB 7.2019). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zurückhaltend über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 13.3.2019).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file upload/5618 1507116516 ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf. Zugriff 13.12.2018
- EIP - European Institute of Peace (6.2019): Refugee return in Syria: Dangers, security risks and information scarcity, https://www.fln.dk/-/media/FLN/Materiale/Baggrundsmateriale/2019/06/19/07/03/Svri1040.pdf. Zugriff 4.7.2019
- FIS - Finnish Immigration Service (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact- finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf. Zugriff 1.2.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI_ÖB+Bericht_2019_07.pdf. Zugriff 19.8.2019
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2004226.html. Zugriff 19.3.2019
Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien
Seit Mai 2018 hat sich die allgemeine Sicherheitslage in den von der Regierung kontrollierten Gebieten Syriens, darunter finden sich auch die wichtigsten Städte wie Lattakia, Homs, Hama, Tartous und Damaskus, deutlich verbessert. Im Allgemeinen kam es im Vergleich mit den Zahlen vor Juli 2018 zu einem signifikanten Rückgang der militärischen Auseinandersetzungen und der sicherheitsrelevanten Vorfälle in von der Regierung kontrollierten Gebieten. Die Situation bleibt in einigen Gegenden jedoch angespannt, wie im Osten der Provinz Lattakia, im Westen der Provinz Aleppo und im Norden der Provinz Hama. In Bezug auf die Art der sicherheitsrelevanten Vorfälle gibt es Berichte von Beschuss, bewaffneten Zusammenstößen, Entführungen sowie Explosionen von Kampfmittelresten (DIS/DRC 2.2019).
Die Küstenregion wurde im Großen und Ganzen vom militärischen Konflikt verschont. Der Norden sieht sich gleichwohl mit einem gelegentlichen "Spillover" von Idlib aus konfrontiert. So gibt es aktuell im ländlichen Lattakia Auseinandersetzungen zwischen syrischer Armee und Rebellen. In den größeren Städten und deren Einzugsgebieten wie Damaskus und Homs stellt sich die Sicherheitslage als relativ stabil dar, auch wenn es immer wieder zu gezielten Anschlägen zumeist auf regierungsnahe Personen kommt (ÖB 7.2019).
Die Regierung besitzt nicht die nötigen Kapazitäten, um alle von ihr gehaltenen Gebiete auch tatsächlich zu kontrollieren. Daher greift die Regierung auf unterschiedliche Milizen zurück, um manche Gegenden und Checkpoints in Aleppo, Lattakia, Tartous, Hama, Homs und Deir ez-Zour zu kontrollieren. Es gibt auch Berichte, wonach es in einigen Gebieten zu Zusammenstößen sowohl zwischen den unterschiedlichen Pro-Regierungs-Milizen als auch zwischen diesen und Regierungstruppen gekommen ist (DIS/DRC 2.2019).
In den ersten Monaten des Jahres 2018 erlebte Ost-Ghouta, nahe der Hauptstadt Damaskus, die heftigste Angriffswelle der Regierung seit Beginn des Bürgerkrieges (Presse 1.4.2018). Mitte April 2018 wurde die Militäroffensive der syrischen Armee auf die Rebellenenklave von Seiten der russischen Behörden und der syrischen Streitkräfte für beendet erklärt (DS 15.4.2018; vgl. SD 12.4.2018). Ende Mai 2018 zogen sich die letzten Rebellen aus dem Großraum Damaskus zurück, wodurch die Hauptstadt und ihre Umgebung erstmals wieder in ihrer Gesamtheit unter der Kontrolle der Regierung standen (DSO 21.5.2018; vgl. ISW 1.6.2018). Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Damaskus und Damaskus-Umland (Rif Dimashq) deutlich verbessert (DIS/DRC 2.2019). Im Januar kam es zu zwei Bombenanschlägen in Damaskus Stadt. Einem in der Nähe eines Büros des Militärischen Nachrichtendienstes im Süden mit mehreren Todesopfern, und einem mittels einer Autobombe in der Nähe der russischen Botschaft mit Verletzten (DIS/DRC 2.2019; vgl. TN 20.1.2019). Einer internationalen humanitären Organisation zufolge ist es weniger wahrscheinlich, dass Angriffe dieser Art in Damaskus (im Gegensatz zu anderen großen Städten) passieren, weil die Hauptstadt durch Sicherheitskräfte schwer bewacht ist (DIS/DRC 2.2019).
Seit 2012 führte Israel dutzende Luftschläge auf syrischem Staatsgebiet durch, hauptsächlich auf Orte oder Konvois in der Nähe der libanesischen Grenze, die mit Waffenlieferungen an die Hizbollah in Verbindung stehen (CRS 2.1.2019), bzw. generell auf iranische Ziele und Ziele mit dem Iran verbündeter Milizen (AJ 5.2.2019). Es soll etwa ein bis zweimal im Monat zu Angriffen der israelischen Luftwaffe auf Ziele in der Provinz Damaskus kommen (Jane's 14.1.2019). Bis Ende Januar 2019 äußerte sich die israelische Armee nicht oder nur selten und erst nach einiger Zeit über Spekulationen zu Luftangriffen auf syrischem Staatsgebiet, für die die israelische Armee verantwortlich sein soll. Ende Januar berichteten die israelischen Streitkräfte beinahe zeitgleich über einen Angriff auf iranische Ziele in Syrien (DS 21.1.2019). Laut dem pensionierten Generalstabsschef der israelischen Streitkräfte Gadi Eisenkot hätte Israel sogar tausende Luftangriffe durchgeführt. Seit 2017 soll es nahezu täglich zu israelischen Angriffen kommen. Im Jahr 2018 wurden demnach 2.000 Bomben abgeworfen (TNYT 11.1.2019). Syrischen Staatsmedien zufolge wurden Anfang Juli 2019, bei israelischen Luftangriffen nahe der Hauptstadt Damaskus und in der Provinz Homs, vier Zivilisten getötet und 21 Personen verletzt (DS 1.7.2019).
Quellen:
-AJ - Al Jazeera (5.2.2019): Iran warns Israel of ?firm' response to air raids in Syria, https://www.aljazeera.com/news/2019/02/iran-warns-israel-firm-response-air-strikes-syria-190205133522150.html, Zugriff 13.3.2019
-CRS - Congressional Research Service (2.1.2019): Armed Conflict in Syria: Overview and U.S. Response, https://fas.org/sgp/crs/mideast/RL33487.pdf, Zugriff 7.3.2019
-DIS/DRC - Danish Immigration Service / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_310 1 2019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 27.2.2019
-DP - Die Presse (1.4.2018): Ost-Ghouta: Rebellen und Russen einigen sich über Abzug der Zivilisten, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5398698/OstGhouta_Rebellen-und-Russen-einigen-sich-ueber-Abzug-der-Zivilisten, Zugriff 7.3.2019
-DS - Der Standard (15.4.2018): Syrische Armee verkündet Rückeroberung von Ost-Ghouta, https://derstandard.at/2000077954344/Syrische-Armee-verkuendet-vollstaendige-Rueckeroberung-von-Ost-Ghouta, Zugriff 7.3.2019
-DS - Der Standard (21.1.2019): Israels fliegende Warnung an den Iran, https://derstandard.at/2000096712048/Israel-gab-Luftangriffe-auf-iranische-Ziele-in-Syrien-bekannt, Zugriff 13.3.2019
-DS - Der Standard (1.7.2019): Syrische Zivilisten offenbar bei israelischen Luftangriffen getötet, https://www.derstandard.at/story/2000105707026/syrische-zivilisten-offenbar-bei-israelischen-luftangriffen-getoetet, Zugriff 4.7.2019
-DSO - Der Spiegel Online (21.5.2018): IS-Terroristen offenbar aus Großraum Damaskus abgezogen, http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-letzte-is-terroristen-offenbar-aus-grossraum-damaskus-abgezogen-a- 1208822.html , Zugriff 7.3.2019
-ISW - Institute for the Study of War (1.6.2018): Syria Situation Report: May 2-29, 2018, http://iswresearch.blogspot.com/2018/06/syria-situation-report-may-2-29-2018.html, Zugriff 7.3.2019
-Jane's 360 (14.1.2019): Despite security improvements, residual elevated risk of collateral damage at Damascus Airport, mainly from Israeli airstrikes, https://www.janes.com/article/85685/despite-security-improvements-residual-elevated-risk-of-collateral-damage-at-damascus-airport-mainly-from-israeli-airstrikes, Zugriff 13.3.2019
-ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI_ÖB+Bericht_2019_07.pdf, Zugriff 19.8.2019
-TN - The National (20.1.2019): Fatalities reported after 'huge explosion' in Damascus, https://www.thenational.ae/world/mena/fatalities-reported-after-huge-explosion-in-damascus-1.815495, Zugriff 5.4.2019
-TNYT - The New York Times (11.1.2019): The Man Who Humbled Qassim Suleimani, https://www.nytimes.com/2019/01/11/opinion/gadi-eisenkot-israel-iran-syria.html, Zugriff 13.3.2019
-SD - Syria Direct (12.4.2018): Russian authorities announce government in 'full control' of East Ghouta amidst continued evacuations, http://syriadirect.org/news/russian-authorities-announce-government-in-%e2%80%9cfull-control%e2%80%9d-of-east-ghouta-amidst-continued-evacuations/, Zugriff 7.3.2019
Korruption
Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2018. liegt Syrien mit einer Bewertung von 13 (von 100) Punkten (0=highly corrupt. 100=very clean) auf Platz 178 von 180 untersuchten Ländern (je höher desto schlechter) (TI o.D.).
Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet und beeinflusste das tägliche Leben der Syrer (FH 1.2017). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor. die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte Praktiken aus. ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem bei Polizei. Sicherheitskräften. Migrationsbehörden und in der Regierung (USDOS 13.3.2019).
Mitglieder und Verbündete der Herrscherfamilie sollen einen großen Teil der syrischen Wirtschaft kontrollieren oder besitzen. Auch sichert sich die Regierung durch die Bevorzugung bestimmter Firmen und Vergabe von vorteilhaften Verträgen etc. Loyalität. Sogar die grundlegendsten staatlichen Dienstleistungen sind von der demonstrierten Loyalität der Gemeinde zum Assad- Regime abhängig. womit sich Staatsangestellten zusätzliche Möglichkeiten bieten. Bestechungsgelder einzufordern. Der syrische Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der Regierung. unter regierungstreuen bewaffneten Gruppen und im Privatsektor geschaffen (FH 1.2018).
Regierungstreue Milizen verlangen beispielsweise für das Passieren ihrer Checkpoints Bestechungsgelder. Das Fünfte Korps verlangt laut Experten von lokalen Gemeinden Gelder für die Gewährleistung von Sicherheit (FIS 14.12.2018). Milizen erpressen Unternehmen und konfiszieren privates Eigentum in unterschiedlichem Ausmaß (FH 1.2018). Auch in der syrischen Armee gibt es eine Tradition der Bestechung Ranghöherer, etwa um eine bessere Position oder einfachere Aufgaben zu erhalten, einen Einsatz an der Frontlinie zu vermeiden oder überhaupt den Wehrdienst selbst zu umgehen (FIS 14.12.2018).
Quellen:
- FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Syria, https://www.ecoi.net/local_link/341821/485142_de.html, Zugriff 15.2.2019
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Syria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2018/syria. Zugriff 12.12.2018
- FIS - Finnish Immigration Service (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact- finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf. Zugriff 1.2.2019
- TI - Transparency International (o.D.): Corruption Perceptions Index 2018, https://www.transparency.org/cpi2018. Zugriff 15.2.2019
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2004226.html. Zugriff 19.3.2019
Allgemeine Menschenrechtslage
Schätzungen besagen, dass etwa eine halbe Million Menschen im syrischen Bürgerkrieg getötet wurden (BS 2018).
Die syrische Verfassung sieht die Baath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Ein Dekret von 2011 erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur regierungsnahen Gruppen offizielle Parteien zu gründen und zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit ihr verbündet sind. Parteien wie das Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet um Hunderte Mitglieder von Menschenrechts¬und Studentenorganisationen zu verhaften. Es gibt auch zahlreiche Berichte zu anderen Formen der Belästigung von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen oder Personen, die als oppositionell wahrgenommen werden, von Reiseverboten, Enteignung und Überwachung bis hin zu willkürlichen Festnahmen, "Verschwindenlassen" und Folter (USDOS 13.3.2019).
Es sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für als regierungsfeindlich angesehene Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert werden, darunter sollen auch Fälle sein, bei denen die gesuchten Personen ins Ausland geflüchtet sind (AA 13.11.2018). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen. Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in oppositionell kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).
Russland, der Iran und die Türkei haben im Zusammenhang mit den Astana-Verhandlungen wiederholt zugesagt, sich um die Missstände bezüglich willkürlicher Verhaftungen und Verschwindenlassen zu kümmern. Im Dezember 2017 gründeten sie eine Arbeitsgruppe zu Inhaftierungen und Entführungen im syrischen Konflikt, es waren bisher jedoch nur geringe Fortschritte zu verzeichnen (HRW 17.1.2019).
Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als Kriegstaktik; Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs-und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 13.3.2019).
Orte, die im Laufe der vergangenen Jahre wieder unter die Kontrolle der Regierung gelangt sind, erlebten organisierte und systematische Plünderungen durch die bewaffneten Einheiten der Regierung (SHRC 24.1.2019). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zurückhaltend über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 13.3.2019).
Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), sind für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen wie Massaker, Beschuss, Entführung, unrechtmäßige Inhaftierung, Folter, Tötung und Zwangsvertreibung auf Basis der Konfession Betroffener, verantwortlich. Der sogenannte Islamische Staat (IS) agiert(e) mit Brutalität gegenüber Bewohnern des von ihm kontrollierten Territoriums. Ihm werden u.a. vorgeworfen: außergerichtliche Hinrichtungen und Verhaftungen, Haft unter unmenschlichen Bedingungen, Folter, Verschwindenlassen und Anwendung von Körperstrafen. Frauen erleb(t)en in vom IS gehaltenen Gebieten willkürliche und schwere Bestrafungen, inklusive Hinrichtung durch Steinigung (USDOS 13.3.2019). Sexuelle Versklavung und Zwangsverheiratung sind zentrale Elemente der Ideologie des IS. Mädchen und Frauen wurden zur Heirat mit Kämpfern gezwungen. Frauen und Mädchen, die Minderheiten angehören, wurden sexuell versklavt, zwangsverheiratet und anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt (USDOS 20.6.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Im Bezug auf Kampfhandlungen wird dem IS der Einsatz von Kindersoldaten sowie von Zivilisten als menschliche Schutzschilde vorgeworfen. Außerhalb der (ehemals) kontrollierten Gebiete verübte der IS Entführungen und Anschläge (USDOS 13.3.2019).
Auch die oppositionellen bewaffneten Gruppen der Syrian Democratic Forces (SDF) werden für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht, darunter die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG). Es gibt Berichte über Verschwindenlassen von Gegnern der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren Familien, unrechtmäßige Verhaftungen, Folter von politischen Gegnern, sowie vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 13.3.2019; vgl. HRW 10.9.2018). Familienmitglieder von gesuchten Aktivisten, darunter auch Verwandte von Mitgliedern des IS, sollen von den SDF in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefangen genommen worden sein, um Informationen zu erhalten oder um Druck auszuüben. Weiters gibt es Berichte über vermehrte Verhaftungen von Männern für versuchte Wehrdienstverweigerung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in den befreiten Gebieten (USDOS 13.3.2019).
Berichten zufolge kam es 2017 auch zur Vertreibung von arabischen Bewohnern aus Gegenden, die durch kurdische Einheiten vom IS befreit worden waren (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 13.11.2018).
Die YPG gehört seit 2014 zu den vom VN-Generalsekretär gelisteten Konfliktparteien, die Kindersoldaten einsetzen und Kinderrechte verletzen (AA 13.11.2018). Nach Berichten zu Rekrutierungen von Kindern, auch unter Zwang, durch die SDF, verabschiedeten diese ein Verbot der Rekrutierung und Verwendung von Personen unter 18 Jahren zum Kampf. Verboten sind, unter Androhung von Strafen für die Befehlshaber, auch Hilfsdienste wie Ausspähen, Wach- und Versorgungsdienste. Die kurdischen Gruppen erklärten ihre volle Unterstützung der Anordnung. Im Dezember 2018 wurden 56 Unter-18-Jährige ihren Eltern übergeben (USDOS 13.3.2019).
Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt deutlich weniger gravierend dar, als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer bis jihadistischer Gruppen befinden (AA 13.11.2018).
Ein Charakteristikum des Bürgerkriegs in Syrien ist, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als "regierungsfreundlich" oder "regierungsfeindlich" gilt (UNHCR 11.2015).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598 1542722823 auswaertiges- amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 Country Report - Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/1427445/488327 en.pdf, Zugriff 20.2.2019
- HRW - Human Rights Watch (10.9.2018): Syria: Kurdish-led Administration Jails Rivals, https:// www.hrw.org/news/2018/09/10/syria-kurdish-led-administration-jails-rivals. Zugriff 9.1.2018
- HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Annual report on the human rights situation in 2018 - Syrian Arab Republic, https://www.ecoi.net/en/document/2002172.htm l, Zugriff 29.1.2019
- SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 31.1.2019
- UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (11.2015): International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic Update IV, http://www. refworld.org/pdfid/5641ef894.pdf, Zugriff 27.3.2019
- UNHRC - United Nations Human Rights Council (31.1.2019): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/40/70], https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/CoISyria/A_HRC_40_70.pdf. Zugriff 11.3.2019
- USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/1430098.html. Zugriff 12.12.2018
- USDOS - United States Department of State (20.6.2019): Trafficking in Persons Report 2019 - Syria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2010916.htm l , Zugriff 21.6.2019
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2004226.html. Zugriff 19.3.2019
Frauen
Frauen in Syrien haben eine relativ lange Historie der Emanzipation. Vor dem Konflikt war Syrien eines der vergleichsweise fortschrittlicheren Länder der Arabischen Welt in Bezug auf Frauenrechte (BFA 8.2017). Dennoch werden Frauen - teilweise aufgrund der Interpretationen der religiösen Gesetze - von verschiedenen Teilen des Familien- und Strafrechts und der Gesetze zu Personenstand, Arbeit, Erbschaft, Pensionierung, sozialer Sicherheit und Staatsbürgerschaft, diskriminiert (USDOS 13.3.2019).
Die Situation von Frauen verschlechterte sich durch den andauernden Konflikt dramatisch. Da Frauen immer wieder Opfer unterschiedlicher Gewalthandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden, zögern Familien, Frauen und Mädchen das Verlassen des Hauses zu erlauben. Sie nehmen diese aus der Schule, was zur Minderung der Rolle von Frauen und zu ihrer Isolation in der Gesellschaft führt (BFA 8.2017). Vor dem Konflikt nahmen 13% der Frauen am Arbeitsmarkt teil, verglichen mit 73% der Männer. Die Teilhabe sowohl von Männern als auch Frauen am Arbeitsmarkt hat durch Gewalt und Unsicherheit abgenommen. Zuletzt ist in einigen Gebieten, wie in Damaskus, Raqqa und Dara'a, die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt gezwungenermaßen wieder gestiegen, da viele Männer ihre Familien derzeit nicht unterstützen können (USDOS 13.3.2019).
Außerhalb der Gebiete, die unter der Kontrolle des Regimes stehen, unterscheiden sich die Bedingungen für Frauen sehr stark voneinander. Sie reichen von sexueller Versklavung und erdrückenden Kleidungsvorschriften in Gebieten unter Kontrolle von Extremisten einerseits, bis hin zu formaler Gleichberechtigung in den Gebieten unter Kontrolle der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), wo Regierungssitze immer von einer Frau und einem Mann besetzt sind (FH 1.2018). In jenen oppositionellen Gebieten, welche von radikal-islamistischen Gruppen kontrolliert werden, sind Frauen besonders eingeschränkt. Es ist schwer für sie, für einfache Erledigungen das Haus zu verlassen. Die Situation hängt jedoch von der Region ab (BFA 8.2017).
Extremistische Gruppierungen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) oder Hay'at Tahrir al- Sham (HTS) setzen Frauen in den von ihnen kontrollierten Gebieten diskriminierenden Beschränkungen aus. Solche Beschränkungen sind z.B. strikte Kleidervorschriften, Einschränkungen bei der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der Bewegungsfreiheit und beim Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt (USDOS 13.3.2019, MRG 5.2018). Generell wird die Lage junger unverheirateter Frauen in Syrien allgemein, im Speziellen jedoch in den von radikal- islamistischen Gruppierungen kontrollierten Gebieten, als prekär bezeichnet (BFA 8.2017).
Alleinstehende Frauen
Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konfliktes einem besonderen Risiko von Gewalt oder Schikane ausgesetzt, jedoch hängt dies von der sozialen Schicht und der Position der Frau bzw. ihrer Familie ab. Man kann die gesellschaftliche Akzeptanz von alleinstehenden Frauen aber in keinem Fall mit europäischen Standards vergleichen, und Frauen sind potentiell Belästigungen ausgesetzt. In Syrien ist es fast undenkbar als Frau alleine zu leben, da eine Frau ohne Familie keine gesellschaftlichen und sozialen Schutzmechanismen besitzt. Beispielsweise würde nach einer Scheidung eine Frau in den meisten Fällen wieder zurück zu ihrer Familie ziehen. Vor dem Konflikt war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich alleine zu leben, z.B. für berufstätige Frauen in urbanen Gebieten (BFA 8.2017).
Der Zugang von alleinstehenden Frauen zu Dokumenten hängt von deren Bildungsgrad, individueller Situation und bisherigen Erfahrungen ab. Beispielsweise werden ältere Frauen, die immer zu Hause waren, mangels vorhandener Begleitperson und behördlicher Erfahrung nur schwer Zugang zu Dokumenten bekommen können (BFA 8.2017). Die Wahrnehmung von alleinstehenden Frauen durch die Gesellschaft unterscheidet sich von Gebiet zu Gebiet. Damaskus-Stadt ist weniger konservativ als andere Gebiete und es wird von Frauen berichtet, die dort in der Vergangenheit alleine lebten. In konservativen Gegenden bekommen allein lebende Frauen jedoch "einen gewissen Ruf" (SD 30.7.2018).
Der Wegfall des Ernährers im Zuge des Konflikts stellt viele Frauen vor das Problem ihre Familien versorgen zu müssen. So stieg die Anzahl der Haushalte mit weiblichen Vorständen im Zuge des Konflikts (WB 6.2.2019)
Im Dezember 2017 hat das von Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) gestützte Syrian Salvation Government (SSG) in der Provinz Idlib eine Entscheidung verkündet, laut welcher alle Witwen in ihrem Kontrollgebiet mit einem Scharia-konformen männlichen Familienangehörigen wohnen müssen. Die Meldung warnt auch vor Bestrafung für "jeden, der sich nicht nach dieser Regelung richtet", es ist jedoch unklar wie die Entscheidung umgesetzt wurde (SD 14.12.2017).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- AJA - Al Jazeera America (3.12.2013): Syrian Kurds celebrate war-torn country's first civil marriage, http://america.aljazeera.com/articles/2013/12/3/syrian-kurds-celebratewartorncountrvsfirstcivilmarriage.html. Zugriff 17.1.2019